Außer Atem: Das Berlinale Blog

Emotional strapazierende Offenbarungen (Pressespiegel)

Von Thomas Groh
21.02.2018. Lav Diaz befasst sich wieder mit der Geschichte seiner philippinischen Heimat - diesmal in für seine Verhältnisse moderaten vier Stunden. Und Gus van Sant präsentiert einen Grantler, der im Rollstuhl zu neuem Lebensmut findet - der Berlinale-Dienstag im Rückblick.

Der Regisseur Lav Diaz (Bild: Bradley Liew/Berlinale)


Lav Diaz
, der philippinische Meister-Auteur, dessen künstlerisch zuerst hervorstechendes Merkmal die in der Regel ausufernde Laufzeit seiner meist schwarzweißen Filme darstellt, befasst sich im Wettbewerbsfilm "In Zeiten des Teufels" mit General Marcos' Kommunistenjagd in den 70ern - dies allerdings nicht durchweg im realistischen Register, sondern die Dialoge sind fast durchweg gesungen. Manch einer, auch der Regisseur, spricht da schon von Oper - auch wenn der Gesang a cappella erfolgt, wie Perlentaucher Thierry Chervel erklärt. Seiner Ansicht nach "spielt Lav Diaz mit den Mustern und den Erwartungen des Operngenres, die er zunächst geduldig aufbaut und dann in einem Finale von überwältigender Traurigkeit niederreißt." Denn dieses Finale ist das "20. Jahrhundert in seiner Grausam- und das 21. Jahrhundert in seiner Illusionslosigkeit. ... Es triumphiert der gnadenlos alberne Refrain der singenden Soldaten, und das Ende hinterlässt das Publikum ohne Trost."

In der taz ist Ekkehard Knörer, sonst einer der Diaz-Fürsprecher, nicht völlig überzeugt von der ästhetischen Strategie des Filmemachers: Der Gesang führe "nicht selten" dazu, "dass die Statik der Tableau vivants noch einmal verstärkt wird. Die Narration und die Atmosphäre, die sich in anderen Filmen von Diaz still zu großer Wucht akkumulieren, werden so immer wieder geradezu entladen. Filmische 'Rockoper' nennt der Regisseur (und Lied-Dichter und -Komponist) das selbst. Ein insgesamt eher unglückliches Genre, das auch im Rahmen der einzigartigen Lav-Diaz-Ästhetik eher seine Schwächen als seine Stärken enthüllt." Dennoch lohnt auch dieser Film, sagt Andreas Busche im Tagesspiegel - nicht zuletzt der letzten von vier Stunden wegen, in der alle Figuren zusammenfinden: "Durch das noch stärker expressionistische Licht wird die physische Dimension der Gewalt betont. Die Figuren von Lav Diaz bis hierhin zu begleiten ist eine emotionale Strapaze. Aber seine vierstündige Moritat ist auch eine Offenbarung." Weitere Besprechungen: critic.de, Welt, Berliner Zeitung und NZZ.


Joaquin Phoenix im neuen Film von Gus van Sant

Gus van Sants
"Don't Worry, He Won't Get Far on Foot" über den Cartoonisten John Callahan mangelt es an "erzählerischer Wucht", meint Thekla Dannenberg im Perlentaucher. Und das, obwohl es reichlich Material für van Sants Kino über Außenseiter gegeben hätte, schließlich war Callahan Alkoholer, Sexist und nach einem Unfall auch noch querschnittsgelähmt. Entsprechend führe der Fillm "durch alle Stufen des Selbstmitleids hinab in die Gosse", doch van Sant "erzählt die Geschichte des boshaften Säufers, der auf den richtigen Weg des boshaften Cartoonisten gebracht wird, mit Sentimentalität, wo es Witz gebraucht hätte." Immerhin Joaquin Phoenix brilliert in der Hauptrolle, wie auch Christian Schröder im Tagesspiegel feststellt: Er krieche "geradezu hinein in diese Rolle, man spürt Lebenshunger und Wut, wenn er mit seinem Elektrorollstuhl kopfwackelnd in Höchstgeschwindigkeit über den Bürgersteig braust."

In der Berliner Zeitung freut sich Philipp Bühler über diese Wiederbegegnung mit Gus van Sants "tröstendem Seelenkino". Von solcher Freude wenig zu spüren ist bei critic.de-Kritiker Till Kadritzke: Er sah einen Film, "der in der Art, wie er uns von einem Element zum anderen führt, ein bisschen nervt und ein bisschen langweilig ist". Und ohne Joaquin Phoenix wäre "dieser Film vielleicht ein besserer gewesen." Grandios fand allein taz-Kritiker Andreas Fanizadeh den Film. Warum? "Man darf in diesem Film lachen, aber auch weinen. Typisch Gus Van Sant, wie er dabei auch die emotionale Unverstelltheit Jugendlicher leise feiert." Für die taz war Viktoria Morasch bei der Pressekonferenz zum Film, bei der sich Joaquin Phoenix (der kurz zuvor draußen noch sehr brav Autogramme verteilt hat, wie dieser Perlentaucher beobachten konnte) mal wieder von seiner bockigen Seite zeigte.

Außerdem aus dem Wettbewerb besprochen werden Mani Haghighis "Schwein" (Perlentaucher) José Padilhas "7 Tage in Entebbe" (Tagesspiegel, FR, unsere Kritik hier), Emily Atefs "3 Tage in Quiberon" (ZeitOnline, unsere Kritik hier) und Erik Poppes "Utøya 22. Juli" (ZeitOnline, unsere Kritik hier).

Weitere Artikel: Jan Künemund spricht in der taz mit Nanouk Leopold über deren in der Jugendfilmsektion gezeigten Coming-of-Age-Film "Cobain". Im Panorama laufen Filme über die Neue Rechte und erstarkende faschischtische Bewegungen, berichtet Kai Müller im Tagesspiegel. Brigitte Werneburg (taz) und Kolja Reichert (FAZ) durchforsten das Forum Expanded. Bert Rebhandl hat sich für's FAZ-Festivalblog auf dem Berlinale-Filmmarkt einen Eindruck von der zweiten Staffel von Marvin Krens "4 Blocks" verschafft und Ulrike Ottinger getroffen. Passend dazu hat sich Gunda Bartels vom Tagesspiegel im Serienprogramm des Festivals umgesehen und Carolin Ströbele sich für ZeitOnline mit Christian Schwochow über dessen neue, auf der Berlinale gezeigte Serie "Bad Banks" unterhalten, mit der er das Investmentbanking-Milieu in den Blick nimmt. Nadine Lange schreibt im Tagesspiegel zum Tod des Schauspielers Nazif Mujić, der 2013 mit dem Silbernen Bären ausgezeichnet wurde, jetzt aber in Armut starb.

Besprochen werden Kiyoshi Kurosawas Science-Fiction-Film "Foreboding" (taz, Tagesspiegel), Aminatou Echards "Djamilia" (Perlentaucher), Susan Gordanshekans "Die defekte Katze" (Tagesspiegel), Karim Aïnouz' "Zentralflughafen THF" (taz, Perlentaucher), Babak Jalalis "Land" (Tagesspiegel) und Sergej Lozinitsas "Victory Day" (FAZ).

Weiteres in aller Kürze vom Festival im Kritikerspiegel von critic.de und in den Festival-SMS von Cargo, sowie natürlich mehrfach täglich aktualisiert in unserem Berlinale-Blog.