Efeu - Die Kulturrundschau

Puppenstuben aus Beton

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13.07.2023. Die Feuilletons trauern um Milan Kundera, dessen befreiendes Schreiben seinen Lesern die Augen nicht nur für Mitteleuropa öffnete und der doch für die Tschechen immer ein Mann der Geheimnisse blieb. Die FAZ blickt dank einer Basler Ausstellung gar nicht mehr so pessimistisch in eine Zukunft mit KI. Halb so wild, winken die Filmkritiker angesichts des Sparzwangs bei der Berlinale ab: Mehr Rampenlicht für einzelne Filme, meint die SZ. Die FAZ ravt in Kiew gegen den Tod an.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 13.07.2023 finden Sie hier

Literatur

Milan Kundera, 1980 (Elisa Cabot, CC BY-SA 2.0)

Die Feuilletons trauern um Milan Kundera. Für den Kommunismus in seiner tschechischen Heimat begeisterte er sich zunächst glühend, dann blieb es lange ein Hin und Her, bis ihn die Niederschlagung des Prager Frühlings vollends desillusionierte. Ab 1975 lebte er in Paris, von seiner Heimat ausgebürgert, mit der im folgenden lange fremdelte. Im Exil schrieb er Bestseller wie "Die unerträgliche Leichtigkeits des Seins" aus dem Jahr 1984. "Es gehört zu den wenigen zauberhaften Geschichten des gruseligen 20. Jahrhunderts, dass das Regime in Prag unterging, während aus Milan Kundera, den sie fertig machen wollten, einer der meistgelesenen Schriftsteller der Welt wurde", schreiben Joseph Hanimann und Nils Minkmar in der SZ. "Für uns Tschechen blieb er ein Mann der vielen Geheimnisse", schreibt sein Schriftstellerkollege Jaroslav Rudiš in der FAZ - Kunderas Landsleute mussten nach dem Prager Frühling oft lange warten, bis sie ein neues Kundera-Buch in Händen halten konnten: "Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins" etwa erschien auf Tschechisch zunächst in kleiner Auflage in Kanada und offiziell in Tschechien erst in diesem Jahrtausend. "Einige Hundert hat man in die sozialistische Tschechoslowakei reingeschmuggelt. Die Bücher wanderten von Haushalt zu Haushalt. Man hatte nur eine einzige Nacht zum Lesen gehabt, denn am nächsten Tag war schon der nächste Leser dran. Deren Liste war lang. So konnten nur die Glücklichen das Buch lesen. Dann ist etwas Besonderes passiert. Die Liebesgeschichte von Tomáš und Tereza wurde einfach erzählt. In den Kneipen. In den Cafés."

Kunderas "Ruhm gründet auf der einmaligen Verbindung von leichter Erzählkunst und Reflexion, an denen er seine Leser zu beteiligen schien, als hole er nur Bauklötze aus der Kiste und schaffe mit ein paar Bewegungen aus dem Handgelenk ein Dorf, ein Schlafzimmer, einen Fluss", schreibt Paul Ingendaay in der FAZ. "Die Energie, die er brauchte, sich vom kommunistischen Regime zu lösen, macht einen Gutteil der befreienden Kraft seines Schreibens aus", hält Arno Widmann in der FR fest. "Er konnte seinen Leserinnen und Lesern die Augen öffnen dafür. Und - vielleicht wichtiger noch - ihren Geist." Etwa bei der Entdeckung Mitteleuropas: "Wer nach dem Krieg in der zweigeteilten Welt aufwuchs, der unterschied zwischen West und Ost. Alles, was unter der Herrschaft der Sowjetunion stand, war für mich Osteuropa. Dagegen rebellierten aufmüpfige Intellektuelle auf der anderen Seite des Eisernen Vorhangs seit den 60er Jahren immer lauter. ... Sie weigerten sich, sich als natürliche Bundesgenossen der Sowjetunion zu betrachten."

Kundera "lehnte aus Prinzip alle Prinzipien ab", schreibt Gregor Dotzauer im Tagesspiegel: So blieb Kundera sich im steten Wandel treu. "Literarisch reihte er sich ein in eine Tradition, als deren frühe Höhepunkte er Miguel de Cervantes' 'Don Quijote' und Denis Diderots 'Jacques der Fatalist und sein Herr' verehrte, um dann Franz Kafkas Schuldgebirge und Hermann Brochs Irrationalitätslabyrinthe zu durchqueren." Ulrich Rüdenauer hält auf ZeitOnline Kunderas "Buch vom Lachen und Vergessen" hoch: Das ist "ein Roman, der in einer virtuosen musikalischen Komposition und in verschiedenen Variationen Niederlagen und Verwerfungen durchspielt; die Handlung ist aufgesplittert, muss erst vom Leser zusammengesetzt werden. ... Gerade die formale Freiheit, die in diesem Buch liegt, die episodenhafte Verknüpfung reflexiver und erzählerischer Passagen, scheint einen noch größeren Affront darzustellen als sein mit totalitären Mechanismen abrechnender Inhalt. Schon einzelne Sätze in diesem Roman hätten Kundera in der kommunistischen Tschechoslowakei zur Persona non grata machen können." Weitere Nachrufe schreiben Karl-Markus Gauss (NZZ) und Alexandra Mostyn (taz).

Nur am Rande erwähnt wird in einigen Nachrufen die Kundera-Affäre, die Adam Hradilek 2008 im tschechischen Magazin Respekt bekannt machte, nachdem er einen Polizeibericht von 1950 über eine Anzeige gefunden hatte, die in einem Polizeirevier in Prag gemacht wurde: Kundera, damals Student, hatte laut diesem Bericht einen Kurier des amerikanischen Geheimdienstes, Miroslav Dvoracek, an die Polizei verraten. Dvoracek büßte dafür 14 Jahre in einem Arbeitslager. Kundera bestritt die Anzeige (siehe auch unser Dossier zur Kundera-Affäre). "Der individualistische Bonvivant also als eilfertiger Denunziant, der spätere Ideologieverspotter als lebenslanger Verdränger?", fragt Marko Martin in seinem Kundera-Nachruf in der Welt. "Kundera stritt eine Verwicklung in den Fall ab, bekannte sich jedoch zu seiner parteigläubigen Frühphase. Prager Intellektuelle, die ihm nicht gewogen waren, erinnerten allerdings daran, dass auch zu Beginn der Siebzigerjahre Kundera vor allem an sich selbst gedacht und das Petitions- und Bürgerrechtlerengagement eines Václav Havel aus kalter olympischer Distanz betrachtet hatte. Dennoch: Wer außer Kundera hatte die ästhetischen und moralischen Zumutungen, mit denen der Alltagstotalitarismus seine Bürger kujonierte, derart präzise beschrieben und in wissendem Gelächter einen möglichen Ausweg skizziert?"

Weitere Artikel: Sergei Gerasimow schreibt in der NZZ weiter Kriegstagebuch aus Charkiw. Johannes C. Bockenheimer plaudert für die NZZ mit T.C. Boyle. Und das FAZ-Feuilleton empfiehlt Bücher für den Sommer. Besprochen werden unter anderem Heinz Strunks Erzählband "Der gelbe Elefant" (NZZ), Hans Haiders Ernst-Jandl-Biografie (Standard) und Stanisław Barańczaks "Ethik und Poetik" (FAZ).
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Kunst

bild: Lea Ermuth: Optimisation interface. 2022

Durchaus "positive Visionen", vor allem aber innovative Ideen von einer Zukunft mit KI nimmt Ursula Scheer in der FAZ aus der Ausstellung "Creative Worldbuilding" im Basler HEK mit, in der knapp dreißig Kunstschaffende mit den Möglichkeiten von KI experimentieren. Etwa die Künstlerin Lea Ermuth: "Auf einem Bildschirm ist eine Videoperformance zu sehen, in der ein von ihr gesteuerter, recht lebensnaher Avatar wie eine Bildhauerin das Gesicht der Künstlerin bearbeitet - nach Vorschlägen des digital verbundenen Publikums. Die Nase schmäler, die Augen größer? Das Ergebnis der diktierten Formgebung steht in der Installation 'An invitation, to eternity' in Gestalt überlebensgroßer 3-D-Drucke von so entstandenen Porträtbüsten aus Ton. Im realen Raum erweisen sich die am Bildschirm gestalteten Gesichter als entstellt: ein Kommentar auf den visuellen Druck aus dem Internet und dessen normative Kraft."

Zum 75. Geburtstag spendiert die Neue Nationalgalerie Isa Genzken eine Ausstellung mit 75 Skulpturen - und im Tagesspiegel lässt sich Christiane Meixner fasziniert ein auf einen Parcours durch das fünfzigjährige Schaffen der Bildhauerin, das ihr offenbart, wie Genzken in ihren Werken zunehmend die Trennung zwischen der artifiziellen Form und dem menschlichen Körper aufhob: "Ihre legendären 'Weltempfänger', für die sie Radioantennen in Betonblöcke steckt, sind Vermittler zwischen Sender und Empfänger. Dann stellt sie architektonische Fragmente auf Sockel. Man steht davor und schaut in Räume, die sich wie Puppenstuben aus Beton zum Betrachter öffnen. Es folgen Fensterrahmen, durch die sich Realität vermittelt. 1991 wechselt Genzken zu farbigem, diffus transparentem Epoxid. Daraus entstehen 'Paravents', die nichts verdecken: Man blickt durch sie hindurch und wird erneut mit der Wirklichkeit konfrontiert."

Weitere Artikel: Die Zeit dokumentiert die Laudatio, die Florian Illies anlässlich von Anselm Kiefers Auszeichnung mit dem Deutschen Nationalpreis gehalten hat. In Neapel wurde die "Venus in Lumpen", eine der bekanntesten Skulpturen des italienischen Künstlers Michelangelo Pistoletto, durch ein Feuer zerstört, meldet Matthias Rüb in der FAZ.

Besprochen werden die Ausstellungen "Amitiés - Freundschaften. Gemeinschaftswerke von Dada bis heute" im Kunstmuseum Wolfsburg (taz) und die Ausstellung "Lee Miller. Fotografien zwischen Krieg und Glamour" im Hamburger Bucerius Kunst Forum (SZ).
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Film

Nur noch 200 Filme bei der Berlinale, zwei Sektionen eingestellt (unser erstes Resümee): Es ist "eine kulturpolitische Blamage", was das Bundeskulturministerium dem Festival mit seinem auferlegten Sparzwang da eingebrockt hat, kommentiert Bert Rebhandl im Tip Berlin. "Berlin ist im Februar durch die Berlinale mehr Weltstadt als sonst. Jeder dieser Filme, die nicht gezeigt werden, ist auch ein Verlust an Horizont für eine Stadt, die nach der letzten Wahl ohnehin einen großen Schritt Richtung Kleingeistigkeit gemacht hat." Auch das Ende der Sektion "Perspektive Deutsches Kino" hat Folgen: So "fehlt gerade den Debütierenden ein Forum, und das internationale Publikum, die angereisten Kritiker und Produzenten, werden weniger mitbekommen. Deutschland wird sich ein bisschen aus den Vernetzungen der Filmbranche herausnehmen."

Tobias Kniebe und Susan Vahabzadeh von der SZ finden den Wegfall der "Perspektive" halb so wild, denn laut Ankündigung sollen deutsche Beiträge nun vermehrt über die anderen Sektionen verteilt werden. "Es werden am Ende ein paar Filme weniger sein", aber "so kann jeder einzelne Film, der ausgewählt wird, mehr Rampenlicht für sich beanspruchen. Ein stärkerer kuratorischer Fokus im gesamten Programm ist überhaupt eine wünschenswerte Entwicklung." Andreas Kilb findet es in der FAZ ebenfalls vernünftig, dass die im letzten Vierteljahrhundert völlig aus dem Leim gegangene Berlinale sich nun wieder besser definieren will. "Diese Verschlankung könnte das künstlerische Profil der Filmfestspiele schärfen. ... Allerdings wundert man sich, dass Kulturstaatsministerin Claudia Roth, die als politisch Verantwortliche über den Bundeszuschuss für die Berlinale entscheidet, offenbar nicht den Hauch einer eigenen Idee für die Zukunft des Festivals hat."

Weitere Artikel: Andrey Arnold porträtiert in der Presse die Schauspielerin Thea Ehre, die mit ihrer Rolle in Christoph Hochhäuslers "Bis ans Ende der Nacht" gerade ihren Durchbruch hatte. Thomas Abeltshauser spricht für die taz mit der Regisseurin Lola Quiveron über deren Film (in der Welt, im Standard und bei uns im Perlentaucher besprochenen) "Rodeo" (mehr dazu hier). Besprochen werden Claire Denis' "Mit Liebe und Entschlossenheit" (FR, taz, Tsp) und "Mission Impossible 7" mit Tom Cruise (Perlentaucher, FR). Außerdem informiert die SZ, welche Filme sich in dieser Woche lohnen und welche nicht.
Archiv: Film

Bühne

Bild: "Chornobyldorf. Archäologische Oper" von Roman Grygoriv & Illia Razumeiko / Opera aperta bei Theater der Welt in Frankfurt © Artem Golkin

"Chornobyldorf - eine archäologische Oper" haben die Ukrainer Roman Grygoriv und Illia Razumeiko ihr Stück getauft, das sie für das eigene Ensemble "Opera Aperta" in Kiew entworfen haben und das nun beim Frankfurter Festival "Theater der Welt" aufgeführt wurde. Aber um Tschernobyl geht es nur am Rande, stellt Nachtkritiker Michael Laages fest: "Archäologisch allerdings ist dieses Musiktheater tatsächlich - denn es gräbt sehr tief in musikalischen Traditionen der Region am südöstlichen Rand Europas. (…)  Die dörflich-abgeschiedene Welt im geographischen Südosten Europas, etwa in den Grenzregionen Rumäniens, Bulgariens und eben auch der Ukraine und Russlands, ist immer präsent an diesem Abend, und die Rituale, die sie prägen, klingen zu uns herüber wie aus einer Zeit vor aller Zeit. Auch die Musik setzt auf diesen extrem fremden Ton - gleich zwei sehr ungewöhnliche Saiten-Instrumente sind im Einsatz neben Cello und Gitarre: das auch in Ungarns Folklore-Tradition populäre 'Hackbrett', eine Art liegende Zither, die gezupft, gestrichen und geschlagen werden kann (und hier auch wird!), außerdem das Dulcimer, ein weiteres Zither-Instrument. Was die drei Musiker in diesen Konstellationen erarbeiten, wirkt oft gleißend und schrill…"

Weiteres: Nachtkritiker Christian Rakow unterzieht Hans-Thies Lehmanns Standardwerk "Postdramatisches Theater" einer Relektüre und denkt über einen erweiterten Spannungsbegriff nach. Besprochen werden die Tanzperformance des kubanischen Ballet Revolución in der Alten Oper Frankfurt (FR) und das Stück "Billy's Joy" der Needcompany beim Wiener Impulstanzfestival (Standard)
Archiv: Bühne

Musik

In der FAZ macht sich Thomas Weihe Gedanken darüber, ob man es mit seinem Gewissen vereinbaren kann, in Kiew in die wieder geöffneten Clubs zum Raven zu gehen, während der Krieg weiter tobt. Aber vielleicht ist ja gerade das richtig, meint er: "Ich schaue in die brodelnde Menge auf dem Dancefloor, und mir scheint, ihre Freude und freie Selbstvergessenheit sind ein Großangriff auf den Tod. Wie die ganze Stadt heute. ... Mit ihrem Fluss und grünen Alleen ist sie ein einziger Widerspruch: buntes Leben, hier zart und dort prall, hier laut und dort sanft, vielfältig, liebenswert. Und dann, mit jedem Luftalarm, die Signale des Todes, der Angst und der Unfreiheit, nur ein Raketenabwehrsystem und eine Frontlinie ukrainischer Soldatinnen und Soldaten entfernt. ... Der Kreml, der russische Präsident und seine Kriegsverbrecher, wollten all diese Menschen aus ihrem Leben reißen. Im 'Closer' spüre ich: Bis jetzt sind die Angreifer im Großen und Ganzen gescheitert."

Beim Outline-Festival in Moskau (wo es angeblich sogar ein Zelt gegeben haben soll, bei dem man sich für den Militärdienst rekrutieren lassen konnte) sind auch westliche DJs aufgetreten, berichtet Anastasia Tikhomirova in der taz, so etwa " der deutsche Uwe Schmidt (AtomTM), der in Berlin lebende italienische DJ Topper und die polnische DJ Margaret Dygas. Als hätten sie es geahnt, haben die besagten Künstler:innen den Auftritt in Russland auf keiner ihrer Plattformen öffentlich angekündigt."

Weitere Artikel: Jakob Biazza, Daniel Drepper und Lena Kampf informieren sich bei den Aktivistinnen von #Deutschrapmetoo nach dem Stand der Dinge bei ihrem Kampf gegen Sexismus im Hiphop und in der Musikbranche generell. Juliane Streich ärgert sich in der taz, dass Rammstein ab Samstag an drei Tagen ausverkauft in Berlin spielen. Lotte Thaler resümiert in der FAZ den Kissinger Sommer. Jan Wiele berichtet in der FAZ vom "Fill In"-Jazzfestival in Saarbrücken, wo ihm vor allem die Schlagzeugerin Anne Paceo auffiel. David Steinitz klagt in der SZ sein Leid, wie beschwerlich es ist, Karten für Taylor Swift zu bekommen. Besprochen werden ein Konzert des Wu-Tang Clan (Standard) und der Berner Auftritt von Muse (TA).
Archiv: Musik