Außer Atem: Das Berlinale Blog

Die Pistole war nicht echt: Philip Grönings "Mein Bruder heißt Robert und ist ein Idiot"

Von Anja Seeliger
21.02.2018.


Drei Stunden Geschwisterliebe (und -hass), Pubertät, Sommer, eine heldenhafte Heuschrecke, Augustinus' Philosophie über die Zeit, Inzest, Vergewaltigung und ein Mord. Langweilig ist Philip Grönings "Mein Bruder heißt Robert und ist ein Idiot" trotz der Länge nicht. Obwohl in den ersten anderthalb Stunden nicht viel passiert. Wir beobachtet ein Zwillingspaar, Bruder und Schwester, die ein Wochenende auf dem Land verbringen. Eltern sind nicht in Sicht. Jeden Tag platzieren sich die beiden mitten in ein Weizenfeld, in Sichtweite der Tankstelle an der Straße, wo sie sich mit Bier und Essen eindecken und aufs Klo gehen.

Robert hilft seiner Schwester Elena, sich auf die Abiturprüfung in Philosophie vorzubereiten. Thema ist die Zeit. Robert liest vor, denkt nach und erklärt, Elena hört zu oder auch nicht. Beobachtet eine Heuschrecke im Weizenfeld, Ameisen auf den Füßen und gräbt Knollen aus der Erde. Will wissen, ob ihr Bruder mit seiner Freundin geschlafen hat oder nicht. (Er hat nicht, oder hat jedenfalls nicht so, wie er denkt, er hätte sollen.) Immer wieder kabbeln sich die beiden, wie zwei junge Hunde, die ihre Stärke am anderen erproben. Gröning zeigt den Sommer in schönen, flirrenden Bildern, mit großartigen Landschaftspanoramen und superscharfen Nahaufnahmen von Tier und Pflanzen, mit Unterwasserbildern und den Bewegungen der jungen Körper. Die philosophischen Erklärungen kann man mit der Zeit wie Hintergrundrauschen für sich an- und ausschalten.

Nach anderthalben Stunden hat sich das totgelaufen. Der Kinosaal hat sich beträchtlich geleert, auch ich denke übers Gehen nach. Da dreht sich der Film. Das leicht Flirrende in der Beziehung des Geschwisterpaars, die Eifersucht Elenas auf die Freundin und die Konkurrenz, wer als erstes seine Jungfräulichkeit verliert - Elena wettet, sie wird es sein, noch dieses Wochenende -, schwappt vom leicht Seltsamen ins Unbehagliche. Plötzlich sind wir in einem Haneke-Film und starren auf eine Eruption unerklärlicher Gewalt. Doch anders als bei Haneke sind die Zwillinge nicht gefühllos, sondern ihrem Opfer durchaus zugewandt. Und anders als bei Haneke wird die Gewalt hier gezeigt. Die Kamera klebt an der Decke und hat einen Logenblick auf das sprudelnde Blut.

Wie es dazu kam? Davon, wie man sich das erklärt, hängt wahrscheinlich ab, ob man sich in diesem Film langweilt. Meiner Ansicht nach hat es weder mit den philosophischen Ausführungen zu tun noch mit Sozialkritik. Was man sieht ist, was man nicht versteht. Der Moment, in dem die Dynamik dieses Geschwisterverhältnisses umkippt und sich verselbständigt. Vielleicht betrug der Zeitraum, in dem das geschehen konnte, nur wenige Stunden? Oder sogar Minuten? Als die Dinge aus dem Ruder laufen, kann sie jedenfalls keiner der beiden mehr aufhalten. Und zugeben schon gar nicht: "Die Pistole war nicht echt", sagt Elena, in einer Blutlache stehend.

Man kann das nicht verstehen, und würde der Film hier enden, wäre meine Kritik nur halb so lang und hätte "meisterlich" oder so im ersten Absatz. Aber Gröning findet keinen Schluss und kippt den Film. Mit einer Träne! Das Mädchen Elena, das alles vorangetrieben hat, die am weitesten gegangen ist, die einen Mann vergewaltigt und einen Mann getötet hat, weint, während ihr Bruder in einem Sportwagen die Kurve kratzt. Für mich verdichtet sich in diesem Moment, was ich die ganze Zeit gesehen habe: ein Mädchen, das sich nicht für die Zeit interessiert, sondern für die Frage, ob ihr Bruder mit seiner Freundin geschlafen hat.

Mein Bruder heißt Robert und ist ein Idiot. Regie: Philip Gröning. Mit Josef Mattes, Julia Zange, Urs Jucker u.a. Deutschland / Frankreich / Schweiz 2018, 174 Minuten. (Vorführtermine)