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Deutschsprachige Romane

Herta Müller hat in diesem Jahr nicht nur den Literaturnobelpreis bekommen, sie hat mit ihrem neuen Roman "Atemschaukel" auch die Kritikerschaft gespalten. Denn bei Müller stellt sich die Frage neu, ob man über Arbeitslager, Hunger und Tod auch poetisch schreiben darf. Der Roman ist eine auf den Erinnerungen des Lyrikers Oskar Pastior und anderer ehemaliger Zwangsarbeiter basierende Erzählung über die Deportation der Rumäniendeutschen in den Gulag. Aber das ist, wie Ruth Klüger in der Welt schrieb, "nur insoweit richtig, als es den dokumentarischen Inhalt des Buchs umreißt". Müller holt die Deportierten aus der "Verdrängung heraus, gliedert sie mit ihrer Sprachkunst in unsere Kultur ein und macht sie der Trauer zugänglich", so Klüger. Einige Kritiker feierten den Roman gerade wegen seiner Sprachkunst als großes "europäisches Meisterwerk", die anderen lehnten ihn als "blanken Entbehrungskitsch" ab. Die Grabenlinien verlaufen dabei wie folgt: Für Karl-Markus Gauß (SZ) beschreibt Müller mit ihrer bildhaften Sprache einprägsam die Umformung von Individuen in "Lagerwesen". Sie spricht gewissermaßen aus dem "Inneren der Hölle". Auch FAZ, NZZ und FR loben Müllers poetische Kraft. Iris Radisch (Zeit) sah dagegen nur eine unernste, "unverbindliche Virtuosität" vorgeführt. Und außerdem lassen sich Gulag-Romane "nicht aus zweiter Hand schreiben", meint sie. Christopher Schröder, von dem das böse Verdikt des Kitsches stammt, hält den Roman in der taz schlicht für misslungen. (Hier eine

Noch zwei Preisträger: Kathrin Schmidt wurde für ihren Roman "Du stirbst nicht" mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet. Zu Recht, wenn man die Kritiken liest. Es geht um eine Frau, die nach einem Schlaganfall alles neu lernen muss: sprechen, denken, sich bewegen. Die taz ist beeindruckt, wie Schmidt mit den bildreichen, bildsicheren Mitteln der Lyrik sprachliche Versehrtheit beschreibt. Die NZZ hat fast physisch erfahren, wie das "Sprengen des Panzers des Körpers" zu Literatur wird. Die FAZ liest den Roman als Studie über den "Zusammenhang von Sprache und Identität". Der SZ gefällt besonders der völlige Mangel an Pathos. Nur auf die eingeflochtene Liebesgeschichte hätten einige Kritiker gut verzichten können.

Der Österreicher Walter Kappacher, in diesem Jahr mit dem Büchnerpreis ausgezeichnet, hat mit "Der Fliegenpalast" einen historischen Künstlerroman vorgelegt: Der alternde Hugo von Hofmannsthal begibt sich 1924 für zehn Tage ins Kurbad Fusch, wo er in seiner Jugend glückliche Sommertage verlebt hatte. Jetzt hat er Malaisen und zweifelt an seiner Kunst. Es passiert nicht viel, schreibt Michael Maar in der SZ, aber das Buch lebt in seinen Augen auch nicht von der Handlung, sondern dem "wunderbaren Deutsch" des Autors. Auch die FAZ erliegt der Suggestionskraft Kappachers. Ganz sachte spürt sie, wie das "Nichts vordringt", sachlich beschrieben, mit "nüchterner Sympathie" für den Dichter, doch unaufhaltsam. Eine Art historischen Künstlerroman - wenn auch auf ganz andere Art - hat übrigens auch Daniela Dröscher mit "Die Lichter des George Psalmanazar" geschrieben. Es geht um Samuel Johnson, der einst einem "Orientbetrüger" aufgesessen ist, einem Mann, der behauptete, er sei auf der Insel Formosa geboren. Mit den historischen Fakten geht Dröscher "so frei wie nur je ein Orientbetrüger um", schreibt die FAZ, die sich ganz wunderbar amüsiert zu haben scheint. Man begegnet realen Figuren wie Rousseau, Newton junior, Edmund Burke und Lady Montague, vor allem aber dem knorrigen Dr. Johnson, der sich von einem sanften Träumer einwickeln ließ.

Terezia Mora erzählt in ihrem zweiten Roman "Der einzige Mann auf dem Kontinent" eine sehr aktuelle Geschichte: Darius Kopp, in der DDR geboren, Anfang Vierzig, verheiratet, Vertreter für drahtlose Kommunikation und dicklicher Volloptimist, verteidigt vehement sein Lebensglück. Was genau er beruflich macht, hat Wiebke Porombka (taz) nicht ganz verstanden. Meist scheint er Spammails zu löschen und zu surfen. Es ist nicht mal sicher, ob seine in Kalifornien sitzende Firma wirklich noch existiert. Porombka begreift Kopp als eine "symptomatische" Figur des frühen 21. Jahrhunderts. Die FAZ zeigt sich fasziniert vom Aufbau des Romans: Denn Kopp hat die Angewohnheit, mit sich selbst zu sprechen und die Reaktionen seiner Umwelt vorwegzunehmen, so dass der Roman von einer "wunderbaren Vielstimmigkeit" geprägt ist. Die SZ hat das Buch zwar über weite Strecken genossen, ist aber mit der Ausrichtung unzufrieden: Denn letztlich werde "noch mehr Privates als Waffe gegen die Globalisierung" angeboten. Um die moderne Arbeitswelt geht es auch in Annegret Helds Roman "Fliegende Koffer" Hier ist die Heldin eine Frau in den Vierzigern, die am Flughafen bei der Sicherheitskontrolle arbeitet. Ein öder Job, versichert Bloggerin Andrea Diener in der FAZ, und doch verstehe Held es, äußerst fesselnd über dieses Leben zu berichten.

Eine Reihe von Romanen widmet sich der Suche des bürgerlichen Individuums nach Glück und Gelingen. Peter Hennings Romantitel "Die Ängstlichen" darf man da vielleicht programmatisch nennen. Er erzählt von einer Familie, die sich aus "Visionsverweigerern", so die FAZ, in Hanau zusammensetzt. Stephen Thome beschreibt in "Grenzgang" () am Beispiel eines gescheiterten Akademikers, der als Lehrer in sein Dorf in der hessischen Provinz zurückkehrt, und nicht das Beste, aber das ihm Mögliche aus seinem Leben macht. Norbert Scheuer erzählt in seinem Roman "Überm Rauschen" eine Familiengeschichte aus der Eifel. Die Heldin in Sibylle Bergs "Der Mann schläft" eine ausgesprochene Misantrophin, sucht, findet und verliert die Liebe und muss dabei feststellen, wie die FAZ es formuliert, dass "Leben Demütigung heißt".

Provinz im Osten geht anders. Die bekommen Abenteuer frei Haus geliefert, sogar gegen ihren Willen. Patrick Hofmann erzählt in "Die letzte Sau" von der Familie Schlegel, die ihr letztes Schwein schlachten will, um den Abschied aus dem seit der Wende verödeten Dorf Muckau zu feiern. Die FAZ fand diesen Debütroman ganz ungewöhnlich. Denn Hofmann erzählt "entschieden und originell". Den Erzählband "Die Zeitwaage" des Dichters Lutz Seiler legten die Rezensenten mit pochendem Herzen aus der Hand. Jens Jessen atmete in der Zeit tief durch und verkündete markig: "Vorkriegsware", "extraschwere Qualität". Angelika Overath rettete sich in der NZZ mit Ausrufezeichen: "Nie wurde das Elend des deutschen Ostens mit genauerer Zärtlichkeit beschrieben!" Auch FAZ und SZ waren absolut hingerissen. Der Österreicher Clemens J. Setz schildert in "Die Frequenzen" einen Vater-Sohn-Konflikt, den es heute wahrscheinlich oft gibt, nur schreibt nie einer drüber. Vater, Architekt, will, dass sein Sohn auch was Kreatives macht. Sohn antwortet kühl: Mir fällt nichts ein. Es scheint enorm viele Erzählstränge zu geben, die einige Rezensenten verwirrt haben, andere mochten das. Auch über die Sexszenen war man geteilter Meinung. Aber Setz hat ein Händchen fürs Spielerische, darin war man sich einig. Und er riskiert was. Hingewiesen sei schließlich noch auf Günter Hacks Roman "ZRH" ein Zukunftsroman, der in der Schweiz spielt. Thomas Hettche zeigte sich in der FAZ schwer beeindruckt.

Weitere Anregungen für deutschsprachige Romane und Erzählungen aus diesem Jahr finden Sie in der Longlist für den Deutschen Buchpreis, der Hotlist der unabhängigen Kleinverlage (man muss ziemlich weit nach unten scrollen, bevor man zur Liste mit allen Vorschlägen kommt) und im Perlentaucher.


Die Amerikas

Die Monster der Saison haben 1096 bzw. 1548 Seiten. Roberto Bolanos "2666" () Abenteuer-, Künstler- und Historienroman, Psychothriller, Sozialstudie und nebenbei noch Reportage und Recherche über eine grauenhafte Mordserie in Mexiko, die tatsächlich stattgefunden hat. Im Mittelpunkt des Romans steht eine rätselhafte Autorengestalt, um die herum unzählige Stimmen und Stile arrangiert sind. Die Rezensenten sind überwältigt. Bolano ist an diesem Roman gestorben, schreibt die FR, denn er hat eine Lebertransplantation verschoben, um ihn zu beenden. Zentrales Thema sei die "Gewalt und die unheimliche Faszination" an ihr. Die vielen Erzählstränge werden nicht einfach realistisch, aber doch narrativ erzählt, erklärt die NZZ und gibt Entwarnung: es ist nicht langweilig, nicht zerzaust, es ist lesbar. Der beeindruckte Daniel Kehlmann wittert in der FAZ Einflüsse von Borges und David Lynch. Für die SZ ist hier eine Welt beschrieben, "in der Spiel und Terror, Kunst und Gewalt durch Flügeltüren miteinander verbunden sind". Kurz: Ein "Meilenstein der literarischen Evolution" (Zeit).

Alles in allem muss man sagen, dass die Rezensionen zu "2666" um einiges gehaltvoller und ernsthafter waren als die zu David Foster Wallaces "Unendlicher Spaß" Mit sechs Jahren Verspätung, aber mächtiger Bugwelle und eigenem deutschen Autorenforum kam dieser Roman auf den deutschen Markt. Man hätte den Kritikern, die das Buch praktisch zum Erscheinungstag besprechen mussten, etwas mehr Zeit gewünscht. Es ging dem Autor, der sich vor einem Jahr erhängte, um die Sucht nach Lust, nach Drogen, Erfolg und Unterhaltung, um die Suche nach dem "menschlichen Schmerzkern" und das Ende der Ironie, schreibt Alex Rühle in der SZ und tituliert den Roman - nach erfolgreicher Bewältigung - als den "Himalaya der Postmoderne". FAZ-Kritiker Richard Kämmerlings erkennt in dem Buch das Gegengift zum drohenden Tod der Kultur und des Subjekt. Ulrich Greiner wurde in der Zeit ganz kalt über so viel Leere, Ich-Verlust und Gottesferne. Eigentlich fühlte sich nur die NZZ durch den sprachlichen Reichtum für alle Strapazen entschädigt. Alle Kritiker preisen Übersetzer Ulrich Blumenbach für seine Leistung, die es dem deutschen Leser so leicht wie nur möglich mache.

Ihre helle Freude hatten Kritikerinnen und Kritiker mit diesem anarchistischen Schatzsucherroman des Frankokanadiers Nicolas Dickner. "Nikolski" () worum es genau geht, ist nicht so leicht festzumachen, denn wie alle versichern, spinnt Dickner in seiner Geschichte um drei seelenverwandte Outlaws auf Sinn- und Identitätssuche jede Menge Seemansgarn. Die FR ist von diesen schrulligen Figuren ebenso hingerissen wie von dem "leicht irren" Plot. Die taz ist von der überbordenden Themenfülle begeistert, die genealogisch, anthropologisch und ethnologisch alles umfasst, was von der Aleuten-Insel Nikolski bis nach Ontario reicht. Und die SZ lobt schließlich noch das hierbei ebenfalls gezeichnete Porträt der ganz eigenen Stadt Montreal. Hier eine

Und wo wir schon bei irre sind: John Wray erzählt in seinem Roman "Retter der Welt" () von einem "Tag der Freiheit" im Leben des paranoid-schizophrenen William Heller, der seine Medikamente nicht genommen hat. Er entwischt aus der Klinik und rast mit der U-Bahn durch New York. Dabei hat er eine Mission: Die Rettung der Welt! Ihm hinterher rasen seine Mutter und ein Privatdetektiv. Die FAZ ist hin- und mitgerissen von der Wucht, der Spannung und der surrealen Komik dieses Romans. Die NZZ staunt über sich selbst, wie tief ihr das Schicksal dieses "irrlichternden Geistes" unter die Haut gegangen ist. Ok, das dritte Buch ist nur einmal besprochen worden, dies aber von unserem Filmkritiker Ekkehard Knörer, der geradezu schockierend enthusiastisch wurde. Paul Beattys Held in "Slumberland" ist ein New Yorker DJ, der kurz vor dem Mauerfall auf der Suche nach einer verschollenen Jazzlegende in Berlin landet. "Der Rest ist ein literarisches DJ-Set, das die Ordnung der Welt mit extremer sprachlicher Virtuosität und umwerfendem Witz zu Klang püriert." Konkret heißt das: "schwarze Männer und weiße Frauen, außerdem der perfekte Beat und Vokuhila-Frisuren". Großes Lob geht an Robin Detje, der hier ein "Übersetzungswunder" vollbracht habe.


Osteuropa

Es gibt einige interessante Neuerscheinungen aus der Ukraine. Dazu gehört Tymojiy Havrylivs Roman "Wo ist dein Haus, Odysseus?" () über einen jungen Mann, der Europa durchstreift. Es gibt keine stringente Handlung, so Uwe Stolzmann in der NZZ, sondern sehr poetische, allerdings häufig auch sehr hermetische Bilder und scharfzüngige Kritik am "geistig-moralischen Ausverkauf" der Ukraine. Ein leichtes Lesevergnügen sei das nicht, warnt Stolzmann, der für seine Mühe aber mit erhellenden Einsichten in das neue Europa belohnt wurde.

Der ebenso wie Tymojiy Havryliv in der westukrainischen Stadt Iwano-Frankiwsk geborene Autor Taras Prochasko hält in seinem Band "Daraus lassen sich ein paar Erzählungen machen" Rückblick auf seine Jugendzeit und Anekdoten seiner Familien, "in denen zugleich die Geschichte einer Region mitklingt - Galizien, die heutige Westukraine, ehemals Provinz des habsburgischen Riesenreichs, später unter Herrschaft der Sowjetunion. Im Unterschied zum westlichen Trend schreibt Prochasko keine Chronik, keinen Familienroman. Ihn interessiert, wie die Erinnerung funktioniert", erklärt Insa Wilke auf Zeit online. Sie bewundert vor allem den "lapidaren, selbstironischen Ton" Prochaskos. Auch Ilma Rakusa (die mit "Mehr Meer",übrigens selbst ein hochgelobtes Erinnerungsbuch über ihre Kindheit in Budapest, Ljubljana, Triest und Zürich vorgelegt hat) war in der NZZ voll des Lobes. Rakusa hat in der NZZ auch zwei Erzählbände des 1978 in der Ostukraine geborenen Autors Serhij Zhadan vorgestellt: "Hymne der demokratischen Jugend" und "Die Selbstmordrate bei Clowns" die beide vom wahnwitzigen ukrainischen Alltag erzählen. Zhadan ist "die kühnste Stimme der jungen ukrainischen Literaturszene", ruft Rakusa den Lesern ermunternd zu.

Das Verspoem "Zwölf Stationen" des 1970 geborenen polnischen Dichters Tomasz Rozycki wurde zwar bisher nur einmal besprochen, das aber enthusiastisch. Sabine Peter folgt dem Autor und seinen Figuren in der FAZ vom oberschlesischen Opole ins heute ukrainische Lemberg, ins Land der Legenden und der Vertreibung, in ein Gemisch der Kulturen, dem Rozycki seine eigene poetische Ordnung verleihe. Für Peter ist das Heimatliteratur erster Güte. Der rumänische Autor Mircea Cartarescu kann in den Augen deutscher Kritiker nichts falsch machen. In dem Erzählband "Nostalgia" erzählt er von (s)einer Jugend im rumänischen Plattenbau hier). In der FAZ nennt Wolfgang Schneider ihn einen "psychedelischen Proust". In der taz bewundert Ekkehard Knörer Cartarescus Fähigkeit, die Realität des Alltags ins Phantastische zu überführen. In der SZ bewundert ein atemloser Hans-Peter Kunisch die "sinnliche Dichte" dieser Erzählungen.

Sigitas Parulskis "Drei Sekunden Himmel" ist ein wunderbar rotziger Roman über einen vierzigjährigen saufenden Litauer, der ein abgebrochenes Studium, eine unglückliche Liebe und zahlreiche Affären hinter sich hat. Das Trauma seines Lebens war der Wehrdienst als Fallschirmspringer in der russischen Armee, den er in Cottbus absolviert hat. Parulski zeichnet hier "das bemerkenswerte Porträt eines wohl nicht ganz selten anzutreffenden Einzelgängers, verfasst in einer fesselnden Sprache, derb und voller Schnoddrigkeit", lobt Martin Sander im Deutschlandradio. Die Zeit bekannte im Interview mit dem Autor, dass bei ihr nach der Lektüre eine "melancholische Allegorisierung der Umwelt" einsetzte. Hier eineGut besprochen wurden auch zwei Romane über Tschetschenien: Arkadi Babtschenko erzählt in "Ein guter Ort zum Sterben" aus der Perspektive eines russischen Soldaten. German Sadulajew, 1973 als Sohn einer Russin und eines Tschetschenen in Tschetschenien geboren, sucht in "Ich bin Tschetschene" "eine Art poetischen Ausweg aus einer schmerzenden Erinnerung an den Krieg", erklärt Vladimir Balzer im Deutschlandradio. Das erklärt sich vielleicht mit einem Satz aus dem Roman, den die Presse zitiert hat: "Ich habe immer Schwierigkeiten mit einer durchgehenden Handlung, besonders jetzt, wo ich von innen heraus detoniere und mein Schmerz in alle Richtungen auseinandersprengt." Hier eine


Westeuropa

Westeuropa schwächelt diese Saison ein bisschen. "Achteinhalb Millionen" der Debütroman des britischen Autors Tom McCarthy, gehört aber gewiss zu den interessantesten Romanen in diesem Herbst. Er erzählt von einem Mann, dem etwas auf den Kopf fällt. Als er mehrere Monate später aus dem Koma wieder aufwacht, hat er kein Gefühl mehr für die Wirklichkeit, aber 8,5 Millionen Pfund Schadenersatz. Er engagiert ein Heer von Schauspielern, die ihm eine Ersatzwirklichkeit vorspielen. Die Rezensenten fanden den Roman beängstigend, aber auch sehr witzig. Und klug, denn McCarthy liebt das "Querfeldeindenken" der französischen Strukturalisten, meint die Zeit. Die FAZ findet ihn "fesselnd, aberwitzig und philosophisch durchdacht", wobei der theoretische Hintergrund gewissermaßen schwerelos eingebaut sei. SZ und taz hatten ebenfalls ihre Freude beim Lesen.

Mit Interesse haben die Rezensenten Leon de Winters "Das Recht auf Rückkehr" gelesen, eine düstere Zukunftsvision Israels, das im 21 Jahrhundert auf die Fläche von Groß-Tel-Aviv schrumpft. Die taz fand das recht spannend, roch aber auch "westliche Kulturkampfprosa". Die FAZ fand den Roman literarisch nicht sehr gelungen, bescheinigt ihm jedoch ein "starkes Finale". Hingewiesen sei außerdem noch auf Emmanuelle Paganos Roman "Die Haarschublade" über eine hoffnungslos verliebte junge Frau mit zwei Kindern, die aus sehr einfachen Verhältnissen kommt. Die NZZ verfolgte Momente aus einem "deklassierten Leben", die die französische Autorin ohne Sentimentalität, in einem "stilistisch reinen" Ton beschreibe. Die Zeit war von Paganos Kühle etwas befremdet, lobt jedoch ihre Fähigkeit, "mit ein paar Sätzen eine Stimmung entstehen zu lassen".


Naher Osten


Mahmud Doulatabadis "Der Colonel" () ist der Roman der Stunde. Nur die NZZ war kosmopolitisch genug, um ihn vor den Unruhen im Iran der Besprechung für würdig zu befinden. Die anderen folgten flugs nach dem 12. Juni. Mahmud Doulatabi, der aus kleinsten Verhältnissen kommt und bereits unter dem Schah in Bedrängnis geriet, gehört zu den großen iranischen Romanciers der Gegenwart. Sein Roman "Kelidar", so meldet der Klappentext des Zürcher Unionsverlags hoch beeindruckt, hat sich trotz 3.000 Seiten 100.000 Mal im Iran verkauft. "Der Colonel" reflektiert die iranische Revolution als tragisches Geschehen, in das sich die Kinder der Titelfigur zuerst begeistert hineinstürzen um am Ende vernichtet zu werden. Die Rezensenten waren außerordentlich beeindruckt. Das Buch entfaltet ein "Panorama iranischer Seelenqual", so die NZZ. Erschütternd, verstörend, düster, radikal - mit diesen Adjektiven beschrieben FAZ, SZ, Zeit und taz die Lektüre. Nur die FR fand das Buch literarisch reizlos. Hier eine

Auch wenn man nicht weiß, dass der israelische Autor David Grossman den Roman verfasste, während sein Sohn als Soldat im zweiten Libanonkrieg kämpfte, in dem er schließlich umkam, kann man sich der "schmerzlichen Intensität" der Lektüre nicht entziehen, betont Sigrid Löffler in der FR. Grossman erzählt in "Eine Frau flieht vor einer Nachricht" von einer Frau, die sich den drohenden Tod ihres in der Armee dienenden Sohnes durch Sprechen und Erzählen und Nichtdasein wenn die gefürchtete Nachricht kommt vom Leibe halten will. Die tief beindruckte taz spürte, wie dieser eigene Schmerz den "Resonanzboden der Worte und Geschichten" verändert hat. Grossman gelingt es, die Unsicherheit menschlicher Existenz ohne "Pathos" oder "Sentimentalität" sprachlich darzustellen, lobt die SZ. Für die NZZ ist es ein "großer Antikriegsroman". Verwiesen sei auch auf Carolin Emckes Grossman-Porträt in der Zeit: "So schreibt er nicht allein um sein Überleben, sondern um unseres."

Amir Hassan Cheheltans Roman "Teheran Revolutionsstraße" ist nach Ansicht von Verena Lueken (FAZ) ein Buch, das einem "die Luft abschnürt". Cheheltan zeichnet ein Sittenbild der iranischen Gesellschaft, das die iranische Zensur auf den Plan rief. Es geht um einen "Hymenoplastiker", Geheimdienstagenten und ein junges Liebespaar, das vergeblich versucht, sich gegen den alltäglichen iranischen Irrsinn zu behaupten. Stefan Weidner, der den Roman ebenfalls in der FAZ besprochen hat, geht noch einen Schritt weiter: Nicht nur verstehe man hier, was gegenwärtig im Iran geschieht, Wer wirklich verstehen will, was gegenwärtig im Iran passiert, er hat hier auch "große Literatur", ja "Weltliteratur" gelesen.


Wiederentdeckt

Wenn sich auch Norwegen und der Rest der Welt noch immer schwer tun, den Hitler-Verehrer Knut Hamsun zu verehren, Wolfgang Schneider, der "Hunger" zusammen mit dem ebenfalls neu übersetzten Roman "Pan" bespricht, zeigt sich in der FAZ vorbehaltlos begeistert: Für ihn ist dieser 1890 erschienene Roman ein "Pionierwerk der literarischen Moderne", auch heute noch eine "grandiose Leseerfahrung" und eine "schwarze Komödie der Scham". Es geht um einen jungen Mann, der Anerkennung als Journalist und Schriftsteller sucht. Er ist so bitter arm, dass er buchstäblich Hunger leidet. Wie das beschrieben wird, die geradezu irrwitzig anmutenden Strategien, mit denen er sein Elend vor sich und der Welt zu verbergen sucht, das beschert dem Leser heute noch eine "grandiose Leseerfahrung", so Schneider. Großes Lob auch für die "makellose" Neuübersetzung von Siegfried Weibel.

Ungarn ist ein stetiger Quell literarischer Entdeckungen. Szilard Rubins "Kurze Geschichte von der ewigen Liebe" hat die Rezensenten schlicht umgeworfen. Die FR mag kaum glauben, glauben, dass dieser "poetische und illusionslose" Roman mehr als 40 Jahre unbemerkt blieb. Auch die FAZ nimmt den späten Erfolg fassungslos zur Kenntnis, denn für sie gehört dieser Roman schlichtweg zu den "aufregendsten Liebesromanen des zwanzigsten Jahrhunderts". Rubin erzählt die Geschichte einer amour fou im stalinistischen Ungarn der 40er und 50er Jahre, und zwar laut FAZ "erschütternd schön und mühelos vollkommen". Laszlo F. Földenyi hält den Roman nicht nur für eines der bedeutendsten Werke der ungarischen, sondern der europäischen Literatur des 20. Jahrhunderts überhaupt, wie er in der NZZ schreibt. Sehr empfohlen wird auch Geza Ottliks 1959 erstmals veröffentlichter Roman "Die Schule an der Grenze" Zwei sehr unterschiedliche Erzähler rekapitulieren die Ereignisse um sieben Schüler einer Kadettenschule 1923. Für die NZZ fliegt hier "nicht nur der Kommunismus, sondern jeder Glaube an eine humane Ordnung in die Luft". Die FAZ verstand sofort, warum dieses Buch so wichtig für Peter Nadas, Peter Esterhazy und Miklos Meszöly war.


Lyrik

Das poetische Ereignis der Saison ist sicherlich Jürgen Brocans Übersetzung von Walt Whitmans "Grasblätter" Unbegreiflich, dass diese Leistung erst einmal gewürdigt wurde. In der FAZ ist Mirco Bonne einfach hingerissen - von der Übersetzung, dem profunden Anmerkungsapparat und natürlich von den Gedichten selbst, mit denen Whitman Mitte des 19. Jahrhunderts Amerika gewissermaßen erst schuf: "Denn Amerika ist noch nicht da, es wird in dieser, aus dieser Sprache geschaffen, erwächst aus den neuen schlanken ekstatischen Versen mit ihrem enthusiastischen Überschuss", schreibt Bonne.

Die weißrussische Dichterin Valzhyna Mort ("Tränenfabrik",gehört zu den aufsteigenden Sternen des östlichen Literaturhimmels, und auch die deutschen Kritiker besingen sie mittlerweile hymnisch. In der Zeit bescheinigt Insa Wilke der jungen, 1981 in Minsk geborenen Mort nicht nur Weltliteraturformat, sondern auch einen souveränen Umgang mit erotischen Motiven und manchmal gar die "Kraft eines Walt Whitman". In der SZ gefällt Helmut Böttiger besonders die Musikalität der Gedichte ("Schrammelmusik mit Punk- und Kalinka-Elementen"). Er hört eher Anklänge an die junge Ingeborg Bachmann, allerdings sei Morts Art brut wesentlich schroffer. Hingewiesen sei auch noch auf Otto Tolnais Gedichtband "Göttlicher Gestank" und Caius Dobrescus Band mit dem schönen Titel "Ode an die freie Unternehmung"


Hörbuch

Diese Hörbuch-Fassung von Baudelaires Großgedicht "Les Fleurs du Mal" hat unter den Kritikern bisher nur Wolfgang Schneider begeistert, dies aber nachhaltig. Hier stimmt einfach alles, schreibt er in der FAZ: Baudelaires ungeschminktes Paris, Wolfgang Kemps Prosa-Übersetzung und Christian Brückners Lesung, die dem ganzen erst den rechten Hohen Ton verleiht. Eine eindeutige Hörempfehlung.

Literaturnobelpreisträgerin Herta Müller spricht in "Die Nacht ist aus Tinte gemacht" über ihre Kindheit im rumänischen Banat. Das Interview-Hörbuch des Suppose-Verlags gibt dabei Einblick in eine rumänische Nachkriegszeit, die für Herta Müller eine Zeit der Gewalt und einer heftigen Auseinandersetzung mit Sprache ist. Besonders die Stimme Herta Müllers hat die Rezensenten beeindruckt, die hier eine Spiegelung ihres Werks und ihrer Persönlichkeit hören. Wilhelm Trapp in der Zeit etwa bemerkt das "Monument der Fremdheit" in Müllers Stimme, das sie selbst mehrmals in ihren Büchern beschrieben habe. In der FAZ lobt Felicitas von Lovenberg die Eindrücklichkeit von Müllers Beschreibungen, die nicht nur die Persönlichkeit der Schriftstellerin vermittelten, sondern gleichsam der "Persönlichkeit ihrer Sprache". Einen sehr guten Eindruck von Müllers Sprechen bekommt man bei Lyrikline. In der SZ empfiehlt Alexander Kissler das Hörbuch zu Knut Hamsuns Roman "Hunger" (): stark gekürzt zwar, aber mit dem wunderbaren Oskar Werner als Sprecher. (Hier eine Hörprobe beim Verlag, mehr von Oskar Werner bei youtube)

Empfohlen werden außerdem zwei Monster-Hörbücher: Auf 54 CDs liest Ulrich Noethen mit "angenehm maskulinem Timbre" (FAZ) ungekürzt Leo Tolstois "Krieg und Frieden" Und Felix von Manteuffel hat sich auf 118 CDs den ganzen "Harry Potter" vorgenommen - für Erwachsene vielleicht besser geeignet als die Lesung von Rufus Beck, meint die FAZ.


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