Außer Atem: Das Berlinale Blog

In Pornos steckt mehr Filmkunst - die Berlinale-Presseschau

Von Thomas Groh
28.02.2020. In Tsai-Ming Liangs "Days" wird jeder Schnitt zum Ereignis. Groß als Skandalfilm, aber klein als Filmkunst: Der erste Film aus Ilya Khrzhanovskiys megalomanem "DAU"-Projekt schließt die Reihen der Filmkritik in ihrer Ablehnung. Und keineswegs ein Wettbewerbs-Kannibale ist die neue Sektion "Encounters", schreibt Ray. Der Berlinale-Donnerstag im Pressespiegel.
Sagt Nein zu den Verhältnissen: Mohammas Rasoulofs "There is no Evil"

Am Freitag wird Mohammad Rasoulofs Film "There is no Evil" im Wettbewerb seine Premiere feiern - wie schon im Fall von Jafar Panahi wird sein Stuhl bei der Pressekonferenz allerdings leer bleiben: Der iranische Regisseur hat Ausreiseverbot und wurde zudem 2019 zu einem Jahr Haft verurteilt. Christiane Peitz hat im Tagesspiegel via Skype mit ihm über seinen Film, der sich mit der autoritären Situation in seinem Heimatland befasst, gesprochen. "Alle an dem Projekt Beteiligten hatten schon vorher für sich entschieden, die Verhältnisse nicht länger zu akzeptieren und Nein zu sagen. ... Die Meinungsfreiheit steht allen gleichermaßen zu, Künstlern nicht mehr als anderen Bürgern. Viele Regisseure und Künstler glauben allerdings, dass sie keine andere Wahl haben, als Teil des Systems zu werden, wenn sie arbeiten und Fördergelder bekommen wollen. Die Revolutionsgarden subventionieren zunehmend Filme und Kultur, weil sie die Kunst und die Künstler für ihre ideologischen Zwecke einspannen wollen. Solche Filme machen inzwischen einen Großteil des iranischen Gegenwartskinos aus. Entweder es sind seichte Komödien oder staatliche Propagandafilme."

Jedes Bild ein Geschenk: Tsai Ming-Liangs "Days"

Der taiwanesische Regisseur Tsai Ming-Liang ist ein alter Bekannter am Potsdamer Platz. Auch sein neuer Film "Days" ist wieder eine sparsame Angelegenheit, was den Dialog betrifft (der überdies bewusst nicht untertitelt wurde), und sehr großzügig, was lange Einstellungen betrifft. Es geht um die Begegnung eines älteren und eines jüngeren Manns - und deren Nachspiel. "Rührend und bewegend, manchmal komisch, eine wunderbare Zivilisationskritik", schreibt Susan Vahabzadeh in der SZ: "Tsai Ming-Liang ist auf der Suche nach dem Kern des Kinos: die Wahrnehmung schärfen, die Aufmerksamkeit auf das lenken, was wir mit bloßem Auge nicht sehen." Till Kadritzke konstatiert im Tagesspiegel: "Man muss sich einlassen auf diesen Film - und wird belohnt. 'Days' ist eine Einladung, die eigene Wahrnehmung zu verlangsamen, jedes Bild als Geschenk zu begreifen, jeden Schnitt als Ereignis."

Ziemlich "großartig" findet Perlentaucher Ekkehard Knörer die Tableaus, die Tsai Ming-Liang findet: "Sie sind mit Tsais Gefühl für Ausschnitt und Gleichgewicht im Bild komponiert, nie manieriert, aber auch nie so banal wie das, was man sieht, die meiste Zeit ist. Das Putzen, das Kochen, der Regen, der bunte Markt, die Landschaft, die verlassene Straße mit dem angeleuchteten Baumgrün in der Nacht. All das fällt, so banal es ist, ins Gewicht, auch wenn, allen sinkenden Gefühlen zum Trotz, die Bilder weder von der Dauer noch irgendeiner Schwere erdrückt sind." Für taz-Kritiker Michael Meyns übt sich dieser Film in der hohen Kunst, Bilder lange stehen zu lassen. "Dann ein wunderbarer Moment: Es ist Nacht, eine einsame Straßenlaterne beleuchtet mit gelblichem Licht eine Fassade aus heruntergekommenen Glaspaneelen und es ist still. Eine Minute lang hält Tsai diesen Moment, der so ruhig, schwerelos und schön ist wie wenige andere Bilder in diesem seltsamen, zerfahrenen Berlinale-Wettbewerb."

Megaloman, aber trotzdem nur eine Film-Maus: "DAU. Natascha"

Ilya Khrzhanovskiys "DAU.Natascha" lässt die Filmkritik nicht los. Entstanden aus einem mehrjährigen megalomanen Projekt - hier eine Reportage von Dreharbeiten aus dem Jahr 2011! - ging dem Film im Vorfeld (auch durch eine taz-Recherche, die den Regisseur als manipulativen Quasi-Sektenführer kennzeichnet) eine Menge Skandalpotenzial voraus. Zumal eine Folterszene, bei der die Hauptfigur dazu gezwungen wird, sich eine echte Flasche vaginal einzuführen, bereits manchen mutmaßen ließ, ob hier nicht einem Regisseur erheblich die Gäule durchgegangen seien. "Die Schutzwand der Fiktion ist fast nicht vorhanden", schreibt Ekkehard Knörer in der taz, der auch viele Hintergründe zum Projekt liefert: "So fügen die Darsteller*innen einander fast reales Leid zu. Die Fans sagen: Hier haben wir, zwar künstlich hergestellt, vor der Kamera richtiges Leben. Ich frage mich: Wie muss man drauf sein, um das zu goutieren?" Dieser Film ist "nicht einfach pornografisch, sondern zynisch und würdelos", schreibt Simon Strauß in der FAZ: "Macht, Sex und Gewalt sind die zentralen Triebfelder dieser (wohl vornehmlich männlichen) Sehnsucht. Und genau auf denen tobt Khrzhanovsky sich in seinem megalomanen 'Immersions'-Projekt aus."

Ruth Herzberg vom Freitag weiß: "Wenn man 'Laien improvisieren lässt' kommt selten was Profundes bei heraus" - und dann enttäuscht der Film sogar als Porno: "Es gab einen echten steifen Schwanz, gegenseitigen Oralverkehr, Missionars- und Reiterstellung. Leider keine Nahaufnahmen, leider keinen Cumshot. Sogar in Pornos steckt mehr Filmkunst als in Dau." Und für Jonas Nestroy von critic.de ist dieser Film "maximal mittelmäßiges Impro-Theater. ... Die traurige Pointe dieses Films: 'DAU. Natasha' braucht die skandalträchtige Kraft seiner Produktionsgeschichte, damit man sich irgendwie für ihn interessieren kann. Aus eigener Kraft erarbeitet er sie sich nicht, weder im positiven noch im negativen Sinne." Von einem frustrierenden Erlebnis schreibt Daniel Kothenschulte in der FR: "Ein gewaltiger Filmberg hat, wenigstens für den Augenblick, nur eine Maus geboren."

Christiane Peitz nimmt die Kontroverse um "DAU.Natascha" mit zum Anlass, um im Tagesspiegel einen Blick auf die beim Festival präsentierten Frauenbilder zu werfen. Den Film selbst lehnt sie völlig ab: "In der Filmwelt, ja in der gesamten Kulturbranche sollte spätestens mit dem Schuldspruch für Harvey Weinstein endgültig klar sein, dass Missbrauch, Machtmissbrauch, Demütigung und Manipulation in der Kunst nichts zu suchen haben."

Grundsätzlicheres zum Festival: Roman Schreiber kann sich im Ray Magazin der unter anderem im Tagesspiegel geäußerten Kritik, der neue Wettbewerb Encounters kannibalisiere das Forum und den klassischen Wettbewerb, nicht anschließen: "Ist die ganze Chose jetzt nicht viel übersichtlicher geworden, also jedenfalls, wenn man sich überhaupt schert um die Einteilung der Filme in die diversen Kategorien? Der Hauptwettbewerb, soviel lässt sich sagen, ist  angenehm schlanker geworden. Und man hat jetzt eine bessere Vorstellung von der Art Filme, die in den beiden Wettbewerbssektionen auf das internationale Publikum warten." Zudem sei es ja wohl "ein lohnenswertes und realistisches Ziel", wenn die Festivalleitung davon spricht, "'neue Stimmen des Kinos' zu unterstützen und den verschiedenen Formen des Kinos 'mehr Raum im offiziellen Programm zu geben'."

Lilith Stangenberg ist "Orphea"

Für die FR hat Susanne Lenz mit Lilith Stangenberg gesprochen, die in Alexander Kluges und Khavn De La Cruz' neuem Experimentalfilm "Orphea" die Titelrolle spielt. Ein Film, der mit seiner Spielfreude und seinem Experimentierwillen FR-Kritiker Daniel Kothenschulte so umgeworfen hat, dass er glatt eine Neuausrichtung der Filmförderung fordert: "Dass man es gerade mit einem solch experimentellen Format auf eine Berlinale schafft, ist auch eine Folge des aktuellen Medienwandels. Attraktive Festivalfilme sind eben keine Frage hoher Budgets, was auch zu einem Umdenken in der Filmpolitik führen muss. Künstlerische Kriterien müssen wieder einen höheren Stellenwert bekommen als wirtschaftliche. Ebenso wichtig sind schnelle, unbürokratische Entscheidungen."

Außerdem: Fabian Tietke spricht in der taz mit dem indischen Regisseur Akshay Indikar über dessen Film "Sthalpuran". Im FAZ-Blog feiert Bert Rebhandl Helen Mirren, der auf dem Festival einen Goldenen Ehrenbären verliehen bekommt, und die österreichische Schauspielerin Ingrid Burkhard, die in Sandra Wollners "The Trouble with Being Born" zu sehen ist. Brigitte Werneburg stellt in der taz die im Forum Expanded unter dem Motto "Part of the Problem" gezeigten Installationen vor. Katrin Doerksen liefert im CulturMag den zweiten Teil ihres Berlinale-Logbuchs. Und die Artechock-Kritiker Rüdiger Suchsland und Sedat Aslan diskutieren auf Youtube darüber, ob Burhan Qurbanis "Berlin Alexanderplatz" (unsere Kritik hier, weitere Kritiken auf Intellectures und critic.de) vielleicht ja wirklich einer der besten Berlinale-Filme überhaupt ist.



Besprochen werden David France' Dokumentarfilm "Welcome to Chechnya" über die desolate Lage queerer Menschen in Tschetschenien (Intellectures, Dlf Kultur hat mit dem Filmemacher gesprochen), Faraz Shariats "Futur Drei" (SZ, Freitag), Alexandre Rockwells "Sweet Thing" (critic.de, Tagesspiegel), Kazik Radwanskis "Anne at 13,000 ft" (critic.de), Carmen Losmanns Dokumentarfilm "Oeconomia" (Perlentaucher), Eliza Hittmans im Wettbewerb gezeigtes Abtreibungsdrama "Never Rarely Sometimes Always" (Intellectures), Michael Venus' Mysteryfilm "Schlaf" mit Sandra Hüller (Tagesspiegel), die drei im Forum gezeigten, historischen Dokumentarfilme über die Black Panthers (taz), Edgardo Cozarinskys Essayfilm Medium" (taz) sowie Bill und Turner Ross' "Bloody Nose, Empty Pockets", der nur so tut, als sei er ein Dokumentarfilm über den letzten Tag einer Bar in Las Vegas, in Wirklichkeit aber in New Orleans gedreht wurde (Intellectures).

Außerdem: Viele weitere Besprechungen auf kino-zeit.de, bei critic.de, auf Artechock, beim Spiegel und bei Das Filter. Zum Hören: Der neue critic.de-Podcast. Immer einen Klick wert: der Kritikerspiegel von critic.de. Schnelle Updates: die SMS von Cargo. Und natürlich täglich mehrfach aktualisiert: unser Berlinale-Blog.