Außer Atem: Das Berlinale Blog

Im Meer der Unwägbarkeiten

Von Thekla Dannenberg
11.02.2021. Die Festivalleiter Mariette Rissenbeek und Carlo Chatrian stellen das Programm ihrer gesplitteten Berlinale vor. Im März laufen Filme fürs Fachpublikum. Im Juni hofft man dann wieder auf Zuschauer. Der Wettbewerb verspricht mit Céline Sciamma, Hong Sangsoo und Dominik Graf gesetzte Größen, die Reihe "Encounters" Innovation und kosmopolitisches Flair. Preise für Schauspieler und Schauspielerinnen gibt es aber nicht mehr, nur noch für Schauspielende.
Im vorigen Jahr ist die Berlinale recht glücklich der aufziehenden Pandemie davon gesegelt, doch in diesem Jahr schwankt das Filmfestival in einem Meer der Unwägbarkeiten. Heute hätte es eigentlich beginnen sollen, doch die Öffnung der Kinos ist nicht einmal absehbar, von einem Defilee auf dem Roten Teppich ganz zu schweigen. Das einzige, was die beiden Festivalleiter Mariette Rissenbeek und Carlo Chatrian auf ihrer Pressekonferenz heute bieten konnten, war die Ankündigung des Wettbewerbs und der Modalitäten, unter denen die Filmfestspiele statt finden sollen. Wie bereits bekannt, soll vom 1. bis zum 5. März rein digital und nur für Verleih, Rechtehändler und Kinobetreiber der Europäische Filmmarkt (EFM) stattfinden, einer der umsatzstärksten der internationalen Filmindustrie. Der "World Cinema Fund" und die "Berlinale Talents" finden ebenfalls im März online, aber für die gesamte Öffentlichkeit zugänglich statt.

Die Wettbewerbe, Forum und Panorama finden für Fachpublikum und Medien online im März statt. Für das Publikum soll es vom 9. bis 20. Juni ein Fest fürs Kino geben, eventuell unter freiem Himmel, aber auf jeden Fall mit rotem Teppich.

Joséphine Sanz und Gabrielle Sanz in "Petite Maman". Copyright: Lilles Films

Der Wettbewerb ist auf fünfzehn Filme komprimiert, mit vielen gediegenen Größen des internationalen Autorenfilms. Vertreten sind neben der gerade hochgehandelten Céline Sciamma, die mit "Petite Maman" ein weiteres ihrer zärtlichen Mädchenporträts zeigt, der Kinopoet Hong Sangsoo mit seinem neuen in Berlin gedrehten Film "Introduction", der Japaner Ryusuke Hamaguchi und alte Berlinale-Bekannte wie der Rumäne Radu Jude mit einer offenbar recht respektlosen Version eines Revenge-Porn oder der Ungar Bence Fliegauf. Und keine Berlinale ohne iranischen Film: Behtash Sanaeeha und Maryam Moghaddam zeigen "A Ballad for the White Cow".

Mit vier Filmen drängt sich die deutsche Industrie in den Wettbewerb, ganz wie zu Dieter Kosslicks Zeiten, darunter Dominik Grafs Erich-Kästner-Verfilmung "Fabian", Daniel Brühls Regiedebüt "Nebenan", das eine Hommage auf die Kneipe als wahrem Herz einer jeden Stadt sein soll, außerdem Maria Speths dokumentarisches Lehrerporträt "Herr Bachmann" und "Ich bin dein Mensch" von Maria Schrader, die zuletzt mit ihrer Serie "Unorthodox" einen Erfolg feierte. Eigentlich könnte man auch Alexandre Koberidzes deutsch-georgische RBB-Produktion "Was sehen wir, wenn wir zum Himmel schauen?" dazu zählen. Dann wären das das fünf.

Aus den USA ist kein einziger Film dabei, ebenso wenig aus Indien, China, Südamerika oder einem afrikanischen Land. (Alle Filme des Wettbewerbs hier)

Etwas mehr internationales Flair verströmt die Auswahl für die zweite Wettbewerbsreihe "Encounters", die neuen und innovativen Stimmen Raum geben möchte. Filme von Samaher Al Quadi, Alice Diop, Dasha Nekrasova, Fern Silva und Lê Bao führen zum Kairoer Tahrir-Platz, in die Pariser RER-Bahn, nach Griechenland, Vietnam und Hawai, aber auch in die Vergangenheit der argentinischen Militärdiktatur und der baltischen Aristokratie. Im Berlinale Spezial laufen unter anderem Cheang Sois Hongkong-Thriller "Limbo", Starvehikel wie "The Mauritanian" mit Jodie Foster und "Frech Exit" mit Michelle Pfeiffer sowie Dokumentationen zu Tina Turner und den italienischen Cantautore Lucio Dalla.

So viel lässt sich schon sagen über das Wettbewerbsprogramm: Heiteres, Unbeschwertes oder Komödiantisches findet in diesem Jahr nicht statt, auch wenn Chatrian versicherte, dass das Herz der ausgewählten Filme nicht so dunkel sei wie im vorigen Jahr. Es herrsche viel Wut, das schon, und der eine oder andere Filme zeige gar so etwas wie einen "gesunden Zynismus". Aber alles in allem habe niemand seinen Glauben an das menschliche Miteinander verloren.

Dabei nehmen die Filme des Wettbewerbs noch keinerlei Bezug auf die neue Wirklichkeit, betonte Chatrian, können sie auch nicht. Die meisten befanden sich bei der Auswahl bereits in der Produktion oder in der Postproduktion. Es werden also Filme aus der Zeit vor der Pandemie sein, deren Erschütterungen, Unsicherheiten, Verunsicherungen höchstens subkutan spürbar sein mögen.

Panorama und Forum sind strikt zusammengestrichen. Statt der sonst vierzig bis fünfzig Produktionen zeigen sowohl Forum als auch Panorama nicht mal zwanzig. Beim Forum sind fast die Hälfte Debüts, das Panorama stellt seine übliche Mischung aus queerem Film, Fiktion und Dokumentation zusammen, erweitert um indigenes Kino.


Dan Stevens, Katsuki Mori, Jérémie Renier

Die Bären werden im März bekanntgegeben, aber erst im Juni verliehen. Die sechsköpfige Jury ist mit Mohammad Rasoulof, Mohammad Rasoulof, Adina Pintilie, Ildikó Enyedi, Gianfranco Rosi und Jasmila Žbanić paritätisch besetzt, allerdings nur aus Regisseurinnen und Regisseuren, die bereits einen Goldenen Bären erhalten haben. Sie sind dem Festival verpflichtet. Aber warum sind keine Kameraleute, Produzenten oder SchaupielerInnen vertreten? Ist Film allein eine Kunst der Regie?

Und wenn wir schon dabei sind: Ab diesem Jahr sollen keine Silbernen Bären für Schauspielerinnen und Schauspieler verliehen werden, sondern nur noch ein einziger Bär fürs Schauspiel. Schwer zu sagen, ob diese Entscheidung eine Verbeugung vor dem Zeitgeist darstellt, eine Sparmaßnahme oder auch Geringschätzung für das Fach. Das Kino der Berlinale kennt nur noch Gender, aber keine Geschlechter.

Mariette Rissenbeek und Carlo Chatrian haben ihre Ankündigung als Video ins Netz gestellt, Nachfragen waren unmöglich. Dabei bleibt so vieles offen: Warum wurde der Wettbewerb nicht gleich ganz verschoben? Wie sicher ist der Juni? Hätte es nicht digitale Lösungen auch für das Publikum geben können, zusammen mit dem Kinos? Die Leute haben im Moment doch Zeit wie niemals zuvor - und vielleicht nach den endlosen Serienabenden auch mal wieder Lust auf Film! Man muss kräftig die Daumen drücken, dass das Konzept der Berlinale aufgeht. Ausgemacht ist das nicht.

Auf jeden Fall wird der Perlentaucher auch diese Berlinale verfolgen, wenn auch nicht so außer Atem wie gewohnt.

Thekla Dannenberg