Außer Atem: Das Berlinale Blog

Mit der Erde verbinden: Angela Schanelecs "Ich war zuhause, aber" (Wetbewerb)

Von Thierry Chervel
12.02.2019.

Es kann sein, dass dieser Film ein Meisterwerk ist. Jedenfalls beschleicht mich beim Sehen das Gefühl, dass er eines sein möchte. Vielleicht ist es aber auch so, dass man als ein über Sechzigjähriger nicht über einen solchen Film schreiben sollte. Es bedrängen einen zu viele Referenzen, die vielleicht nicht mal gemeint sind: Der Esel am Anfang, der mit der späteren Handlung nichts zu tun hat, das ist doch Bresson, oder? Die tonlos von Schülern vorgetragenen "Hamlet"-Szenen erinnern mich an Stunden der Qual mit Straub und Huillet. Die Schauspieler, die sich ins Gestrüpp legen, als sei es das eigentlich ersehnte Bett: ganz klar Tarkowski, nur dass er die entsprechenden Bilder aparter Weise am liebsten bei Schneeregen arrangierte. Die Tonnen des Ungesagten: Antonionis incommunicalibità.

Provokation des Statuarischen in einem Medium der Bewegung. Die meiste Zeit stehen die Schauspieler in der Gegend rum. Wenn sie vor Gemälden stehen, starren sie mit Vorliebe daran vorbei. Die Bewegung lässt Schanelec dennoch rein: als in der Ferne vorbeirauschenden Autoverkehr, als Motorradheulen, das einen Monolog zerreißt, als Züge, die sich in Fenstern spiegeln.

Es ist aber auch nicht ungerecht, die Referenzen aufzurufen, da die Protagonistin Astrid (Maren Eggert) ganz offenbar eine Filmkritikerin sein soll, natürlich eine der ernsthafteren Art. Sie hat einen zentralen Monolog in dem Film, in dem ihr ganzes Problem mit dem Genre verhandelt wird. Sie spricht mit dem Regisseur eines Films, den sie zuvor nur auszugsweise gesehen hat. Seine Idee war, Schauspieler und Tänzer an den Betten von Sterbenden in Szene zu setzen. Dafür erntet er ihre brüske Ablehnung. Schauspielerei ist Lüge, sagt sie. Der Sterbende aber, der weiß, dass er sterben wird, ist mit der radikalsten Wahrheit seines Lebens konfrontiert. Der Schauspieler verkörpert nur etwas: "Die Lüge beherrscht jede Faser seines Körpers." Der Sterbende, so Astrid, ist der wahre Körper. Und "mir gefällt es nicht, wenn Lüge auf Wahrheit trifft". Das verbinde sich nicht, sei wie Öl und Wasser.


Das Bett des Sterbenden, sagt sie noch, ist nicht das Bett, sondern die Erde. Er wird sich wieder mit der Erde verbinden. Hiermit sind sicherlich die im Film immer mal wieder im Gras liegenden Schauspieler zu assoziieren. Auch Astrid macht das einmal, fast in der Dunkelheit, und zwar vor einer Friedhofskapelle. Ein religiöses Motiv also, um so mehr als ein kleiner Vogel sich vertrauensvoll zu ihr gesellt. Der dreizehnjährige Sohn der Kritikerin war anfangs verschwunden, kommt mit verletztem Fuß zurück. Sein Vater ist gestorben: Es ist ein Film über den Tod, das Weiterleben und das Sterben.

Eine Künstlerin, die zugleich wahrhaftig sein und Kunst machen will, hat ein Problem mit den Mitteln. Ein Kino der Askese rückt immer in die Nähe des Religiösen, auch weil die große religiöse europäische Filmtradition eine der Askese war, langsam, kratzig, Kritik der Oberfläche. Ich habe mich in dem Film immerhin anders als in früheren Filme Schanelecs, die ich als noch wesentlich kratziger in Erinnerung habe, nicht gelangweilt. Ich erinnere mich aus früheren Filmen an unendliche Dialoge eines Ehepaars mit noch längeren Pausen, und das Ehepaar lag im Bett, man sah aber nur das Fußende. Und zwar in flauem Schwarzweiß oder 16 Millimeter (so wie gesagt meine Erinnerung!)

Nun gibt es ja leider gar keinen Film mehr, Bilder sind nicht mehr flau, und Schanelec ist gegenüber früheren Arbeiten wesentlich konzilianter. "Ich war zuhause, aber..." hat Rhythmus. Ab und zu gibt es einen Schwenk, ja sogar eine eingestreute Autofahrt durch Berlin-Mitte. Als der Junge mit seinem verletzten Fuß im Krankenhaus ist, wird gar ein Tanz an seinem Krankenbett aufgeführt.

Dennoch bleibt natürlich das Statuarische. Schanelec erzählt eine eine Art Fotoroman, aber die Fotos sind mit Ton, belebt, wie in Harry Potters Tagesprophet.



Und auch ein Kino der Askese entkommt den Dilemmata des Religiösen nicht. Nummer 1: Auch ein Hungerkünstler ist ein Künstler, sucht Wirkung. Und in einer Kunst der Askese hält man sich an die Reste - wenn nicht ans Spiel, dann an die Bilder, also die unglaublich schöne Fotografie Ivan Markovics: Hier ist nichts flau. Die Bilder erinnern mich in ihrem weichen Nuancenreichtum und ihrer perfekten, wie zufälligen Kadrierung an Rohmers "Marquise von O." Es ist großartig, wie Markovic in einer Einstellung aus einem Getränkemarkt heraus links die im Schatten liegenden Getränkekisten in all ihren Farben, wenn auch schattenhaft verdunkelt, erfasst, und dennoch die Straße im Sonnenschein, die man durch das Tor hindurch sieht, ebenfalls in allen Details. Und das alles, ohne dass man den Eindruck hat, dass Kunstlicht eingesetzt wird. Fotografie beherrscht solche Kontraste eigentlich nicht. Hinreißend und doch diskret sind auch die "Hamlet" rezitierenden Kinder ins Bild gesetzt. Jede Farbe eines zerknitterten T-Shirts leuchtet von innen und in allen Details. Die rote Tasche im Dämmerlicht der Umkleidekabinen in einem Schwimmbad: ähem, nachgerade exquisit!

Die Verweigerung des Spiels führt zum Tableauhaften und zu einem Essenzialismus, der selbst wieder unter dem Verdacht der "Lüge" steht.

Und dann gibt es neben der Forderung nach Wahrhaftigkeit noch die nach Plausibilität. Jeder, der eine Stadt kennt, fühlt sich durch geografische Sprünge in der Kontinuität eines Films gestört, die eine Szene am Askanischen Platz, dann wieder Karl-Marx-Allee oder Kurfürstendamm. Unplausibel scheint mir auch die Situation der Kritikerin. Der Film will zeigen, dass das Leben weitergeht. Ausführliche Sequenzen widmen sich darum dem Kauf eines Fahrrads. Mühsam verhandelt die Kritikerin um das gebrauchte Gefährt, das 80 Euro kostet. Aber zugleich wohnt sie in luftigen Altbauwohnung eines prächtigen Gründerzeithauses in der Keithstraße.

Vielleicht ein Meisterwerk also, aber keines ohne Brüche.

Thierry Chervel

"Ich war zuhause, aber" von Angela Schanelec. Mit Maren Eggert, Jakob Lassalle, Clara Möller, Franz Rogowski, Lilith Stangenberg. Deutschland / Serbien 2019 . 105 Minuten (Termine).