Efeu - Die Kulturrundschau
Der Krapfen posiert in rosa
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30.10.2021. Hyperallergic steht gebannt vor den tropfenden, überquellenden Donuts der Emily Eveleth. Die SZ erlebt phantastisches Theater beim Spielart-Festival. Fehler sind gut, auch in der Architektur, ruft in der NZZ der Architekturhistoriker Laurent Stadler unter Berufung auf Virilio. Die FAZ amüsiert sich mit alten DDR-Fernsehthrillern, die sich Frankfurt am Main als dekadentes Höllenloch phantasieren.
9punkt - Die Debattenrundschau
vom
30.10.2021
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Kunst

Weitere Artikel: In der SZ unterhält sich Stefanie Schwetz mit dem Künstler Claus Richter über dessen Denkmal "Ort für die Erinnerung und Akzeptanz von geschlechtlicher und sexueller Vielfalt" in Düsseldorf. Im Tagesspiegel schreibt Nicola Kuhn zur Eröffnung des Erweiterungsbaus, in dem das Kunsthaus Zürich die atemberaubende Sammlung des Waffenhändlers Emil Bührle ausstellt.
Besprochen werden zwei Berliner Ausstellungen der afroamerikanischen Künstlerin Renée Green in den Kunst-Werken und der n der DAAD-Galerie (Tsp), die Potsdamer Ausstellung "Drei von vielen" über eine Künstlerfreundschaft um den Maler Peter Herrmann im Cavallerie 26 (Tsp), eine Ausstellung des in Island lebenden Malers John Zurier in der Peter Blum Gallery in New York (Hyperallergic), Zeichnungen und Collagen von Agustín Fernández in der Mitchell Algus Gallery in New York (Hyperallergic) und zwei Ausstellungen von Ron Gorchov in der Vito Schnabel Gallery und in der Gallery Cheim & Read, beide in New York (Hyperallergic).
Architektur
Fehler in der Architektur sind gut, wie soll man sonst dazulernen, meint Laurent Stalder, Professor für Architekturgeschichte und -theorie an der ETH Zürich, in der NZZ. Das Prinzip des Versagens ist sogar "Teil des modernen Projektes und der damit einhergehenden technischen Erfindungen", schreibt er und bezieht sich dabei auf Paul Virilio: "Denn ein Schiff zu erfinden, bedeutet zugleich die Erfindung seines Untergangs, einen Zug zu erfinden, schließt die Erfindung des Eisenbahnunglücks mit ein, ein Auto zu erfinden, bedeutet die Erfindung des Auffahrunfalls. Analog könnte man behaupten, dass die Erfindung des Flachdachs mit Dachpappe auch die des Lecks ist, die Erfindung der Heizung auch die der Überhitzung, die Erfindung der Lüftung die des Durchzugs, die Erfindung der automatischen Drehtür die der Panne, die Erfindung des Hauses die der Unheimlichkeit. Für Virilio ist der Unfall somit auch immer Enthüllung. Denn erst der Unfall erlaubt es, das zu verstehen, was der Erfindung und in einem weiteren Sinne ihrem Erfolg zugrunde liegt. Aus dieser Perspektive ist der Unfall immer auch Erkenntnisgewinn."
Film

Im Standard spricht die Regisseurin Mia Hansen-Løve über ihren Film "Bergman Island", einen semi-autobiografischen Film, in dem ein Filmemacher-Paar ein Domizil in Ingmar Bergmans Haus auf Fårö findet. Eine Hommage auch an den schwedischen Auteur, dessen tiefgründelnde Ernsthaftigkeit Hansen-Løve, die auch mal ABBA auf die Tonspur hebt, sich allerdings nicht völlig zu eigen macht: "Ich glaube, dass es für Bergman kathartisch war, Filme über seine Dämonen, seine schrecklichsten Albträume zu machen. Er hätte nicht immer wieder die schlimmsten Seiten der Menschen erforscht, wenn es ihm keine Erleichterung verschafft hätte. Ich könnte nie nur den Tod, die Qualen, die Brutalität menschlicher Beziehungen zeigen. Die Filme, die ich mache, müssen mich zum Licht führen. Deshalb wähle ich Popmusik, Helligkeit, Humor, denn das kommt dem näher, was das Kino mir geben soll - eine Art zu leben. Das Kino hat mich mit 20 gerettet und soll mir jetzt helfen, besser zu leben."
Der Hype um die koreanische Netflix-Serie "Squid Game" lässt manche auf eine Renaissance des Goldenen Zeitalters der Fernsehserien hoffen - zumal es dann noch um Sozial- und Kapitalismuskritik geht. Die Splatter-Allegorie findet Philipp Böhm in der Jungle World allerdings eher plump: Am Ende stecken hinter dem Ganzen "vom Reichtum verwahrloste Kapitalistengestalten, süffisante Barbaren mit Tiermasken, die Zigarren rauchen", also "Karikaturen der Ausbeutung, und nicht einmal besonders interessante." Darin wird etwas zu einem Ende gebracht, "was bereits in den goldenen HBO-Serien angelegt war: das Ansprechen des 'kritischen' Fernsehkonsumenten, der gerne etwas Gesellschaftskritik zur Abendunterhaltung wünscht. Wurde bei Serien wie 'The Wire' oder 'Mad Men' den Zuschauern noch zugemutet, gedankliche Vermittlungsarbeit zu leisten, um herauszufinden, was nun der kritische Gehalt des in der letzten Stunde Gesehenen war, hängt Hwang Dong-hyuk bei 'Squid Game' einfach ein riesiges Sparschwein voller Geldscheine auf."

Großen Spaß hat Dietmar Dath unterdessen daran, für die FAZ alte DDR-Fernsehthriller zu sichten, die ihren Blick immer wieder gen Westen richten und hier vor allem auf Hessen. Vor allem Ingrid Sanders Agententhriller "Pygmalion 12" hinterlässt Eindruck: "Das Stärkste an der irren Sache ist die Vision von Frankfurt am Main, die sie bietet: ein dekadentes Höllenloch, in dem sich altansässige wie von auswärts hereingeschneite Ungeheuer in plüschverseuchten Kellerklubs von schmierigen Quizmastern Modeschauen ausrichten lassen, damit sie ihren Frauen allerlei Lack und Leder kaufen können, um diese in Villen, wo ständig neue, noch teurere Farbfernseher installiert werden, bei jeder Umarmung fast zu erwürgen. Halbseidene Intellektualität (Adorno!) hypnotisiert in dieser Stadt die jungen Leute, die dann orientierungslos auf Tanzschiffen im Main herumtorkeln."
Weitere Artikel: In der SZ spricht Tobias Kniebe mit Francis Ford Coppola über dessen Film "The Outsiders" aus den 80ern, den er nun in einer um damals gekürzte Szenen erweiteren Version nochmal ins Kino bringt - zu diesem Kino-Revival äußert sich auch Michael Kienzl im Filmdienst ausführlich. Besprochen werden Benoît Delépines und Gustave Kerverns Kinogroteske "Online für Anfänger" ("zum Schreien komisch", findet Jens Balkenborg im Freitag), York-Fabian Raabes "Borga" (Filmdienst, Artechock), eine BluRay von Robert Bressons "Lancelot" (critic.de), eine DVD von Harald Brauns "Der letze Sommer" von 1954 (critic.de), Gerhard Ertls und Sabine Hieblers auf den Hofer Filmtagen gezeigter Porträtfilm "Sargnagel - der Film" (Artechock), Sönke Wortmanns "Contra" (Artechock) und Scott Coopers Horrorfilm "Antlers" (Artechock).
Musik
Andreas Danzer porträtiert im Standard den Punkrock-Labelmacher Stefan Beham, über den Netflix eine Doku drehen will. Besprochen werden der Auftakt des Deutschen Jazzfestivals mit Antonio Sanchez und Andreas Schaerer (FR), ein neues Album von Ed Sheeran (Standard, Tagesspiegel) und das neue Album von Dos Santos (taz).
Literatur

Die Flaubert-Statue in Rouen.
Foto: Pierre-Yves Beaudouin unter cc-Lizenz
Außerdem: In der NZZ schreibt der Ideenhistoriker Christian Marty zum 150. Geburtstag von Paul Valéry. Im Literaturfeature von Dlf Kultur begeben sich Daniel Guthmann und Joachim Palutzki auf die Spuren des US-Autors Ken Kesey. Helmut Böttiger erinnert in der SZ an Ilse Aichinger, die kommenden Montag 100 Jahre alt geworden wäre. Dlf Kultur hat aus diesem Anlass eine "Lange Nacht" von Vera Teichmann über die Schriftstellerin online gestellt. Holger Gertz unterhält sich für die Seite 3 der SZ mit dem Schauspieler Edgar Selge, der mit "Hast Du uns endlich gefunden" unter die Buchautoren gegangen ist.
Besprochen werden unter anderem Senka Marićs "Körper-Kintsugi" (taz), Ronya Othmanns Gedichtband "die verbrechen" (SZ) und das von Birgit Erdle und Annegret Pelz herausgegebene "Ilse Aichinger Wörterbuch" (FAZ).
Design

Mit großem Vergnügen besucht SZ-Kritiker Kito Nedo die Ausstellung "Here We Are! Frauen im Design 1900 - heute" im Vitra-Design-Museum in Weil am Rhein: Es zeigen sich eine "Lust am Experiment und ein latenter Futurismus". Auch stößt er darauf, dass "an Designerinnen mitunter auch Kritik geübt wird, die sich ihre männlichen Kollegen nie anhören müssen. Weil Cini Boeri, die in der Ausstellung mit ihrem spektakulären, aus nur einem durchgehenden, 12 Millimeter dicken Stück Glas gebogenen 'Ghost'-Chair vertreten ist, den sie zusammen mit Tomu Katayanagi entwickelt hat, in den von ihr entworfenen Häusern standardmäßig immer ein zusätzliches Zimmer als 'Raum der individuellen Reflexion' einplante, wurde sie beispielsweise als 'Ehezerstörerin' angegriffen. Auf derlei Anwürfe reagierte Boeri stets gelassen und verteidigte die von ihr in die Architektur eingebaute Unabhängigkeit: 'Für mich war es wichtig, wählen zu können, und nicht gezwungen zu sein, zusammen zu sein.'"
Bühne

Besprochen werden die Uraufführung von Marc Sinans Oratorium Manifest(o) über die NSU-Verbrechen im Volkshaus Jena (nachtkritik) und Emanuel Gats Choreografie zu Puccinis "Tosca" beim Tanzfestival RM im Frankfurt LAB (FR).
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