Außer Atem: Das Berlinale Blog

Melodram mit Starbesetzung: Wang Xiaoshuais "So long, my Son" (Wettbewerb)

Von Thekla Dannenberg
14.02.2019.


Nicht nur Zhang Yimous Film "One Second" über die Kulturrevolution ist von den chinesischen Behörden zensiert worden. Auch Derek Kwok-cheung Tsangs "Better Days", der in der Reihe Generation laufen sollte, hat keine Freigabe bekommen. In  Variety gibt Rebecca Davis einen guten Einblick in die Lage des chinesischen Independent-Kinos, das Davis zufolge so gut wie tot sei. Wenn Filme heute Indie aussähen, würde damit nur einem Publikumsgeschmack Rechnung getragen, der für das kommerzielle Kino nicht zu haben sei. Die Zensur passiert hätten aber auch diese Filme.

Wang Xiaoshuai durfte mit seinem Wettbewerbsbeitrag "So long, my Son" nach Berlin kommen, auf der Pressekonferenz äußerte er sich denkbar vorsichtig über die Affäre Zhang Yimou. Eine unangenehme Sache. Er kenne keine Hintergründe. Aber Zhang Yimou sei für ihn immer wegweisend gewesen. Und nein, mit seinem eigenen Film wolle er keine politische Kritik üben, sondern eine universelle Tragödie erzählen, über historische Umwälzungen, Schuld, Verletzungen und die Notwendigkeit der Versöhnung.

"So long, my son" erzählt über dreißig Jahre hinweg die Geschicke dreier Paare im kommunistischen China, vom Ende der Kulturrevolution bis in die heutige turbokapitalistische Zeit. Sie sind alle miteinander verwandt, befreundet und schließlich durch gemeinsames Unglück aneinander gekettet. Die Ereignisse und Hintergründe der Vergangenheit enthüllt der Film in vielschichtiger Komposition erst allmählich in immer neuen Rückblenden, während die Gegenwart zugleich voranschreitet.

Am Anfang des Films steht der Tod eines Kindes. Xingxing, der Sohn von Liyun und Yaojun, ertrinkt beim Spielen im Fluss. Sein Cousin Haohao hat ihn so lange getriezt, bis er mit den anderen Kindern ins Wasser ging, obwohl er nicht schwimmen konnte. Fünfzehn Jahre später leben Liyun und Yaojun an einem anderen Fluss in der Provinz. Das Kind, mit dem sie jetzt leben, ist kein leichtes, und sie sind wieder dabei, den Jungen zu verlieren.



Xingxing war nicht das erste Kind, das Liyun genommen wurde, wie sich nach und nach durch Rückblenden in die achtziger Jahren offenbart. Sie war von den Exekutoren der Ein-Kind-Politik zu einer Abtreibung gezwungen worden. Als Direktorin für Familienplanung zuständig war dafür ausgerechnet Haohaos Mutter, die auch Liyuns Schwägerin ist, die Schwester ihres Mannes. Die Familienplanerin ist kein Unmensch: Sie sagt Sätze wie: "Was denken die sich, solche Qualen auf sich zu nehmen?" Zum Trost verleiht sie ihrer Schwägerin den Preis für Familienplanung, das gibt wenigstens ein bisschen Geld. Liyun verzeiht es ihr trotzdem nicht.

Dann verliert Liyun auch noch ihre Stelle. Die große Betriebsversammlung, in der die Kaderleitung die Arbeiter zu Opfern aufruft im Kampf für die Nation, gehört sicherlich zu den explosivsten Szenen des Films. Die Beschäftigten protestieren, sie sehen überhaupt nicht ein, dass sie auf ihre Arbeit verzichten sollen, nur weil die Partei ihre Wirtschaftspolitik ändert. Liyun und Yaojun adoptieren ein Kind aus dem Waisenhaus und ziehen aus der Stadt weg, in die Provinz, an einen großen Fluss.

Die Bilder vom Leben am Fluss sind betörend schön. Für diesen Reichtum liebt man die chinesischen Filmemacher. Allein schon an der bescheidenen Hütte, in der das Paar wohnt und arbeitet, könnte man sich nicht sattsehen, doch durch das offene Fenster blickt man auch noch aufs Wasser hinaus, auf dem Dutzende Kähne, Fähren und Frachter vorbei tuckern. Diesen kunstfertigen Kompositionen entgegen steht die grobe Stimmungsmalerei, mit der Wang Xiaoshuai musikalisch arbeitet. Geradezu erdrückend setzt er die sentimentalen Klänge von "Auld Lang Syne", dessen chinesische Version "Di Jiu tian chang" dem Film seinen Original-Titel gegeben hat.

Das Melodram ist die Königsdisziplin der falschen Versöhnung. Es beweint das persönliche Unglück und nimmt die Verhältnisse und den Lauf der Dinge ergeben hin. Angesichts der schwierigen Lage der Filmemacher in China ist es schwer zu sagen, ob die politisch brisanten Aspekte in diesem Film eher dazu dienen, einem privaten Drama mehr Fallhöhe zu geben, oder ob man froh sein muss, dass Wang Xiaoshuai mit seinem starbesetzten Melodram ein Vehikel gefunden hat, um überhaupt an einige unaufgearbeitete Punkte der chinesischen Geschichte zu erinnern.

Thekla Dannenberg

"Di jiu tian chang  - So long, my Son". Regie: Wang Xiaoshuai. Mit Wang Jingchun, Yong Mei, Qi Xi, Wang Yuan, Du Jiang. China 2019. 175 Minuten (Alle Vorführtermine).