Lasst uns den 4. Juni vergessen, diesen Tag, der keine besondere Bedeutung hat. Das Leben hat uns gelehrt: In einem totalitären Regime sind alle Tage gleich, alle totalitären Tage sind ein einziger Tag, es gibt keinen Tag Zwei, kein Gestern und kein Morgen.

Weil das so ist, brauchen wir nur das Kontinuum und keine speziellen Abschnitte der Wirklichkeit, keine Phasen der Gerechtigkeit oder Gleichheit.

Menschen ohne Redefreiheit, ohne Pressefreiheit und ohne Wahlrecht sind keine Menschen und brauchen kein Gedächtnis. Wenn wir aber kein Recht auf ein Gedächtnis haben, wählen wir das Vergessen.

Lasst uns jede Verfolgung, jede Demütigung, jedes Massaker, jede Vertuschung, jede Lüge, jedes Versagen und jeden Toten vergessen, alles, was in der Erinnerung schmerzen könnte, und lasst uns immer auch gleich vergessen, dass wir etwas vergessen. Alles geht mit rechten Dingen zu, so dass sie uns auslachen, als seien sie unbescholtene, anständige Herren.

Vergessen wir die Soldaten, die auf Zivilisten geschossen haben, die Panzer, die mit ihren Ketten die Körper der Studenten zermalmt haben, die Kugeln, die durch die Straßen geflogen sind, und das Blutvergießen, die Stadt und den Platz, wo keine Tränen vergossen wurden. Vergessen wir die endlosen Lügen und die Machthaber, die auf unserem Vergessen bestehen, vergessen wir ihre Schwäche, ihre Tücke und ihre Unfähigkeit. Ihr werdet sie bestimmt vergessen, man muss sie vergessen, sie können nur existieren, wenn man sie vergisst. Um überleben zu können, lasst uns vergessen.

Ai Weiwei

Im Juli bringt der Galiani Verlag die Blogtexte Ai Weiweis heraus. Diese Tweets vom 3. Juni 1989 mit einem paradoxen Text zum 20. Jahrestag des staatlichen Massakers am Platz des Himmlischen Friedens stellt der Verlag allen Medien zur Verfügung, "um Ai Weiwei die geraubte Stimme zurückzugeben".