Außer Atem: Das Berlinale Blog

Betrügt den Zuschauer: Denis Cotes "Repertoire des villes disparues - Ghost Town Anthology" (Wettbewerb)

Von Anja Seeliger
11.02.2019.


Eine winterliche Landschaft, im Vordergrund eine Art Baustelle, auf der zwei Bagger stehen. Dann hört man ein Auto, das schnell näher kommt, und das ist es, rast von hinten ins Bild, macht eine kurze scharfe Kurve nach links und knallt mit voller Geschwindigkeit in die kleine Steinmauer. Stille. Die Kamera wandert um das Autor, dann auf zwei Beine, die herbei rennen, und dann sieht man zwei kleine Gestalten mit grauen Halloween-Masken auf dem Gesicht, die auf das Auto starren.

Kein schlechter Anfang! Was erwartet man jetzt? Einen Horrorfilm? Eine Mystery-Geschichte? Jedenfalls einen Film mit Tempo. Der Autofahrer, stellt sich heraus, war ein junger Mann, der vermutlich Selbstmord begangen hat. "Er war nicht glücklich" sagt die ungelenk plappernde Adele auf der kurz nach der Beerdigung stattfindenen Silvesterparty. Sein Bruder schweigt, die Eltern wissen auch nichts, die Bürgermeisterin hält eine aufbauende Rede: Das Leben geht schließlich weiter, n'est ce pas? Psychologische Hilfe für die Einwohner des 215-Seelen-Ortes lehnt sie ab. Also vielleicht doch ein psychologisches Drama?


Überhaupt das Dorf. Es liegt in der Provinz Quebec, aber offenbar weit weg von der gleichnamigen Stadt. Es gibt dort nichts. Kein Kino, kein Theater, klar, keinen Supermarkt. Nur ein kleines Café. Der Betreiber würde gern ein altes Haus im Dorf kaufen, die Bürgermeisterin rät ab: Wahnsinnig schlechtes Karma. Dort lebte ein Mann mit Depressionen, der erst seine vier Kinder und dann sich selbst tötete. "Ich würde es nicht anfassen", sagt sie. Der Café-Besitzer lacht. Also doch ein Horrorfilm?

Der tote Junge, Simon, kommt zurück. Er sieht in seine Mutter, dann sein Vater und schließlich auch der Bruder. Der Café-Besitzer sieht die tote Familie, andere Tote tauchen auf, sprechen nie, stehen nur rum und gucken. Schließlich schwebt Adele meterhoch in der Luft stehend und blinzelt.

Sie sind nicht die einzigen, erfahren die Einwohner auf einer Versammlung mit der Psychologin und einem Landespolitiker. Diese Erscheinungen gibt es jetzt häufiger, aber nur außerhalb der großen Städte. Bisher haben sie niemandem etwas getan. Sie sprechen nie. Oh, also eine Parabel?

Jeder muss sich entscheiden. Die einen bleiben, die anderen nicht, wie die Bürgermeisterin, die den Toten trotzig ihre Schnapsflasche entgegenschleudert. Eine Klimax gibt es nicht.

Der einzige, der in diesem Film wirklich weiß, warum er etwas tut, ist der Kameramann François Messier-Rheault, der mit seinem grobkörnigen 16mm-Material wahre Wunder vollbringt. In den Innenräumen herrscht meist fahles Licht, das den Bewohnern alles Leben zu entziehen scheint, fast sehen sie selbst schon aus wie Leichen. Draußen Öde, Schnee, kahle Bäume, verfallende Häuser, eine düster-bedrohliche Landschaft. Aber dann auch Sonne, flirrendes Licht auf dem Eis, die die Felder fast märchenhaft aussehen lässt.

Das passt, dient aber doch nicht der Geschichte. Messier-Rheaults Schuld ist das nicht: Es gibt keine Geschichte.

Anja Seeliger

Répertoire des villes disparues - Ghost Town Anthology. Regie: Denis Coté. Mit Robert Naylor, Josée Deschênes, Jean-Michel Anctil, Larissa Corriveau, Rémi Goulet. Kanada 2018, 96 Minuten (alle Vorführtermine)