Außer Atem: Das Berlinale Blog

"Schmerzfrei ist Kosslicks Gelassenheit nicht" - der Berlinale-Pressespiegel

Von Thomas Groh
16.02.2019. Die Berlinale endet mit einem Ärgernis - oder mit fulminanter Gospelekstase, je nachdem, mit welchem Film man den Potsdamer Platz verlässt. Nach einem lauen Wettbewerbsjahrgang schwärmen die Kritiker umso mehr von den Entdeckungen im Panorama. Der letzte Berlinale-Tag im Rückblick.
Liebevoll, erbaulich, aber Quatsch: "Marighella"

Die Berlinale ist einmal mehr dem Programm nach geschafft - und die Filmkritiker (samt Pressespiegler...) ebenso. Außer Konkurrenz gezeigt wurde am Ende noch Wagner Mouras "Marighella", ein Film über den brasilianischen Guerillaführer Carlos Marighella - und ein echtes Ärgernis, meint Thierry Chervel im Perlentaucher: Der Film "bietet alles, was so eine Heiligenlegende bieten sollte: papierene Dialoge, blechernes Pathos, fiese Amerikaner, märtyrerhafte Selbstopferungen, liebevoll ausgemalte Folterszenen, die die Helden aber nicht 'brechen', sowie, am Ende, weinende Pietàs. Es wirft einen bedenkliches Licht auf den Zustand der brasilianischen Debatte, wenn die Linke dort glauben sollte, dem Finsterling Bolsonaro mit einem derart erbaulichen Quatsch begegnen zu können." Weitere Besprechungen in taz und Tagesspiegel, die Welt hat sich außerdem mit dem Regisseur getroffen.

Sieht atemberaubend aus: Aretha Franklin, live 1972


Mit besserer Laune gehen jene Kritiker nach Hause, die Aretha Franklins nach vielen Jahren Restaurationsarbeit gezeigtem Konzertfilm "Amazing Grace" beiwohnten: Sydney Pollacks Aufnahmen eines Kirchenauftritts im Jahr 1972 stellen einen "fulminanten Schlusspunkt" dieses Festivaljahrgangs dar, schwärmt Christian Schröder im Tagesspiegel: Die Soulsängerin "sieht atemberaubend aus. ... Jeder Song wird zur Kurzpredigt, zum Stoßgebet. Aretha säuselt und seufzt, schließt die Augen, verziert ihre Gesangslinien mit Koloraturen." Was für eine Performance, freut sich auch Susanne Lenz in der Berliner Zeitung: ". Die Menschen springen auf, sie weinen, lachen, tanzen, rufen. Selbst im Kino kommen einem die Tränen. Es ist eine Erlösung." Auch Julian Weber bezeugt in der taz allgemeine Ekstase: "Die Kameras kleben an den Gesichtern der MusikerInnen, ihren Halsschlagadern und Zähnen, den Schweißperlen. Es wird hart gearbeitet im Weinberg des Herrn"

Für den Tagesspiegel hat sich Andreas Busche mit Max Linz getroffen, der nach seiner Kunstbetriebs-Satire "Ich will mich nicht künstlich aufregen" (unsere Kritik) nun mit "Weitermachen Sanssouci" die Arbeit im akademischen Betrieb aufs Korn nimmt und dabei weiter an seinem Projekt, Theater und Kino miteinander ins Gespräch zu bringen, arbeitet. Busche ist da ganz auf seiner Seite: "'Auf der phänomenalen Ebene Zeitzeugenschaft schaffen', nennt Linz seine Methode. Oder vereinfacht gesagt: Linz ist für das deutsche Kino so wichtig, weil er keine Berührungsängste innerhalb des hierzulande verblödeten Genres der Komödie hat. Schmerzbefreite Kalauer stehen in 'Weitermachen Sanssouci' gleichberechtigt neben fantastischen visuellen Gags."

Im FAZ-Blog fragt sich Bert Rebhandl nach der Sichtung des allgemeinen Bärenfavoriten "So Long, My Son", ob an den Gerüchten, Zhang Yimous "One Second" sei gar nicht wegen "technischer Probleme" aus dem Programm genommen worden, sondern auf Druck der chinesischen Behörden, wirklich etwas dran sein kann: Schließlich "türmen sich in diesem Film die Probleme mit dem brutalen Eingriff des Staates in die Leben der Menschen" ziemlich deutlich auf. "Reicht es da wirklich, dass Wang Xiaoshuai letzlich alles auf einen östlichen Stoizismus hinauslaufen lässt, um das fragile Verhältnis zwischen Gegenwart und Geschichte ins Lot zu bringen?"

Festivalentdeckung: "Monos"

Auch in diesem Jahr war wieder am schlechtesten beraten, wer sich im Wettbewerb getummelt hat, schreibt Barbara Wurm in der taz. Am besten fuhr man in diesem Jahr mit dem ansonsten oft gescholtenen Panorama, wo in diesem Jahr "die filmisch herausragenden Arbeiten" zu finden waren: So etwa Syllas Tzoumerkas' Krimi "The Miracle of Sargasso Sea", Joanna Hoggs "The Souvenir" und Laura Amelias "Holy Beasts" mit Geraldine Chaplin und Udo Kier: Da gab es "große Auteur-Kunst" zu bewundern: "Unaufdringlich perfekt die Perspektiven und Winkel der Kameraführung Cárdenas, subtil die Nähe zu den Charakteren, hochkomplex die Dramaturgie. ... Weit weit weg von MeToo & Co. Sexy, intelligent cinema. Soll es geben." Auch Rüdiger Suchsland schwärmt auf Artechock von den süßen Früchten des Panoramas: Lou Yes Thriller "The Shadow Play" und Alejandro Landes' "Monos" haben ihn völlig umgehauen. Auch Moviepilotin Jenny Jecke pflichtet ihm bei: "Monos" ist eine der ganz großen Entdeckungen dieses Festivals. Nichts weniger als "ein rauschhafter Überlebenskampf zwischen Sturzflut und Moskitoschwarm" bietet sich hier.

Weiteres: Der Wettbewerb der Berlinale 2019 geht kaum als Glanzpunkt in die Geschichte des Festivals ein, gähnt Frank Junghänel in der Berliner Zeitung. Claudia Lenssen (taz) und Maria Wiesner (FAZ) haben Berlinale-Veranstaltungen zum Thema Gendergerechtigkeit besucht. Im Tagesspiegel erinnert sich Lenssen außerdem an jenen Abend, als Béla Tarrs mehrstündiger "Sátántangó" auf der Berlinale Premiere feierte. Für den Tagesspiegel hat sich Christiane Peitz einen Tag lang an die Seite des scheidenden Festivalleiters Dieter Kosslick gehängt und beobachtet: "Schmerzfrei ist Kosslicks Gelassenheit nicht." Anke Sterneborg (SZ) und Bert Rebhandl (Standard) schreiben über Charlotte Rampling, die von der Berlinale für ihr Lebenswerk ausgezeichnet wurde. Hier ein paar Highlights aus ihrer Pressekonferenz:



Besprochen werden  ein Tourfilm der Toten Hosen (Berliner Zeitung) sowie Agostino Ferrentes "Selfie" und Maryam Zarees "Born in Emin" (Freitag).