Efeu - Die Kulturrundschau

Um die Ecke nach rechts

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02.03.2016. Die Welt beklagt nach dem Kölner Eklat um ein Steve-Reich-Konzert die Verlotterung der Sitten im Konzertsaal. Die NZZ macht dort überhaupt ein reaktionäres Klima aus. Die FAZ lauscht lieber Len Lyes leisen Stahlgesängen in Neuseeland. Der Freitag wirft dem Theaterbetrieb vor, aus Fatalismus und Kalkül Scharen arbeitsloser Schauspieler zu produzieren. Die taz besichtigt in Hamburg die Ruinen der Hippie-Ära.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 02.03.2016 finden Sie hier

Musik

In der Kölner Philharmonie wurde am Sonntag der iranische Cembalist Mahan Esfahani während eines offenbar etwas irritierenden Steve-Reich-Konzertes rüde niedergeklatscht. Als er zu begütigenden Worten anhob, schallte ihm ein "Reden Sie deutsch!" entgegen. Manuel Brug sieht in der Welt darin weniger Ausländerfeindlichkeit als ein besonders krasses Beispiel verlotterter deutscher Sitten im Konzertsaal: "Immer mehr Besucher nehmen keinerlei Rücksicht mehr auf die Künstler und die anderen im Saal. Da fallen Wasserflaschen um, Telefone klingen und piepen, Mails werden geprüft, man spricht ungeniert mit dem Partner - so wie zu Hause bei Kommentaren vor dem Fernseher."

Hier Esfahani mit Reich. Uns gefällt's!



Einen wohltuenden Akzent gegen das "reaktionäre Klima" in der Klassischen Musik sieht NZZ-Kritiker Marco Frei in der Räsonanz-Initiative, die Neue Musik und vor allem groß besetzte, also kostspielige Orchesterwerke fördern will. Den Auftakt machte unter anderem das vor der Abwicklung stehende SWR-Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg mit Werken von Ligeti, Boulez und Georg Friedrich Haas. Dazu meint Frei: "Wie die Musiker dieses todgeweihten Ensembles die Partituren ergründeten, mit noch immer ungebrochener Passion und hehrem Anspruch, das war ein bewegendes Ereignis. Kein Orchester der Welt wird diese Lücke füllen können: eine Kultur-Schande für Deutschland."

Weiteres: Der einflussreiche Chorleiter Winfried Maczewski (ehemals Oper Amsterdam und Oper Paris) und seine Frau Sophie haben sich gemeinsam das Leben genommen, meldet Norman Lebrecht im Musikblog Slipped Disc.

Das neue Album "99c" von Santigold steht schwer unter dem Einfluss der Rap-Ikone Missy Elliott, meint Daniel Gerhardt von ZeitOnline. Er macht das vor allem daran fest, dass es sich bei beiden um "Verpackungskünstlerinnen" handele. Vor diesem Hintergrund deutet er den "hirntoten" Plastikpop auf Santigolds neuem Album als "gewagtes Experiment": Sie "erklärt sich zum Produkt, zur Verpackung ohne Inhalt. Diese Behauptung ist jedoch selbst eine Mogelpackung: Tatsächlich steht '99c' im Zeichen einer Kritik an Konsumübermaß und Kunstverramschung, die vor dem Hintergrund seiner blutleeren Songs umso ätzender wirkt." Hier eine Hörprobe:



Weiteres: Für die SZ unterhält sich Jonathan Fischer mit dem Rapper Anderson Paak.

Besprochen werden das Album "Void Beats/Invocation Trex" von Cavern of Anti-Matter (taz), das erste Album der Violent Femmes seit 15 Jahren (FR) und eine Ausstellung der Jazzplakate von Niklaus Troxler im Bröhan-Museum in Berlin (taz).
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Kunst

Raymond Pettibon, No Title (My first ride), 1983

Ein sichtlich Punk-affines Publikum beobachtet taz-Kritiker Alexander Diehl beim Besuch der Hamburger Deichtorhallen, die dem kalifornischen Künstler Raymond Pettibon die Schau "Homo Americanus" widmen. "Pettibons Humor ist ein grimmiger", stellt Diehl fest. "Anstatt aber direkt von der eigenen Szene zu sprechen, setzte er bis weit in die 80er Jahre hinein eine andere, dem Punk ambivalent entgegenstehende ins getuschte Bild: die Age-of-Aquarius-Fantasien der 60er, gesehen in dem Wissen um das, was kam. Die Ruinen der Hippie-Ära nach dem blutigen Altamont-Festival und den Morden des Charles Manson, drogenverhangen und gewalttätig. Albtraumhaft sind aber auch viele seiner sonstigen Bezüge: Werbe-Chic und die extremen Licht-Schatten-Anordnungen des Noir-Films, Comic-Versatzstücke und zunehmend auch richtige Weltliteratur, in Halbsätze fragmentiert. So zerlegt er und setzt neu zusammen, was ihn umgibt." Eine weitere Besprechung bringt die SZ. (Bild: Raymond Pettibon: Plattencover Black Flag "Slip It In", 1984. Foto: Egbert Haneke)

In der Welt schwärmt Annegret Erhard von der Schau "Bentu" in der Pariser Fondation Louis Vuitton, in der sich chinesische Gegenwartskünstler offenbar sehr selbstbewusst und kunstmarktkompatibel präsentieren: "Wie erfrischend ihr Blick auf die heutige, ihre Welt ist, wie sorglos und losgelöst von eilfertigem Schielen auf westliche Werte respektive Anerkennung, zeigt sich in ihrer höchst selbstbewussten, absolut nicht unreflektierten, gar trotzigen oder wehmütigen Einordnung der Zeitläufte." (Bild: Xu Zhen: New, Fondation Louis Vuitton)

Einen "ideologisch-stilistischen Crash" erster Güte erlebte Anne Katrin Fessler im Standard in der Wiener Schau "Chagall bis Malewitsch": "Die Albertina präsentiert die kurze Epoche der russischen Avantgarden, um diese künstlerische Vorhut dann an den rückwärtsgewandten Stil des Sozialistischen Realismus krachen zu lassen wie den Karren an die Wand."

Weiteres: Auf Slate.fr porträtiert Anne de Coninck Ai Weiwei, dessen Schau chinesischer Flugdrachen im Pariser Bon Marché gerade zu Ende geht. Das Cabaret Voltaire in Zürich, von dem einst Dada ausging, ist in Finanznot, berichtet Christopher Schmidt in der SZ.

Besprochen werden Leiko Ikemuras Ausstellung im Haus am Waldsee in Berlin (Tagesspiegel), die Ausstellung "Familie auf der Flucht: Ein Bildmotiv in der Druckgraphik von Claude Lorrain bis Giandomenico Tiepolo" in der Gemäldegalerie des Kulturforums in Berlin (Tagesspiegel) und die Ausstellung "Der Tastsinn der Kunst" im Museum Tinguely in Basel (FAZ).
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Literatur

Besprochen werden Kamel Daouds "Der Fall Meursault - eine Gegendarstellung" (FR, ZeitOnline, unsere Leseprobe hier), Alexander Ilitschewskis "Der Perser" (FAZ, mehr hier) und Lydie Salvayres "Weine nicht" (SZ). Mehr Literatur im Netz in unserem Metablog Lit21.
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Stichwörter: Daoud, Kamel

Architektur


Reuben Pattersons Len Lye Center in New Plymouth, Neuseeland

Staunend kehrt FAZler Andreas Platthaus aus dem neuseeländischen New Plymouth zurück, wo er das von Reuben Patterson konzipierte Len Lye Centre besucht hat: eine "Architektursensation" laut Platthaus, die zudem einen der schönsten Räume der Welt beherberge, in dem gerade die magischen Fontänen des Künstlers Len Lye zu sehen sind: "Am Ende des Entrées ziehen sich die gestürzten Betonwellen um die Ecke nach rechts, und man wird von ihnen und den Klängen förmlich mitgeschwemmt in diesen Raum, in dem vier unterschiedlich hohe Stahlrutenbündel in buntes Licht getaucht sind - ein Meter hoch das kleinste, sieben Meter hoch das größte." Zum Stahlgesang der schwingenden Ruten erklingt Pierre Boulez' "Le Marteau sans Maître".

Das von Hannes Meyer entworfene Gebäude der ehemaligen Bundesschule des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes in Bernau wird im Sommer für das Unesco-Welterbe nominiert, berichtet Rolf Lautenschläger in der taz: "Der geometrische Komplex - eine Abfolge gestaffelter Bauten - gehört zu den eindrucksvollsten Architekturen, die im Stil sowie im Geist des Bauhauses einmal errichtet worden sind."
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Bühne

Martin Eich liest im Freitag dem Betrieb die Leviten: Einerseits werfen die Schauspielschulen ganze Heere künftig händeringend nach Arbeit suchender Absolventen auf den Markt, andererseits erwarte man Profil und Mut zum Anecken von den jungen Schauspielern, die sich das in dieser prekären Situation aber überhaupt nicht leisten können. "So zementiert ein Dreiklang aus Fatalismus und Kalkül, ein Gemenge aus unterschiedlichen Interessen den Status quo: Staatliche Schauspielschulen fürchten um Apparate und Etats, bilden deshalb über Bedarf aus; Politiker sind dem Statistik-Tuning verfallen und wollen gemäß OECD-Ideal mehr Absolventen - gerne auch von privaten Instituten, die den großen Profit wittern und anstandslos anerkannt werden; Intendanten freuen sich über den stetig wachsenden Konkurrenzdruck, der das eigene Ensemble schikaniert. Während jeder darauf bedacht ist, nicht am eigenen Ast zu sägen, verfault der morsche Stamm zusehends."

Besprochen werden Elmar Goerdens in Mannheim aufgeführte Text-Runderneuerung von "Hamlet" (SZ), ein "Rigoletto" in Darmstadt (FR), eine konzertante Aufführung von Bellinis "I Capuleti e i Montecchi" an der Deutschen Oper mit Joyce DiDonato (Tagesspiegel) und Tilman Knabes Inszenierung von Sergej Prokofjews Oper "Der Spieler" in Mannheim ("morbide Trostlosigkeit kann auch unterhaltsam sein", stellt Malte Hemmerich in der FAZ selbst)
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Film

Schwon wieder Nazis im Louvre: in Alexander Sokurows "Francofonia"

Unter Großkunst und raunender Geschichte macht es Alexander Sokurow nicht. Seinen neuen Film "Francofonia" hat er denn auch tatsächlich über weite Strecken im Louvre gedreht, durch dessen Flure er Napoleon und die Nazis stapfen lässt, erfährt man von David Steinitz in der SZ. Der Kritiker war sehr beeindruckt von dem Werk: "Durch die Geister und die Spielfilmhandlung, die alten Archivbilder und die aktuellen Dokumentarfilmaufnahmen verschwimmen in 'Francofonia' die Grenzen zwischen Vergangenheit und Gegenwart, formal und inhaltlich zugleich. Sie werden zu einem neuen zeitlichen Flickenteppich zusammengesetzt, der Geschichtsschreibungsprozesse genauso reflektiert wie die merkwürdige Dialektik von manischer Konservierungslust und natürlichem Verfall, die in der Institution Museum zwangsläufig aufeinandertreffen."

Weiteres: Hanns Georg Rodek erklärt in der Welt die Abstimmungsmodalitäten bei der Oscar-Verleihung. In der taz empfiehlt Fabian Tietke die im Berliner Kino Arsenal gezeigte Retrospektive des philippinischen Regisseurs Kidlat Tahimik. Christian Schröder (Tagesspiegel) und Edo Reents (FAZ) schreiben zum Tod des Schauspielers George Kennedy.

Besprochen werden Hans Steinbichlers Neuverfilmung des "Tagebuchs der Anne Frank" (FR, taz, FAZ), der bei der Oscar-Verleihung zum "besten Film des Jahres" erklärte "Spotlight" (Freitag) und der neue Disney-Animationsfilm "Zoomania" (ZeitOnline).
Archiv: Film