Efeu - Die Kulturrundschau

Rüschenmonster

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30.06.2023. Die Literaturkritiker sind beeindruckt von Tanja Maljartschuks Eröffnungsrede zum Bachmann-Wettbewerb in Klagenfurt: Eine Autorin, die bekennt, das Vertrauen in die Sprache verloren zu haben, haben sie noch nicht gehört. Die taz schwelgt mit Dave Lombardos Album "Rites of Percussion" in Double-Bass-Geboller und filigranem Hochgeschwindigkeitsgetrommel. Die FAZ findet in der russischen Provinz kleine Widerstandsnester gegen die Gleichschaltung der Bühnen. Der Tagesspiegel sieht am BE ein Requiem auf einen jüdischen Kaufmann. Die FAZ kritisiert den fehlenden Kollektivgeist am Gorki-Theater, wo angeblich ein "Klima der Angst" herrscht, das aber niemand offen beschreiben will.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 30.06.2023 finden Sie hier

Literatur

Tanja Maljartschuk (2016). Foto: Zbrud unter cc-Lizenz
"Ich betrachte mich selbst als eine gebrochene Autorin, eine ehemalige Autorin, eine Autorin, die ihr Vertrauen in die Literatur und - schlimmer noch - in die Sprache verloren hat", sagt die ukrainische Schriftstellerin Tanja Maljartschuk gleich zu Beginn ihrer Eröffnungsrede (hier zum Nachlesen als PDF und dort als Video) des Bachmann-Wettbewerbs in Klagefurt. Einen bereits begonnenen Roman, der einen antisemitischen Mordexzess in ihrem Heimatdorf im Jahr 1942 in Erinnerung holen soll, der ihr überhaupt erst vor kurzem bekannt wurde, wird nun unvollendet und unveröffentlicht bleiben, kündigte sie an. "Die Sprache, die schönste Gedichte hervorbringt, kann auch dazu dienen, Befehle kundzutun, zum Abschuss von Raketen, die Zivilisten töten, oder zum Vorrücken von Panzern."

Die Rede hat die Kritiker aufgewühlt.

"Eine pathetische Demutsgeste, einen rhetorischen Kniefall", bezeugt Felix Stephan in der SZ. "Nicht ganz auszuschließen, dass es Leute geben wird, die aus dieser Rede eine ungebührliche Parallelisierung der Shoah und der russischen Invasion der Ukraine heraushören wollen. Doch ist es kaum zu vermeiden, dass sich die inneren Nachbeben der verschiedenen Todeskampagnen, die in kaum drei Generationen über diese Weltregion hinweggezogen sind, in der Erinnerung - und mehr noch: im Verdrängen - berühren und überlagern. Der Prozess des Erinnerns hat kein politisches Bewusstsein, die Gedanken denken sich in der Regel selbst." Die Schriftstellerin "ist auch als gebrochene, ehemalige Autorin sehr gut darin, die Komplexität der Zustände zu erfassen, auszuhalten und darzulegen", schreibt Judith von Sternburg in der FR.

Gerrit Bartels vom Tagesspiegel findet alles nachvollziehbar, was Maljartschuk sagt, bleibt aber leise skeptisch: "Sie führt die immer auch schuldige Sprache an (war diese je unschuldig?), vor der sie Angst habe, weil diese eben auch 'Millionen von mehrheitlich friedlichen Bürgern überzeugen kann, im Recht zu sein, andere zu ermorden'. Maljartschuks Rede ist eine durchaus bewegende, aber nicht immer überzeugende, zu kurz erscheint der eine oder andere ihrer Schlüsse (hier die Schönheit der Literatur, muss sie das immer sein?, nicht eher wahrhaftig?, dort das Grauen, gegen das sie nichts ausrichten kann.)" Aber Maljartschuk überlässt sich nicht ganz dem Pessimismus, kommentiert Jan Wiele in der FAZ - auch wenn diese Schlussnote vielleicht auch einfach veranstaltungspraktischen Gründen geschuldet war:  Sie versuchte - "verzweifelt, darf man vielleicht hinzufügen -, der Hoffnungslosigkeit doch noch einen Funken Utopie entgegenzusetzen, mit einem Zitat von Ingeborg Bachmann davon träumend, dass die Hände der Menschen irgendwann begabt sein werden für Liebe und Güte. Darauf hatte zuvor wirklich nichts an ihrer bitteren Rede schließen lassen, aber dennoch war diese Rahmung wohl notwendig, um nicht nur in diesem Moment mit dem Bachmannpreis-Wettbewerb fortzufahren, sondern mit der Literatur überhaupt - und sei es in der Sprache, vor der man Angst hat." Gerrit Bartels (Tsp) und Michael Wurmitzer (Standard) resümieren die ersten Wettbewerbsbeiträge.

Außerdem: Marc Reichwein verneigt sich in der Welt vor Oliver Zille, der nach dreißig Jahren als Leiter der Leipziger Buchmesse zum Ende des Jahres seinen Tisch räumt. In der SZ lobt Lothar Müller Zilles "Genie der Anwesenheit". Michael Wurmitzer liest sich für den Standard durch aktuelle Climate-Fiction-Bestseller. Maxim Biller hätte sich, wie er in der Zeit schreibt, bei einer Abendveranstaltung zu Ehren Enzensbergers im kleinen Kreis in der Suhrkamp-Villa in Berlin "eine kleine Enzensberger-Beschimpfung" gewünscht, "wie der Schriftsteller es selbst bestimmt getan hätte, wenn er als junger Mann bei seiner eigenen Gedenkfeier dabei gewesen wäre". Paul Kahl erklärt in der NZZ, wie es dazu kommt, dass Vergil sowohl bei Neapel als auch bei Weimar begraben liegt.
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Bühne

Angesichts einer vom ARD-Mittagsmagazin in Auftrag gegebenen Umfrage zu Machtmissbrauch am Theater fragt Christiane Peitz für den Tagesspiegel noch einmal nach: Wie war das jetzt am Gorki-Theater? Von Seiten des RBB heißt es, es seien Mediationsgespräche mit der Vertrauensstelle Themis geführt worden - die aber führt gar keine solchen Verhandlungen durch. Eine Umfrage des RBB weise auf andauernde Probleme hin. Dazu äußert sich Indentantin Shermin Langhoff ausweichend: Sie könne dazu "nichts sagen, auch nicht zur Situation der Betreffenden, 'weil diese Mitarbeiter*innen sich nicht zu erkennen geben und nicht mitgeteilt wird, aufgrund welcher Ereignisse sie das 'Klima der Angst' empfinden. Sind es die Zeitverträge und deren Verlängerungsprozesse, so gibt es diese zweifellos.' Der Pressesprecher weist außerdem darauf hin, dass am Gorki Theater Konfliktlösungs- und Beschwerdeinstitutionen existieren, die für alle zugänglich sind." In der FAZ hat Simon Strauß wenig Geduld mit den Gorki-Mitarbeitern, die sich nur hinter vorgehaltener Hand äußern: "Wenn ein Ensemble nicht den Mut aufbringt, den erfahrenen Machtmissbrauch Einzelner gemeinsam zur Anzeige zu bringen, kann es auch keine Veränderung erhoffen. Die Öffentlichkeit darf nicht als Ausputzer für den fehlenden Kollektivgeist von Theaterangestellten missbraucht werden."

Felix's Room. Bildrechte: JR Berliner Ensemble

Ein "Requiem auf einen jüdischen Kaufmann" hat Patrick Wildermann (Tagesspiegel) am Berliner Ensemble gesehen: Inszeniert hat "Felix's Room" Adam Ganz, der Urenkel jenes Felix Ganz, dessen Zimmer hier mit Hilfe des Digitalunternehmens Scanlab in 3D auf die Bühne gebracht wird. Das winzige Zimmer mussten Felix und seine Frau Erna 1942 nach einer Zwangsumsiedlung in ein sogenanntes "Judenhaus" bewohnen: "Dieser eindringliche, stimmig komponierte Abend setzt auf berührende Weise Puzzleteile zusammen, ohne Anspruch auf ein vollständiges Bild zu erheben. Dass Felix und Erna Ganz von den Nazis ins Konzentrationslager verschleppt und ermordet wurden, das etwa breitet 'Felix's Room' nicht aus. 'Ich möchte nicht', so Adam Ganz, 'dass man sich die beiden nach ihrer Deportation vorstellt, herabgewürdigt zu zwei Zahlen unter vielen.'"

Nicht ganz überzeugt ist Egbert Tholl in der SZ: "An Adam Ganz ist bestimmt kein Autor verloren gegangen. Die Mutmaßungen über das Leben von Felix und Erna hätte er besser jemanden erzählt, der diese dann in Worte gefasst hätte." Doch immerhin die technische Komponente sagt ihm zu: "Die Musik gerinnt zu einem Flirren, die Oboe bläst eine disparate Melodie, aus den Scans weichen die Farben, und die Aufführung wird so zum geisterhaften Sinnbild der Erinnerung, Schatten, Chimäre, was halt alles im Kopf auftaucht, wenn man sich zu erinnern versucht. In diesen Momenten ist 'Felix's Room' ein absolutes, technisch ohnehin verblüffendes Meisterwerk. Dass der Rest ausbaufähig ist - geschenkt." Von einem "unprätentiös auftretenden, kompakten Abend" spricht nachtkritiker Christian Rakow.

Besprochen werden noch "Ship. Bridge. Body" der Gruppe Theatre of Playwrights im Festspielhaus Hellerau (Nachtkritik) und das deutsch-tansanische Theaterprojekt "Ultimate Safari" (Tsp).
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Film

"20.000 Arten von Bienen" von Estibaliz Urresola Solaguren

Mit ihrem Film "20.000 Arten von Bienen" über ein Kind, das seine Trans-Identität entdeckt, ist Estibaliz Urresola Solaguren derzeit der absolute Liebling der Kritik (hier unser Resümee, dort die Berlinale-Kritik von Perlentaucher Thierry Chervel). Im Filmdienst spricht die Regisseurin unter anderem über die Dreharbeiten - und darüber, dass in Spanien immer mehr Frauen Filme drehen: "Das ist das Resultat langer Arbeit, besonders von Pionierinnen wie etwa Icíar Bollaín. Die haben sich in einer vollkommen männlichen Filmwelt behaupten müssen. ... Heute bemühen sich staatliche Stellen oder auch die Filmschulen darum, Frauen und Frauenprojekten den Zugang zur Filmindustrie zu erleichtern. So ist ein kreatives Ökosystem entstanden, in dem weibliche Talente wachsen und blühen können. Aber es ist immer noch so, dass Frauen, die ihren ersten Film machen, im Durchschnitt viel älter sind als ihre männlichen Kollegen. Wir sind etwa 37 oder 38 Jahre alt, wenn wir unseren Debütfilm fertig haben. Woher kommt das? Wir müssen anscheinend immer noch viel mehr und über einen viel längeren Zeitraum beweisen, dass wir etwas taugen, bevor man uns ein Projekt anvertraut."

Außerdem: Der Branchenverband HDF Kino beklagt sich über explodierende Kosten, die nötige Investitionen behindern könnten, berichtet Helmut Hartung in der FAZ. Jörg Seewald bringt in der FAZ Updates vom Filmfest München. Kristina Thomas berichtet im Tagesspiegel vom Queeren Filmfestival in Kiew.

Besprochen werden Marion Desseigne Ravels Debüt "Besties" über zwei Mädchen in den Banlieues (Tsp), Lars Kraumes RomCom "Die Unschärferelation der Liebe" (Welt) und die letzte Staffel von "Jack Ryan" (Tsp).
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Kunst

Auch die Kunstszene Russlands bleibt von den Repressionen des Regimes nicht verschont: Doch während die Moskauer Museen schon beinahe vollständig auf Linie gebracht sind, regt sich in den Provinzen bisweilen subversiver Widerstand, berichtet Kerstin Holm in der FAZ über das Myra Zentrum (Website leider nur auf Russisch). "Der Selbstverwandlungskünstler und Bildhauer Andrey Bartenev hat in Susdal ein russisches Holzhaus als Galerieraum 'Schachtel' (Larez) hergerichtet. Alles was er tue, diene der Aufklärung und dem Aufbau, erklärt Bartenev der FAZ, nachdem er bei der jüngsten Vernissage dort punkig-witzige Arbeiten zeigte - eine aufblasbare Katze als Sessel, einen tanzenden Puma - und selbst als Rüschenmonster auftrat. Die Leute seien ungeheuer dankbar, sagt er, für jeden Ausdruck von Lebensfreude und Güte." Eine andere Kuratorin sei "in eine monatelange Depression verfallen. Doch dann habe sie sich gesagt, dass es anderen noch schlechter gehe. Sie beherzige das Rezept iranischer Künstlerfreunde, sich auf die Arbeit mit Freunden zu konzentrieren, denen man vertraue, und die die eigenen Werte teilten."

Weiteres: In der FR fragt Björn Hayer: Wieviel Moral verträgt die Kunst? Mit einigen Werken von Judit Reigl in der Ausstellung "Kraftfelder" erhöht die Neue Nationalgalerie den Anteil von Künstlerinnen in ihren Reihen, erkennt der Tagesspiegel an. Nachdem er bislang Chef des Weltmuseums war, wird der Amerikaner Jonathan Fine ab 2025 Leiter des Kunsthistorischen Museums Wien, melden monopol, Standard und FR.

Besprochen werden die Ausstellung "Hervé Guibert - This and More" in den Kunst-Werken in Berlin (FAZ) und eine Ausstellung mit Bildern von Vija Celmins und Gerhard Richter in der Hamburger Kunsthalle ("ein Glücksfall", begeistert sich Alexandra Wach in der FAZ).
Archiv: Kunst

Musik

Der Schlagzeuger Dave Lombardo peitschte einst in den Achtzigern den Thrash-Metal-Meistern von Slayer mit seinen frenetischen Blast-Beats ein, seit geraumer Zeit ist er im Grenzbereich zwischen Metal und Avantgarde tätig. Nun ist sein Soloalbum "Rites of Percussion" erschienen, informiert ein glückselig umgeblasener Benjamin Moldenhauer in der taz: "Double-Bass-Geboller und sehr, sehr schnelle Breaks gehen mit Perkussivem zusammen und ergeben eine Musik, die auf einem Jazz-Festival genauso angebracht wäre wie zur Untermalung einer schwarzen Messe. 'Inner Sanctum' und 'Journey of the Host' grooven und stampfen vordergründig wie Sau, aus dem Hintergrund aber schält sich immer wieder Grusel-Electronica. 'Warpath' wiederum klingt so, dass man gleich in eine Bananenrepublik einmarschieren würde. ... Das ist vielleicht das Schönste an der Musik dieses Albums: Wie hier Brachialität und filigranes Hochgeschwindigkeitsgetrommel eine Mesalliance eingehen und sich sozusagen in ihm auflösen." Mike Pattons Ipecac-Label hat das Album in voller Länge auf Youtube gestellt:



Außerdem: Marco Frei porträtiert in der NZZ das Chiaroscuro Quartet. Thomas Ribi wünscht sich im NZZ-Kommentar mehr Toleranz unter Popfans. In der FAZ gratuliert Max Nyffeler der Komponistin Adriana Hölszky zum 70. Geburtstag.

Besprochen werden Jens Balzers Buch "No Limit" über die Popkultur der Neunziger (Standard, NZZ), Teke::Tekes Album "Hagata" (taz),Blue Lakes Album "Sun Arcs" (Pitchfork), Göläs Album "U.F.O." (TA), das Konzert der Black Keys in Köln (FAZ) und Salami Rose Joe Louis' Album "Akousmatikous" (FR).

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