9punkt - Die Debattenrundschau

Weit ins Spekulative hinein

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
30.10.2021. Vor sechzig Jahren kamen die ersten "Gastarbeiter" nach Deutschland. Heute sind die Einwanderer aus der Türkei eher Exilanten, schreibt Can Dündar in der SZ. Der Spectator erinnert an die konfliktuelle Symbiose der New York Times mit Trump, die der Zeitung sagenhaftes Wachstum bescherte. Marcel Weiß erklärt in seinem Blog, was es mit dem Begriff "Metaverse" auf sich hat, und warum Mark Zuckerberg ihn so mag. "Cancel Culture" ist nicht ein Problem der "Linken", sondern kultureller Institutionen, erklärt Anne Applebaum in der NZZ und erklärt am Beispiel der Sowjetunion, wie Gleichschaltung durch Angst funktioniert.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 30.10.2021 finden Sie hier

Ideen

Im Interview mit der NZZ erklärt Anne Applebaum, die in Atlantic gerade einen großen Essay über die "neuen Puritaner" geschrieben hat, warum sie den Begriff "Cancel Culture" nicht mag: Es verortet das Canceln links, dabei sei es eher ein Problem kultureller Institutionen: Universitäten, Zeitungen, Magazine, Museen, Stiftungen. Die Atmosphäre dort erinnert sie an das Sowjetsystem: "Ich ziehe den Vergleich nicht mit dem politischen System in der Sowjetunion. Es geht mir um eine Atmosphäre der Angst, um eine Form von Gruppendruck, die man oft in den Kulturinstitutionen autokratischer Länder findet. Sehr häufig sorgt dort nicht reine Gewalt für stromlinienförmiges Denken und Handeln, sondern die soziale Kontrolle unter Kollegen. Dass man etwas Falsches sagt und dann daheim von der Polizei abgeholt wird - so ist es natürlich in Stalins Russland gewesen. Aber im Polen der 1970er Jahre beispielsweise funktionierten die Dinge anders. Da hat man sich aus Gruppendruck an die Grenzen gehalten, die jeder kannte. Diesen Konformitätsdruck wollte ich beschreiben, denn in einigen Kultureinrichtungen der USA beobachte ich eine Entwicklung in diese Richtung."

Etwas schwammig beschreiben die Medienwissenschaftlerin Sabine Schiffer und der Pädagoge Constantin Wagner, die schon 2009 ein Buch zu dem Thema vorlegten, in der taz "antimuslimischen Rassismus" zwar nicht als den neuen Antisemitismus, beide aber als komplementäre Phänomene, die ihren Fokus vor allem "rechts" haben: "Der Kampf um die Anerkennung von antimuslimischem Rassismus als vergleichbares Moment zur Spaltung der Gesellschaft hat noch einen weiten Weg vor sich. Der verallgemeinernde Verweis auf muslimische Attentäter oder Antisemiten trägt zur erschwerten Anerkennung der Gefahr bei, die sich durch Anschläge auf Moscheen und Personen zeigt und die nicht weniger virulent ist. Es ist deshalb ein Vergleich antisemitischer und antimuslimischer Diskurse angebracht." Statt sich also von muslimischem Antisemitismus ablenken zu lassen plädieren die beiden ganz im Sinne von Wolfgang Benz und Aleida Assmann für eine Art "Dialog der Religionen", also "Entwicklungen und Initiativen..., die sich gegen diese pauschalierenden Zuweisungen stellen und zeigen, dass sich gemeinsam Zeichen setzen lassen - so vor Jahren, als Rabbiner und Imame gemeinsam eine Erklärung gegen Gräberschändungen verfassten".

Nele Pollatschek fragt dagegen in der SZ mit David Baddiel, dessen Buch "Und die Juden?" sie für die SZ bespricht, warum "Menschen, deren politische Praxis sich gegen 'sämtliche -ismen und Phobien' - also gegen Rassismus, Sexismus, Islamophobie - richtet, die Diskriminierung von Juden häufig als Lappalie abtun, oder als politisch motivierte Propaganda."

Armin Nassehi kommt in einem etwas abstrakten Text für die taz nochmal auf die Diskussionen über rechtsextreme Verlage auf der Buchmesse zurück und macht darauf aufmerksam, "wie entlastend im Diskurs über den Rassismus der bekennende Rassist ist, den man von der Buchmesse expedieren kann. Aber das wäre schlicht zu einfach - und davor muss man dann ehrlicherweise sogar die Rechten in Schutz nehmen, solange sie nicht strafrechtlich auffällig geworden sind." Doris Akrap argumentiert ebenfalls in der taz in der gleichen Sache etwas konkreter. Wäre Jasmina Kuhnkes Behauptung, "sie würde auf der Messe 'gekillt' werden, aus einer anderen politischen Richtung gekommen, wäre sie mit Recht als Verschwörungsfantasie gelabelt worden".
Archiv: Ideen

Internet

Marcel Weiß erklärt in einem längeren Artikel für sein Neunetz, was es mit dem Begriff "Metaverse" auf sich hat, den sich Mark Zuckerberg für die Umbenennung seines Unternehmens in "Meta" krallte. Der Begriff geistert schon länger durch die Debatte im Silicon Valley und wurde von Matthew Ball in einem Essay theoretisiert. Man muss es sich wohl als eine Verschmelzung von Internet und Augmented und Virtual Reality vorstellen. "Zuckerberg glaubt sehr stark an AR/VR als die Zukunft für sein Unternehmen... Es zeigt sich vor allem und zuvorderst in der Umbenennung. Die Umbenennung ist das mit Abstand deutlichste Zeichen, das Zuckerberg Richtung Drittanbieter und vor allem Richtung Mitarbeiter machen konnte, dass es dieses Mal wirklich ernst ist." Im Atlantic behauptet der Internetpionier Ethan Zuckerman, dass er schon vor 27 Jahren an einem "Metaverse" gebastelt habe. Übrigens empfehlen sowohl Weiß als auch Zuckerman in diesem Kontext die Lektüre von Neal Stephensons Roman "Snow Crash" von 1992, der gerade, wie der Zufall es will, neu ins Deutsche übersetzt wurde.

Die Golem-Autoren Tobias Költzsch und Oliver Nickel sehen die süßlich präsentierte VR-Vision Zuckerbergs eher als Facebook-Strategie, "auch softwareübergreifend außerhalb von Facebook, Instagram und Co. an die Daten der User" zu gelangen. "Dann kann Meta sehr genau Kundenprofile erstellen und gezielt Werbung verkaufen. Abwegig ist das nicht, schließlich testet der Konzern bereits Werbung in VR-Spielen. Natürlich wird das alles versteckt und wenig transparent durchgeführt. Das hat bisher ja auch funktioniert - fast."
Archiv: Internet

Europa

Jens Uthoff trifft für die taz Kira Jarmysch, Alexej Nawalnys Pressesprecherin, die inzwischen vom Exil aus arbeitet und im übrigen gerade einen Roman geschrieben hat. Uthoff spricht sie auch auf die älteren fremdenfeindlichen Äußerungen an, die Nawalny bis heute vorgeworfen werden: "Ich könnte auch nie mit einem Menschen arbeiten, der nationalistische oder fremdenfeindliche Ansichten hat. Zwei Anmerkungen zu seinen früheren Äußerungen: Zum einen gibt es im Internet eine Masse an Fake-Äußerungen, die er nie getätigt hat. Zum anderen sind da jene Dinge, die er zweifelsohne gesagt hat. Aber auch er ist ein Mensch, der sich entwickelt. In den nuller Jahren hat er sich anders über Flüchtlinge geäußert als heute. Man muss ihm schon zugestehen, dass er als Politiker und Mensch dazulernt."

Peter Graf Kielmansegg nimmt in der SZ nochmal das weithin gefeierte Klimaschutzurteil des Bundesverfassungsgerichts auseinander, das der Bundesregierung Beine machte, um die Rechte künftiger Generationen nicht zu beschädigen. Damit hat das Gericht vor allem sein eigenes Wirkungsfeld ausgedehnt, so Kielmansegg: "Auch das Gericht kennt die Zukunft nicht. Mit der Argumentationsfigur, gegenwärtiges politisches Handeln beziehungsweise Unterlassen könne verfassungswidrig sein, weil es voraussichtlich in der Zukunft Grundrechte verletzen werde, weitet das Gericht seine Kontrollbefugnisse weit ins Spekulative hinein aus. Hinter dieser Tür tun sich ganz neue, problematische Möglichkeiten für die dritte Gewalt auf."

Vor sechzig Jahren kamen die ersten türkischen Gastarbeiter nach Deutschland. Can Dündar erinnert zum Abschluss seiner SZ-Serie über Türken in Deutschland daran. "Das Haus, von dem sie träumten, wurde Deutschland", sagt er zur ersten Generation. Aber schon in den Achtzigern kamen Einwanderer aus politischen Gründen, die vor der Miltürdiktatur flüchteten. In den Neunzigern dann "kamen Kurden, deren Dörfer niedergebrannt wurden. Und zuletzt kamen wir. Die 'Erdogan-Flüchtlinge'. Die von einer Religionsautokratie geschlagen wurden, während sie dafür kämpften, in dem von Religionen geknechteten Nahen Osten den einzigen laizistischen und demokratischen Staat aufzubauen." Dündar erinnert auch an die deutsche Emigration in die Türkei: "Ernst Reuter feierte seinen sechzigsten Geburtstag 1939 fern der Heimat in Ankara, genau wie ich meinen Sechzigsten im Sommer fern meiner Heimat in Berlin feierte."
Archiv: Europa

Gesellschaft

Mit einem "auf das Individuum zielenden Moralismus" werden wir die Klimakrise nicht bewältigen, sagt der Sozialphilosoph Arnd Pollmann im Gespräch mit Katharina Schipkowski von der taz, die zum Glasgower Klimagipfel ein Dossier bringt. "Man muss sich den Verzicht leisten können. Mich wundert das Ausmaß ökoethischer Herablassung: Es ist leicht, aufs Tanken zu verzichten, wenn der Job in Fahrradnähe liegt. Andere können schon deshalb auf nichts verzichten, weil sie ohnehin nichts haben. Da wird der Verzicht zur zynischen Moralpredigt privilegierter Milieus." Andererseits sagt er: "Ich fürchte, es geht nicht ohne schmerzhafte Erfahrungen und emotionalen Druck." Das moralische Denken hat allerdings auf die Grünen auch jetzt noch starken Einfluss, konstatiert Wolfgang Stieler bei heise.de und wehrt sich vehement gegen die Forderung der Grünen, die Kernfusionsforschung künftig von Subventionen auszuschließen.
Archiv: Gesellschaft

Medien

Presse ist meist zu sehr damit beschäftigt, ihre essenzielle Rolle für die Demokratie zu betonen, um auch ab und zu mal ihre kompliziertes Spiel mit der Realität zu erklären, die sie ja nicht nur widerspiegelt. Thematisiert wird der Einfluss von Berichterstattung auf die übrige Realität meist nur von publizistischen Gegnern, wie jetzt von Batya Ungar-Sargon im Spectator, die nochmal auf die Symbiose der New York Times und anderer Organe mit Donald Trump zurückkommt. "Der Hass auf Trump führte zu einem massiven Anstieg der Mediennutzung bei zuvor strauchelnden Publikationen, Kanälen und Sendungen. Und einzelne Journalisten brauchten von ihren Chefs nicht angewiesen zu werden, Trumps Namen zu propagieren: Sie konnten aus erster Hand sehen, wie ihre Gegnerschaft zu Trump Likes, Retweets und explodierende Seitenaufrufe erzeugte. Da die Anreize so aufeinander abgestimmt waren, war es nicht nötig, die Reste der Mauer zwischen Werbung und Redaktion niederzureißen. Das geschah ganz von selbst. Die New York Times spielte eine wichtige Rolle bei der Rechtfertigung der liberalen Medien für ihre Trump-Strategie, indem sie immer wieder darauf hinwies, dass er kein 'normaler' Präsident sei." Ungar-Sargon zählt die Geschichten über russische Einflussnahme auf Trump zu Verschwörungstheorien, von denen die Times und andere profitiert hätten.  Trump hatte der Times höhere Wachstumsraten beschert als Google.
Archiv: Medien