Efeu - Die Kulturrundschau

Das Blau von Ansas Mantel

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13.09.2023. Eine Welt ohne falsche Sehnsuchtsfarben: Die Filmkritik freut sich über den neuen Kaurismäki. Kunst und Politik? Das geht, meint die FAZ nach der Brüsseler Uraufführung von  Bernard Foccroulles' Klimaoper "Cassandra". Die Fauvisten feierten lieber das lebbare Leben - auch das ein Akt des Widerstands, denkt sich die Welt in einer Basler Ausstellung. Ai Weiwei erinnert im Tagesspiegel daran, dass man Geld für Kunst auch an die Armen verteilen könnte. Die Art Week Berlin beginnt mit Poledance und Bodybuilding. Die FAZ mag keine baukulturellen Verschwörungstheorien.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 13.09.2023 finden Sie hier

Film

Untergegangene Filmwelt - und der Hund heißt Chaplin: "Fallende Blätter" von Aki Kaurismäki

Mit "Fallende Blätter" startet diese Woche Aki Kaurismäkis zweiter letzter Film in den Kinos. Eigentlich wollte der finnische Autorenfilmer sich schon vor einigen Jahren zur Ruhe setzen. Nun legt er, wie er selber sagt, einen "Nachzügler" zu seiner proletarischen Trilogie vor, mit der er in den Achtzigern und Neunzigern den Arthousekinos volle Säle bescherte. Erneut geht es um im Leben Gestrandete aus dem Proletariat, die um ihre Würde kämpfen und einander distanziert umkreisen: Eine entlassene Supermarktkassiererin und ein Metallarbeiter sind es hier, die sich buchstäblich im Kino verlieben: "Das Kino heißt Ritz, im Aushang hängen Plakate von Melvilles 'Vier im roten Kreis', Godards 'Pierrot le Fou' und David Leans 'Brief Encounter', auch das ein Liebesdrama voller Vergeblichkeiten", schreibt Christiane Peitz im Tagesspiegel. "Kaurismäki beschwört eine untergegangene Filmwelt und bewahrt sie vor dem Vergessen, indem er sie den Verlierern der Gegenwart zu Füßen legt. Den Arbeitern und Arbeitslosen, denen, die aus der Zeit gefallen sind und keine Chance haben."

Andreas Kilb in der FAZ ergänzt: "Eine Welt der Armut und Entbehrung kann keine Welt der Schönheit sein", doch "bei Aki Kaurismäki ist sie schön. Sie ist so schön wie das Blau von Ansas Mantel, wie das Rot der Bluse, die sie in der Karaoke-Bar trägt, in der sie den Fabrikarbeiter Holappa kennenlernt, und wie das Gelb der Blumen, die ihr Holappa zu ihrem ersten gemeinsamen Abendessen mitbringt. ... Dennoch fehlt in diesem Rückblick jeder Schimmer von Nostalgie. Die Erzählung ist von falschen Sehnsuchtsfarben frei. Sie geht ihren Gang, ohne auf die Filmgeschichte zu schielen. Die Blätter fallen, doch sie welken nicht." Im Filmdienst bespricht Thomas Klein den Film.

Besprochen werden außerdem Nicolas Philiberts Berlinale-Gewinner "Auf der Adamant" (Tsp), Dany Boons "Voll ins Leben" mit Charlotte Gainsbourg (Filmdienst) und die RTL-Serie "Dark Winds" (FAZ).
Archiv: Film

Kunst

André Derain, Le Port de Collioure


Farbe, Wellen, Licht, Glück - mehr wollten die Fauvisten nicht, die sich zu Beginn des Jahrhunderts am Meer trafen, um zu malen, denkt sich ein von Feuerrot und Sonnengelb geblendeter Hans-Joachim Müller (Welt) in der Ausstellung "Matisse, Derain und ihre Freunde" im Kunstmuseum Basel. "Alles Anekdotische, Zeichenhafte scheint aufgehoben im zufriedenen Augenblick. Vielleicht hat Malerei nie zuvor und nie mehr später so bedenkenlos das lebbare Leben imaginiert." Gewiss, sie blieben damit allein, "schon als Matisse seine Parole 'Luxe, calme et volupté' ausrief, war ja sein großer und lebenslanger Gegenspieler Picasso mit ganz anderen Dingen beschäftigt, feierte das anmutige Menschenschicksal und begann seine kubistischen Experimente. Und Kandinsky wagte sich unterdessen weit in die Abstraktion vor, Robert Delaunay zerlegte den Eiffelturm in lauter Schalen und Scheite, und die Futuristen in Italien schärften die Kunst zur Waffe. Matisse, Derain und ihre Freunde blieben eine Insel, eine Sonneninsel. Mag schon sein, dass ihr Sommer nicht lange gedauert hat. Umso mehr haftet ihrer Malerei ein wunderbar heiterer Widerstand an."

Ai Weiwei, The Last Supper in Green, 2022, Legosteine. © Ai Weiwei, courtesy the artist and neugerriemschneider Berlin. Foto: Jens Ziehe, Berlin


Ganz anders über Kunst spricht Ai Weiwei, dessen Bilder aus Legosteinen gerade in der Berliner Galerie neugerriemschneider gezeigt werden, darunter eine Kopie von da Vincis Abendmahl, mit Ai Weiwei als Judas. Warum Judas, fragt ihn Minh An Szabó de Bucs im Tagesspiegel. "Na ja, ohne Judas hätte sich Jesus nicht für die Menschheit opfern können. Aber vielleicht sollte ich beim nächsten Mal einen anderen Jünger wählen." Für Jesus interessiere er sich, seit sein Vater ein Gedicht über dessen Leiden geschrieben habe. "Als er es schrieb, war er als 23-Jähriger wegen angeblich radikaler Gedanken in Haft. Er wurde sehr krank und dachte ernsthaft, er würde bald sterben. An einer Stelle im Gedicht taucht Judas in einer anderen Interpretation auf. Mein Vater schreibt, dass Maria Magdalena Jesus' Füße vor dem letzten Abendmahl mit kostbarem, duftendem Öl einsalbt. Judas erhebt sich und ruft aus: Oh, wie das duftet! So kostbares Öl! Warum verkaufen wir das Öl nicht für 30 Silberlinge? Das Geld könnten wir doch an die Armen verteilen! Etwas Ähnliches ist mir selber passiert. Als ich meinen Film 'Human Flow' an der UdK den Studierenden vorführte, fragte ein Student: Warum verschwendest du das Geld für einen Film? Warum nimmst du nicht das Geld, um Zahnbürsten für die Geflüchteten zu kaufen? Das ist doch dieselbe Frage, die Judas gestellt hat!'"

Die Berlin Art Week hat begonnen. Birgit Riegler schaut sich für den Tagesspiegel um und hat unter anderem Freude an "Hungry", einer Performance der in der Türkei geborenen und in Berlin lebenden Göksu Kunak. "Kunstgeschichte, Populärkultur und Pornowelt" fügen sich in "Hungry" zu einer wilden Mischung: "Eine Poledance-Artistin drehte sich inmitten des Publikums in olympiareifer Athletik und sehr sexy an der Stange, ein Profi-Bodybuilder spreizte seine Muskeln, eine Burlesque-Tänzer*in wiegte sich vor dem Spiegel, Kurnak selbst fuhr sich und die ganze Truppe, winkend wie Queen Mum, mit einem Kran durch die Halle. Dazu hämmernde Technomusik." Ebenfalls im Tagesspiegel stellen Riegler und andere Autoren kommende Highlights der Art Week vor.

Weitere Artikel: Laura Ewert besucht für Monopol das Berliner Kunstfestival Atonal. Manuela Enggist schreibt auf Zeit Online über den umstrittenen Plan des Museums Langmatt (in Basel, CH), Bilder zu verkaufen. Standard und Zeit Online berichten über einen wiedergefundenen Van Gogh.

Besprochen wird die Ausstellung "Werner Bischof - Unseen Colour" in der Fotostiftung Schweiz, Winterthur (NZZ). Bischofs Fotos basieren auf der Dreifarbentheorie, erzählt Dario Veréb. Hier ein Beispiel:

Werner Bischof, Orchideen Studie, Zürich, 1943 © Werner Bischof Estate / Magnum Photos

Archiv: Kunst

Bühne

Cassandra, Théâtre de la Monnaie, Brüssel. Foto: Karl Forster


"Taugt 'Cassandra'", nämlich Bernard Foccroulles im Brüsseler Théâtre de la Monnaie uraufgeführte Klimaoper "als Beispiel für eine neue Zeitgenossenschaft" der Kunstform? Fragt Holger Noltze in der FAZ, und die Antwort lautet klar: ja. Es geht unter anderem um die Polkappenforscherin Sandra, die außerdem Komikerin ist sowie um einen Eisberg namens "Bach". Nicht zu leugnen, dass das auf den ersten Blick etwas überspannt anmutet. Dennoch: "Die Regisseurin Marie-Ève Signeyrole erzählt Sandras Geschichte stimmig, um einen multifunktionalen Riesenblock herum, der ein Berg aus Eis oder auch Büchern sein kann, oder eine Struktur von Bienenwaben, oder eine Unterwasserwelt. Gleich das erste Bild zeigt eindrucksvoll, wie Cassandra vergeblich warnt und Troja krachend stürzt." Am Ende geht es auch noch den Insekten an den Kragen: "Den Bienen, die weniger werden, gilt die besondere Liebe des Komponisten: gleich drei Intermezzi sind ihnen gewidmet, zuerst als lustiges Schwarmballett, am Ende nur noch als trauriges Summen; wir begreifen: Eine Welt ohne Bienen ist so wenig denkbar wie eine ohne Bach."

Weiteres: Das Theaterhaus Jena nimmt sich des Hundekotskandals um Marco Goecke in einem Bühnenstück an, weiß Jakob Hayner in der Welt. Davon wird noch zu berichten sein - Premiere ist Ende Oktober. Rainer Stamm freut sich in der FAZ über den Fund eines tanzhistorisch wichtigen Briefs der Bauhausbelegschaft, die Schlemmers "Triadisches Ballett" zu sich einluden. Pitt von Bebenburg trifft sich für die FR mit Christoph Dittrich, dem Generalintentdant des Städtischen Theaters Chemnitz und spricht mit ihm über das Jahr 2025, das Chemnitz als Europäische Kulturhauptstadt begehen wird. Passt jedes Theater überall hin? Nein, meint Wolfgang Behrens in der nachtkritik. Besprochen wird die Ring-Inszenierung am Theater Basel (SZ).
Archiv: Bühne

Architektur

Wenig Illusionen macht sich Boris Pofalla in der Welt über den derzeitigen Umbau des Berliner Tacheles: Der gegenkulturelle Kunstraum, als das das Kunsthaus in den 1990ern vielen erschien, ist Geschichte, jetzt zieht das kommerzielle, sammlungslose Museum Fotografiska ein. Der Kapitalismus hat gesiegt. Aber ist das so schlimm? "Das Areal kehrt jetzt so gesehen zu seinen Wurzeln zurück: zur Marktwirtschaft, in der große Vorhaben mal Erfolg haben und dann wieder grandios scheitern. Die Wände, an die die Fotos bei Fotografiska gehängt werden, sind denen des Altbaus vorgeblendet, die besprühten Mauern dahinter nicht angerührt. Die Einbauten im großen, wunderbar verwitterten Ballsaal können alle wieder entfernt werden. Fotografiska hat sich eingemietet, um ein eigenes, auf seine Art ambitioniertes Ding zu drehen - so lange, wie es eben funktioniert. Das neue Stadtquartier hat einen großen Supermarkt für die Nachbarschaft und eine Durchlässigkeit nach Außen, es hat im Inneren kleine Plätze und 170 neue Bäume. Kann sein, dass das schon reicht."

Generalshotel, Berlin Schönefeld. Fotografie: Ralf Roletschek, Lizenz GFDL 1.2, Quelle: Wikipedia.


Richtig so, aber warum erst jetzt? Meint Matthias Alexander in der FAZ an die Adresse derer, die sich derzeit mit Händen und Füßen gegen den Abriss des denkmalgeschützten Generalshotels am Berliner BER-Flughafen wehren. Dessen architektonischer Wert liegt für Alexander auf der Hand: "Es greift Formen des Spätklassizismus auf und präfiguriert die wenig später erlassenen Vorgaben der stalinistischen Ära für ein Bauen in nationaler Tradition in der DDR. Im Inneren ist es prunkvoll ausgestattet. Dass dieser exemplarische Bau der frühesten Ostmoderne sehr gut erhalten ist, steigert seine bau- und politikgeschichtliche Bedeutung noch." Der Widerstand ist also verständlich, findet Alexander, aber er kommt reichlich spät und die Argumente der Abrissgegner sind dem Autor teils suspekt, vor allem, wenn behauptet wird, der Westen wolle "gezielt ein Stück DDR-Geschichte auslöschen. Diese baukulturelle Verschwörungstheorie ist abwegig. Einmal abgesehen davon, dass gerade die repräsentative frühe DDR-Architektur allgemein hohe Wertschätzung genießt, schaue man sich einmal in einer Stadt wie Frankfurt am Main um, wo ikonische Bausubstanz der Nachkriegszeit genauso rücksichtslos beseitigt wird (Zürich-Hochhaus; Hochtief-Hochhaus von Egon Eiermann)."

Weitere Artikel: Oliver Wainwright porträtiert im Guardian ein Bauprojekt, das mithilfe günstiger Holzbauweise bezahlbaren Arbeitsraum für Kleinbetriebe in London bereitstellt.
Archiv: Architektur

Literatur

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Louis-Ferdinand Célines Fragment "Krieg" ist die erste Veröffentlichung auf Deutsch aus einem Konvolut von vor einigen Jahren aufgetauchten Manuskripten. Wie der Autor hier die Traumatisierungen eines Soldaten aus dem Ersten Weltkrieg schildert, zieht SZ-Kritiker Andreas Bernard völlig in den Bann: Große, größte Literatur! Doch wie soll man sich dazu verhalten, dass Céline später in den finstersten Antisemitismus abglitt? Indem man ihn mit Adorno liest, schlägt Bernard vor: "Die politische Wirkungskraft von Literatur zeigt sich für Adorno allein in ihrem spezifischen Geformtsein, in ihrer Antithese zur rohen Empirie; das radikale Versenken in Probleme der literarischen Form, unabhängig von allen politischen Haltungen und Botschaften des Autors, erscheint als genau der Beitrag zu einer humaneren Welt, der Kunstwerken möglich ist. Im Vergleich zu den dialektischen Überlegungen Adornos wirkt ein Teil der gegenwärtigen Literaturkritik - mit seiner Verlagerung von sprachlichen und strukturellen Kriterien auf rein inhaltliche, mit seinen Entsprechungsvorgaben zwischen der sozialpolitischen Relevanz eines Roman-Plots und der Bewertung der literarischen Güte - wie eine Banalisierung der Auseinandersetzung mit poetologischen Fragen."

Besprochen werden unter anderem Ilija Trojanows "Tausend und ein Morgen" (FR), Marion Poschmanns "Chor der Erinnyen" (Intellectures), eine Neuausgabe von Geetanjali Shrees Debütroman "Mai" aus dem Jahr 1993 (taz), Ruth Klügers Essaysammlung "anders lesen" (Standard), Mieko Kawakamis "All die Liebenden der Nacht" (FR), Walter Isaacsons Musk-Biografie (BLZ), Terézia Moras "Muna oder Die Hälfte des Lebens" (NZZ), ein Gesprächsband mit Stefan Aust und Alexander Kluge (SZ) sowie Xi Xis "Meine Stadt" (FAZ).
Archiv: Literatur

Musik

In der taz porträtiert Tobias Grießbach das in Leipzig unter dem Stichwort "Ukrainian Diaspora Soul" an einer Fusion aus Jazz, Soul und ukrainischer Vokalmusik arbeitende Duo Moloch & Nadiya. Mit "Ether" liegt nun das Debütalbum vor, das sich durch seinen kollaborativen Charakter auszeichnet: Die Sängerin Melanka ist zwar in Deutschland geboren, aber drei Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine, "Mariia Kryvets, Kateryna Safonova und Ira Lazer (alias Mavka) sind an 'Ether' beteiligt: 'Wir singen und sprechen nicht nur über die Ukraine, wir machen die Ukraine in der Musik hörbar', beschreibt Melanka die Idee, Exilukrainer in die Produktion aufzunehmen. ... Moloch & Nadiya nehmen Impulse der ukrainischen Folklore auf, bringen damit eine Momentaufnahme in der Musik zum Klingen, eine persönliche Geschichte und auch die Geschichte einer Gesellschaft im Kampf um ihre bloße Existenz und ihr Vermächtnis." Wir hören rein:



Weitere Artikel: Christian Schachinger gratuliert im Standard dem Schlagersänger Michael Holm zum 80. Geburtstag. Besprochen werden der Saisonstart im Wiener Musikverein mit der Sächsischen Staatskapelle unter Christian Thielemann (Standard), ein Strauss- und Berg-Konzert des Bayerischen Staatsorchesters unter Vladimir Jurowski beim Musikfest Berlin (Tsp), ein Album mit allen Aufnahmen von Folk Implosion für Larry Clarks Film "Kids" (Standard), die ARD-Dokuserie "Exzess" über die Berliner Clubszene (taz) und neue Popveröffentlichungen, darunter "For that Beautiful Feeling" der Chemical Brothers, die in den Neunzigern die Dancefloors mit ihrem Big Beat auf den Kopf stellten ("revolutionär ist daran heute nichts mehr", stellt Standard-Kritiker Karl Fluch allerdings fest).

Archiv: Musik