Efeu - Die Kulturrundschau

Die Performativität eines Eis

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16.01.2019. Hyperallergic feiert die melancholische Absurdität in den Skulpturen von András Böröcz. Die SZ gibt sich dem Totalen Tanztheater hin. Die NZZ bewundert die überflüssig-notwendige Schönheit der Häuser in Hollywood. Die Welt berichtet, dass Jonas Kaufmann nicht mehr in der Elbphilharmonie singen will, weil ihm die Akustik zu schlecht ist. In der FAS warnt Michael Moore davor, Donald Trump nicht ernst zu nehmen. Sein neuer Film "Fahrenheit 11/9" kommt bei den Kritikern dennoch nur mäßig an.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 16.01.2019 finden Sie hier

Architektur

Mit Kantine und Hubschrauberlandeplatz: Erweiterung des Bundeskanzleramt im Spreebogen. Bild: Schultes Frank Architekten

Das Kanzleramt ist zu klein geworden, berichtet Jens Bisky in der SZ, bei den vielen Freiflächen gibt es zu wenig Platz für Mitarbeiterbüros. Die Architekten Charlotte Frank und Axel Schultes planen jetzt auf der anderen Seite der Spree einen Erweiterungsbau für mehrere hundert Mitarbeiter, inklusive Kantine und Hubschrauberlandeplatz. "Der Erweiterungsbau verzichtet auf Extravaganzen, nüchtern und funktional soll er nach dem Willen der Architekten werden", weiß Bisky und zuckt die Schultern: "Das größte Ärgernis im Regierungsviertel am Spreebogen würde durch den Erweiterungsbau ohnehin nicht behoben: die Ödnis zwischen Kanzleramt und Paul-Löbe-Haus. Dort wehen Winde, fahren Autos, trauern Bäume, irren Touristen, verendet kläglich die Symbolik des Ost-West-'Brückenschlags'." Ganz zu schweigen von den Billig-Bauten der Investoren um den Hauptbahnhof herum.

Sarah Pines besichtigt für die NZZ die Häuser Hollywoods, die alle ihre eigene Geschichte, ihre Geschwindigkeit und ihre Intensität haben. Zum Beispiel das Sheats-Goldstein-House: "Manche Häuser sind für Pornos gemacht und für Frauen, die mittags schon Paillettenkleider tragen und in ihrer Schönheit genauso überflüssig-notwendig sind wie byzantinische Ikonen. Das Sheats-Goldstein-House in den Hügeln von Los Angeles, von John Lautner entworfen und später Drehort für den Film 'The Big Lebowski', ist so ein Ort."

Weiteres: Noemi Smolik besucht für die FAZ das private Muzeum Susch, für das die polnische Sammlerin Grazyna Kulczyk ein Kloster im Unterengadin umbauen ließ. Der Architekt Jörn Köpller ruft ebenfalls in der FAZ seine Kollegen dazu auf, wieder Schönheit und Wahrheit zu suchen, statt Konformismus und Anpassung.
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Kunst

Andras Böröcz: Pencil Birds, 1997

Ausgerechnet die politisch heftig umstrittene Budapester Kunsthalle zeigt eine große Ausstellung des ungarischen Künstlers András Böröcz, seufzt Kata Balazs in Hyperallergic. Aber diese Wunderkammer des Avantgardisten muss sie einfach großartig finden: "Die Schau zeugt den Künstler als Alchemisten in seinem Labor, denn Böröcz zielt auf die gründliche Erkundung aller Gegenstände und Motive in dem ihm umgebenden Universum. Der Titel der Ausstellung, 'Non-objective Objects', legt das ebenfalls nahe. Böröcz untersucht systematische alle Aspekte seiner Materialien, die Möglichkeiten ihres Gebrauchs, die Performativität eines Eis, von Brot und Matze, eines Bleistifts, eines Schuhs, eines Toilettenstopfers, und verkehrt ihre Bestimmung und offenbart so die Absurdität des Alltags, voller Mitgefühl und Melancholie."

Im Standard-Interview mit Colette Schmidt lässt der Maler Gustav Zankl die Geschichte der Grazer Künstlervereinigung Forum Stadtpark Revue passieren, die 1959 im leerstehenden Café Erzherzog Johann gegründet wurde: "Damals ging es grundsätzlich ums Überleben in einer Nazistadt. Und es war die am zweitstärksten zerstörte Stadt Österreichs nach dem Krieg. Wir sind in Mänteln im Hörsaal gesessen, es gab nichts zum Heizen. Es ist nicht alles vergleichbar. Was heute aber ähnlich ist: der Widerstand der Nationalen und Korporierten. Für die waren wir immer schon links außen."

Besprochen werden die Schau "Local Histories" im Hamburger Bahnhof (Tagesspiegel), eine Ausstellung der Künstlerin Birgit Jürgenssen in der Kunsthalle Tübingen (FAZ), eine Ausstellung zu queeren Figuren im Videospiel "Rainbow Arcade" im Schwulen Museum in Berlin (SZ).
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Film

Caption


Mit seinem neuen Film "Fahrenheit 11/9" zielt Dokumentarfilmer Michael Moore vor allem aufs "demokratische Establishment", erklärt Philipp Bühler in der Berliner Zeitung: "Enttäuscht von Obamas Regierung, blieben die Menschen den Wahlen fern. Das passiert, folgert Moore durchaus schlüssig, wenn man den Leuten über Jahre nicht zuhört und ihre Belange missachtet." Im großen FAS-Interview kritisiert Moore vor allem den Umgang der Medien mit Trump, die jedem seiner Tweets hinterherrennen und ihn als Witzfigur hinstellen: Ein großer Fehler, meint Moore. "Ich mache gar keine Witze über ihn. Sondern nehme ihn sehr ernst. Sollte die New York Times einen Skandal enthüllen, der von einem Insider aus dem Weißen Haus kommt, dann wäre ich ziemlich sicher, dass Trump selbst dieser Insider ist. Er würde alles tun, um im Rampenlicht der etablierten Medien zu stehen. ... Die Amerikaner sollen nicht merken, wie ernst die Lage ist. Daher freut er sich, wenn er als Clown dargestellt wird."

Zu undifferenziert, zu zugespitzt, mitunter haarsträubend in seinen Analogien etwa zum "Dritten Reich" findet SZ-Kritikerin Susan Vahabzadeh den Film. Klären wolle Moore, wie es zur Präsidentschaft Trumps kommen konnte, warum drei Staaten, die traditionell eher demokratisch stimmten (darunter Moores Heimatstaat Michigan), auf einmal republikanisch votierten. Doch seine Analyse befriedigt Vahabzadeh nicht: "Viele der neuen Hoffnungsträger in der Opposition, die er zu Wort kommen lässt, wurden vor den Kongresswahlen in Talkshows herumgereicht, wo sie exakt dasselbe sagten. Und was nun die Unterhaltsamkeit des Mannes selbst betrifft: Seine Theatralik kann einem mit der Zeit einfach auf die Nerven gehen, seine Showeinlagen sind vorhersehbar geworden."

Weitere Artikel: NZZ-Kritiker Reto Stauffacher lässt sich von der interaktiven Folge "Bandersnatch" der Netflix-Serie "Black Mirror" fröhlich das Gehirn verknoten - auch wenn er sich eingestehen muss, dass die Geschichte der Episode eher schwach geraten ist. Christoph Schröder seziert auf ZeitOnline den Heimatbegriff der Neo-Heimatfilme "Immenhof" und "Verlorene", die diesen Monat ins Kino kommen. In der Presse empfiehlt Andrey Arnold eine Reihe mit Filmen von Federico Fellini und Ermanno Olmi im Österreichischen Filmmuseum in Wien. Für die SZ wirft Eva-Elisabeth Fischer einen Blick ins Programm der zehnten Jüdischen Filmtage in München.

Besprochen werden Gaya Jijis Debütfilm "Mein liebster Stoff" (Tagesspiegel), Sudabeh Mortezais "Joy" (Standard) und M. Night Shyamalans "Glass", mit dem er in einem Drehbuch-Coup seine beiden Filme "Unbreakable" (2000) und "Split" (2016) zur Trilogie vermählt, auch wenn FAZ-Kritiker Andreas Platthaus dabei leidend im Saal sitzt.
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Literatur

Besprochen werden unter anderem ein Band mit Gesprächen und Interviews mit Wolfgang Koeppen (Tagesspiegel), Otar Tschiladses "Der Korb" (NZZ), Andor Endre Gelléris Erzählband "Stromern" (SZ), eine dem Comiczeichner Jacques Tardi gewidmete Ausstellung im Cartoonmuseum in Basel (taz) und Christian Geisslers "kamalatta" (FAZ).

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Stichwörter: Koeppen, Wolfgang

Bühne

Das Totale Tanz Theater. Foto © Interactive Media Foundation


Absolut hingerissen ist Dorion Weickmann von dem Bühnenfestival, mit dem die Berliner Akademie der Künste das Bauhaus-Jubiläum startet. Die Choreografien von Richard Siegal rekonstruieren das Tanztheater von Oskar Schlemmer, in Virtueller Realität: "Mit einem Gerät von der Größe einer Fernbedienung kann man sich zwischen die Tänzer beamen - hautnah heran an die Avatare, bis sie in Pixelstaub zerfallen. 'Das Totale Tanztheater' ist eine hinreißende Illusionsmaschine - grandios als Erfahrung, als Kunstwerk, als Fortsetzung und Verlängerung der Bauhaus-Idee ins 21. Jahrhundert."

Besprochen werden Beat Furrers neue Oper "Violetter Schnee" an der Berliner Staatsoper (NZZ, NMZ), Becketts "Warten auf Godot" an der Frankfurter Schaubühne (SZ), die "Kulturrevolution" am Theater Chur (NZZ), Alexander Nerlichs Bühnenversion von Hans Falladas "Kleiner Mann - Was nun?" am Staatstheater Mainz (FR), ein Abend des Countertenor Bejun Mehta mit seiner "Cantata" in der Alten Oper Frankfurt (FR).
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Musik

Tenor Jonas Kaufmann will von Auftritten im Großen Saal der Hamburger Elbphilharmonie künftig absehen. Der Grund: Wer hinter den Sängern sitzt, hört den Gesang nicht, berichtet Manuel Brug in der Welt. "Die von Anfang an bezweifelte Akustik ist nach wie vor ein Problem. Vor allem bei den überbordenden Partituren der Spätromantik und frühen Moderne. Und ganz besonders, wenn Chor oder gar Solostimmen involviert sind. Die trompeten - Gesetz der Physik - nach vorn. Es sitzen aber gerade in diesem steil hochragenden Saal (...) zu viele Menschen hinter den Sängern. Menschen, die nicht darauf hingewiesen wurden und die auch nicht viel weniger gezahlt haben, als die Glücklichen auf den besseren Plätzen in der Front."

Weitere Artikel: NPR meldet, dass der als Internet-Mem wiedergeborene 80s-Klassiker "Africa" von Toto in einer Installation des namibisch-deutschen Künstlers Max Siedentopf künftig in einem Endlos-Loop die Wüste beschallen wird. Thomas Mauch freut sich in der taz aufs Berliner Ultraschall-Festival. In der "Remain in Light"-Kolumne des Standard erinnert Karl Fluch an Ry Cooders 1974 erschienenes "Paradise and Lunch".

Besprochen werden Deerhunters "Why Hasn't Everything Already Disappeared? " (The Quietus), ein Schönberg-Konzert von Isabelle Faust (SZ) und neue Popveröffentlichungen, darunter Joe Jacksons "Fool", auf dem SZ-Kritiker Max Fellmann "abgeklärten Elder-Statesmen-Pop" zu hören bekommt. Eine Hörprobe:

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