Außer Atem: Das Berlinale Blog

"Im Herzen rettungslos verzweifelt" - der Berlinale-Pressespiegel

Von Thomas Groh
15.02.2019. Mit Wang Xiaoshuais "So long, my Son" läuft auf der Zielgeraden doch noch etwas mit Bären-Aussichten, freut sich die FAZ und auch die taz steht dem nicht nach. Der Tagesspiegel feiert derweil Nadav Lapids "Synonymes". Ein insgesamt durchwachsener Wettbewerbsjahrgang neigt sich dem Ende zu: Rückblick auf den achten Berlinale-Tag.
Endlich ein Lichtblick im Wettbewerb: "So long, my Son"

Wang Xiaoshuais "So long, my Son" ist der letzte Film, der um den Bären ins Rennen geht - und auch der beste in diesem Jahr, schwärmt Andreas Kilb in der FAZ, der dem chinesischen Regisseur alle Daumen drückt. Xiaoshuai erzählt über 30 Jahre hinweg die Geschichte dreier Paare unter den Eindrücken der Kulturrevolution und die traumatische Erfahrung eines Kindstods, bedient dabei aber kein sentimental auffahrendes Register, hält der Kritiker fest: "Bei ihm ist die filmische Erzählung so ineinander geschachtelt, dass ihr Kern erst allmählich sichtbar wird, und diesen Kern bildet nicht der Unfall selbst, sondern sein Widerhall in den daran Beteiligten." Für tazler Fabian Tietke ist dieser Film, trotz ein paar Schwächen gegen Ende, "ein Lichtblick in einem unfassbar uninspirierten Wettbewerbsjahrgang."

Unglaublich schön ist dieser Film über bescheidene Lebensverhältnisse geraten, schreibt Thekla Dannenberg im Perlentaucher, traut dem Ganzen aber letztendlich doch nicht ganz über den Weg: "Das Melodram ist die Königsdisziplin der falschen Versöhnung. Es beweint das persönliche Unglück und nimmt die Verhältnisse und den Lauf der Dinge ergeben hin. Angesichts der schwierigen Lage der Filmemacher in China ist es schwer zu sagen, ob die politisch brisanten Aspekte in diesem Film eher dazu dienen, einem privaten Drama mehr Fallhöhe zu geben, oder ob man froh sein muss, dass Wang Xiaoshuai mit seinem starbesetzten Melodram ein Vehikel gefunden hat, um überhaupt an einige unaufgearbeitete Punkte der chinesischen Geschichte zu erinnern." Weitere Besprechungen auf critic.de und im Tagesspiegel.

Leiden in Paris: "Synonymes"

Ein junger Israeli flieht aus seiner Heimat nach Paris, weil er von seinem Land genug hat: Nadav Lapids "Synonymes". Andreas Busche vom Tagesspiegel sieht in dem Regisseur "eine neue Stimme" im Weltkino: "Einsamkeit, Aggression, traumatische Erinnerungen, die Sehnsucht nach einem Neuanfang. Widersprüchliche Gefühle fließen durch Yoav, in die Bilder. Und Lapid versucht gar nicht erst, diese zu kanalisieren. Es geht immer ums Fließen und um Sprünge, die Choreografie von impulsiven Bewegungsabläufen." Thekla Dannenberg bleibt im Perlentaucher eher skeptisch: "Lapid setzt in seinem von Maren Ades koproduzierten Film 'Synonymes' sein Leiden an Israel in Szene, manchmal skurril, manchmal mit einer gewissen Pointe, oft prätentiös. Schwacher Applaus und schwache Buhs halten sich die Waage." Für Nino Klingler von critic.de fühlt sich dieser Film an "wie ein Rausch mit garantiertem Kater, wie ein Popsong, der hoffnungslose Texte in fröhliche Rhythmen hüllt: eingängig, mitreißend, melodisch, aber im Herzen rettungslos verzweifelt. Am Ende des Filmes ist alles kontaminiert, mit jedem wilden Überschwang wird das Gefühl einer schrecklichen, drohenden Explosion stärker. "

Christiane Peitz hat ein großes Gespräch mit Charlotte Rampling geführt, der in diesem Jahr die Hommage des Festivals gewidmet ist. Warum sich die große Schauspielerin nicht zu MeToo geäußert hat? "Es ist notwendig, dass Frauen ihre Stimme erheben. Aber ich betätige mich nicht politisch, trete keiner Gruppe bei, bewege mich nicht im Rudel. Ich bin eine Einzelgängerin."

Abschied von Dieter Kosslick. Es war eine völlig andere Welt, als Kosslick damals 2002 zum ersten Mal den Roten Teppich ausrollte, schreibt Barbara Schweizerhof im Freitag und erinnert daran, wie euphorisch der neue, später oft geprügelte Chef damals auch von der Presse begrüßt wurde. Bei aller berechtigter Kritik: Kosslick war "stets erfrischend dünkelfrei" und außerdem ein guter Anwalt des deutschen Films. Im Tagesspiegel überreicht Elisabeth Binder dem scheidenden Festivalleiter einen Blumenstrauß und sagt zum Abschied leise Servus.

Weitere Artikel: Eva-Christina Meier spricht für die taz mit dem Filmemacher Marcelo Gomes über seinen Dokumentarfilm "Waiting for the Carnival", der einen Blick in den Nordosten Brasiliens und dort auf die autonomen Arbeiter wirft. Für den Tagesspiegel hat sich Helena Davenport mit dem Filmemacher Suhaib Gasmelbari getroffen, dessen Film "Talking about Trees" im Panorama zu sehen ist. Für die SZ blickt Annett Scheffel auf die Wettbewerbsfilme der letzten Tage zurück. Dies ist das Festival für das sich attraktive Menschen als hässliche Menschen verkleiden, fällt Daniel Haas in der NZZ auf. Für den critic.de-Podcast haben sich Olga Baruk, Till Kadritzke, Nino Klingler, Philipp Schwarz und Silvia Szymanski vor dem Mikrofon versammelt und lassen die aktuellen Wettbewerbsfilme Revue passieren.

Jenny Jecke, die für Moviepilot vom Festival berichtet, fasst den Wettbewerb auf Twitter mit einem Foto zusammen:




Besprochen werden Marwa Zeins Doku "Khartoum Offside" (Perlentaucher, Tagesspiegel), Jonah Hills autobiografischer Film "Mid90s" (Perlentaucher), Adam McKays "Vice" (critic.de), Isabel Coixets "Elisa & Marcela" (critic.de, unsere Kritik hier), die im Forum gezeigten dokumentarischen Porträts "Just Don't Think I'll Scream" und "The Blue Flower of Novalis" (Tagesspiegel), Sho Miyakes "And Your Bird Can Sing" (Perlentaucher), Joanna Reposi Garibaldis "Lemebel" (taz), Mischa Hedingers "African Mirror" (taz), Mark Jenkins "Bait" (taz), die Doku "Schönheit und Vergänglichkeit" über den Berghain-Türsteher und Fotografen Sven Marquardt (Tagesspiegel), Stefan Ruzowitzkys und Michael Krummenachers Serie "8 Tage" (Tagesspiegel) und Lene Bergs "False Belief" (taz).

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