Efeu - Die Kulturrundschau

Vorbewusste Instinkte

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28.09.2023. Christian Thielemann wird Daniel Barenboims Nachfolger als Generalmusikdirektor der Berliner Staatsoper: "Berlin hat ein Faible für tote Pferde", kommentiert Albrecht Selge in VAN. FAZ und SZ fürchten ein extrem schmales Repertoire für die Zukunft. Nur Welt und Freitag freuen sich über die Berufung. Die Berliner Zeitung starrt gebannt auf eine Kakerlake in Yana Thönnes' Vergewaltigungsdrama "In Memory of Doris Bither". Die FR blickt mit Emin Alpers Paranoiathriller "Burning Days" in die Abgründe einer enthemmten Gesellschaft.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 28.09.2023 finden Sie hier

Musik

Die Gerüchteküche lag richtig: Christian Thielemann wird ab nächsten September Nachfolger von Daniel Barenboim als Generalmusikdirektor der Berliner Staatsoper. Da dürfte sich wohl das Orchester gegenüber der neuen Intendantin Elisabeth Sobotka durchgesetzt haben, meint Clemens Haustein in der FAZ. "Die neue Personalie zeugt von der Angst der Staatskapelle vor einem Bedeutungsverlust nach der Ära Barenboim." Mit Thielemann "lassen sich weiterhin Tourneen nach Amerika und Asien verkaufen. Dass das Orchester dafür Thielemanns stilistisch extrem schmales Repertoire hinnimmt, an dem sich trotz Versuchen des Dirigenten in verschiedene Richtungen nichts geändert hat, erstaunt und stimmt wehmütig angesichts dessen, was die Staatskapelle unter Barenboim alles gespielt hat... Dass im fortschrittlich und weltoffen sich dünkenden Berlin ein Musikchef installiert wurde, dessen Vertrag im konservativen Dresden unverlängert blieb, weil man ihm eine zukunftszugewandte Ausrichtung der Semperoper nicht zutraute, ist nicht ohne Komik."

Aus ähnlichen Gründen blickt SZ-Kritiker Reinhard J. Brembeck mit sanfter Sorge nach vorne: Ein Berserker wie Thielemann lässt sich in einen Opernbetrieb nur integrieren, "wenn alle Beteiligten, selbst der Dirigierchefstar, ihre Egos in den Griff kriegen und an einem gemeinsam formulierten Ziel mitarbeiten. ... Umso mehr wird es auf Elisabeth Sobotka ankommen, die im nächsten Jahr als neue Berliner Staatsopernintendantin antritt. Sie muss um Thielemanns Stärken und Leerstellen herum Programm und Künstler finden, die das Haus auch als divers, zukunftsorientiert und in die Gesellschaft hinein wirkend ausweisen. Ein Problem könnte sein, dass ihr Programm für die ersten Jahre längst steht, auch wenn es noch nicht veröffentlicht ist. Thielemann wird sich da hineinfinden müssen. Er kann da schon Teamfähigkeit beweisen."

"Berlin hat ein Faible für tote Pferde", seufzt Albrecht Selge in VAN. Und mit Thielemann holt sich die Berliner Staatsoper die handfeste Krise mit rotem Teppich ins Haus, glaubt er: Der Dirigent neige zu Streits, abgebrochenen Zelten und verbrannter Erde. "Das Beziehungsmuster ist offenkundig. Geradezu tollkühn wirkt es, dass sich nun ausgerechnet die führungskulturell gebeutelte Lindenoper noch einmal darauf einlässt, nach ihren Jahrzehnten mit Daniel Barenboim, der in musikalischer Hinsicht alle überragen konnte, aber in punkto Leadership ebenso Schwierigkeiten hatte (um es gelinde zu formulieren). Da geht es um ganz unmagische Dinge wie Teamfähigkeit statt Bossing, sachliche Autorität statt autoritärem Gehabe des Überragenden." Robert Braunmüller, Theaterkritiker der Münchner Abendzeitung, ist aus exakt demselben Grund völlig entgeistert: "Wie naiv kann man eigentlich sein", ruft er entsetzt auf Twitter und rät in der Abendzeitung allen Zaungästen, nachdem er die schönsten Thielemann-Kapriolen der letzten Jahre aufgelistet hat, schon mal das Popcorn bereit zu halten.

Peter Huth von der Welt ist hingegen froh, dass das eher linke Kultur-Berlin den politisch eher rechts verorteten Thielemann zu sich holt: "Die Staatsoper ist eines der wichtigsten Opernhäuser der Welt - hier muss Bahnbrechendes entstehen. Dafür braucht man keine ideologische Besetzung der Schlüsselfigur, sondern einfach den Besten seines Fachs." Auch Wolfgang Herles freut sich im Freitag-Kommentar über die Nachricht: "Es mag gefälligere Interpreten, umgänglichere, wendigere Pultstars, sympathischere, weniger autoritär auftretende Dirigenten geben. Ein kulturpolitisches Rollback, gar eine Trendwende aber ist Thielemanns Berufung nicht - er war ja schon unter dem alten Senat des Orchesters Favorit. Es ist eine Bestallung allein nach Kriterien der klassischen Musik. Ein Votum für Tradition auf einem Feld, auf dem es nun einmal darum geht, eine große, gefährdete Tradition zu wahren und zu verteidigen."

Außerdem: Andreas Hartmann berichtet in der taz von der Gala zum 20-jährigen Bestehen des Staatsakt-Labels. Die NZZ dokumentiert einen Vortag, den der Schriftsteller Thomas Hürlimann auf Einladung der J.-S.-Bach-Stiftung zu Bachs Kantate "Wo Gott der Herr nicht bei uns hält" in Appenzell gehalten hat.
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Architektur

In der FAZ ärgert sich Matthias Alexander über die Beschädigung von Haus Baensch, einer denkmalgeschützten Villa von Hans Scharoun, durch die Eigentümerin und fordert harte Maßnahmen. In der taz schreibt Florian Heilmeyer den Nachruf auf den israelischen Architekten Zvi Hecker, in der FAZ schreibt Quynh Tran.
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Film

Blickt in den Abgrund einer enthemmten Gesellschaft: "Burning Days"

Der türkische Autorenfilmer Emin Alper wirft mit seinem Paranoiathriller "Burning Days" einen Blick auf die Korruption im türkischen Hinterland. Es geht um Wasserknappheit. "Es ist die treffende Ironie" des Films, schreibt Robert Wagner im Perlentaucher, "dass man als Zuschauer die Werkzeuge des Filmemachers deutlich vor sich sehen kann, dass der Film aber trotzdem wirkt." Er funktioniere in seiner "klaren Unklarheit als Verschwörungsthriller, als politische wie existenzielle Parabel und als Psychogramm, ist dicht und reichhaltig. Wenn wir einem anderen Pfad von ausgestreuten Brotkrumen folgen, dann auch als fragile, schwule Liebesgeschichte in einem Umfeld aus Misstrauen und Homophobie. Vor allem ist es aber ein Film, der uns einlädt, in Gesichter zu schauen und zu rätseln, ob sie so einfach zu durchschauen sind, wie sie scheinen." FR-Kritiker Daniel Kothenschulte verirrt sich gerne in "Alpers modernen Kafkaesken", in denen der Regisseur "metaphorische Bilder" schafft, "die an der Grenze zum Surrealen in die Abgründe einer enthemmten, nicht mehr öffentlich kontrollierbaren Gesellschaft blicken lassen." In der FAS lobt Bert Rebhandl Alpers "erzählerische Intelligenz". Weitere Besprechungen im Tagesspiegel und auf Artechock.

Weiteres: Annita Decker hat ihren Prozess gegen Til Schweiger "im wesentlichen verloren", zitiert SZ-Kritiker David Steinitz den Richter Rolf Danckwerts aus der Urteilsverkündung: Zwar erhält die Drehbuchautorin eine moderate Nachzahlung aus den jüngsten Gewinnen der Filme, die sie mitgeschrieben hat, aber nicht aus den deutlich höheren Gewinnen der Kinoauswertung: Sie hätte ihre Ansprüche darauf innerhalb von drei Jahren geltend machen müssen. In der FAZ berichtet Julia Encke von der Urteilsverkündung. In der taz spricht Gareth Edwards über seinen (auf ZeitOnline, Artechock und in der SZ besprochenen) Science-Fiction-Film "The Creator" (mehr dazu bereits hier). Auf Artechock übermittelt Rüdiger Suchsland Notizen vom Filmfestival San Sebastian. Alexander Görlach erzählt in der NZZ eine kleine Geschichte des südkoreanischen Filmwunders, dem das Zurich Film Festival in diesem Jahr einen Schwerpunkt widmet. Helgard Kemper und Katja Nicodemus plauschen für die Zeit mit Wim Wenders.

Besprochen werden Christian Tafdrups "Speak No Evil" (Perlentaucher), die Memoiren des Berliner Autorenfilmers Jörg Buttgereit (Filmfilter), Barbara Alberts gleichnamige Verfilmung von Julia Francks Roman "Die Mittagsfrau" (FR, Artechock, FAS, Filmdienst), Theo Montayas Essayfilm "Anhell69" (taz, Filmdienst), Moritz Springers Dokumentarfilm "Das Kombinat" (Filmdienst, SZ), Marc Rothemunds "Wochenendrebellen" (Artechock), Michael Steiners auf Netflix veröffentlichter Actionthriller "Early Birds" aus der Schweiz (NZZ) und die laut taz-Comicexperte Ralph Trommer ziemlich schludrige ARD-Dokuserie "BÄM - Geschichte des Comics". Hier alle Filmkritiken des Filmdiensts zur aktuellen Startwoche.
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Literatur

Sergei Gerasimow setzt in der NZZ sein Kriegstagebuch aus Charkiw fort. Besprochen werden unter anderem Olga Tokarczuks "Empusion" (Jungle World), Stephen Kings "Holly" (FR), Tim Staffels "Südstern" (Tsp), Elisabeth Scharangs "Wald" (Presse), Paris Hiltons Memoiren (NZZ), Mirko Bonnés "Alle ungezählten Sterne" (FAZ) und Christoph Nix' "Kongotopia" (NZZ).
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Stichwörter: Gerasimow, Sergei

Kunst

Auguste Herbin, Erich Mühsam, 1907


In der taz fragt sich Peter Kropmanns, ob der Ankauf von Auguste Herbins 1907 entstandenem Porträt des Schriftstellers Erich Mühsam durch die Neue Nationalgalerie wirklich an der Provenienz scheitern musste: "Seine Historie kann für die politisch problematischen Jahre 1940 bis 1944 nicht lückenlos nachgewiesen werden. In dieser Zeit der deutschen Besatzung in Frankreich, als Juden verfolgt und enteignet wurden, florierte der dortige Kunstmarkt. Auf Beschlagnahme-Listen oder Auktionskatalogen konnte das Mühsam-Porträt aber nicht nachgewiesen werden. Das Bild befand sich in diesen Jahren an einem unbekannten Ort. Durch diese Provenienzlücke wird das Kunstwerk heute jedoch sozusagen unter Generalverdacht gestellt, es könnte ja das Risiko einer zukünftigen Restitutionsforderung geben. Deswegen wurde das Mühsam-Porträt von Herbin nicht von der Neuen Nationalgalerie aufgekauft." Bedauerlich, findet Kropmanns. "Der Schriftsteller Erich Mühsam verdient es, dass in dieser Sache eine Lösung gefunden wird."

Besprochen wird die Ausstellung "Picasso/Beckmann" im Von-der-Heydt-Museum in Wuppertal ("Am Ende bleibt so weniger der Eindruck, einem Dialog, sondern zwei parallelen Monologen beigewohnt zu haben, von denen einer ungleich variantenreicher und interessanter ist als der andere", meint Alexander Menden in der SZ).
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Bühne

In Memory of Doris Bither, Schaubühne Berlin, Foto: © Philip Frowein


Doris Bithner wurde 1974 berühmt, als sie behauptete, in ihrem Haus in Los Angeles von einem Poltergeist vergewaltigt worden zu sein. Parapsychologen fanden zwar einige Lichterscheinungen, die Vergewaltigung glaubte ihr allerdings niemand. 1982 wurde die Geschichte verfilmt. Yana Thönnes hat nun ein daraus Stück gemacht, "In Memory of Doris Bither", das jetzt an der Schaubühne Premiere hatte. Gab es wirklich eine Vergewaltigung? Wer erinnert sich hier wie? Entstanden ist "eine bedrückende Psycho-Studie", lobt Peter Laudenbach in der SZ. "Paranoia und Wirklichkeit, Kino-Horror und Kindheitshorror, sexueller Missbrauch und die in der verletzten Seele zwanghaft wiederkehrenden Vergewaltigungsszenarien kippen dabei grauenvoll ineinander." In der Berliner Zeitung ist auch Ulrich Seidler stark beeindruckt, weil es hier eben nicht nur um eine rechtliche Frage geht: "Eine ungefähr drei Zentimeter große Kakerlake sitzt auf der Scheibe des Bungalows. ... Nur weil sie aus Kunststoff ist, heißt das nicht, dass das Insekt nichts täte. Es zieht die Aufmerksamkeit auf sich und verschiebt die Wahrnehmung der Zuschauer. Alles, was sich in dem Haus abspielt, so systematisch der Flausch der Auslegeware auch gesaugt sein mag, ist kontaminiert, befallen, beschädigt, beschmutzt. Pardon, das ist speziezistisch und wertet das Insekt ab, aber es geht hier um vorbewusste Instinkte. Es juckt." Und in der nachtkritik lobt Simone Kaempf: "konzentriertes Kunststück".

Szene aus "Baracke" von Rainald Goetz am Deutschen Theater Berlin. Foto: Thomas Aurin


Rainald Goetz bleibt Rainald Goetz, auch wenn er versucht, in seinem neuen Stück "Baracke", von Claudia Bossard am Deutschen Theater Berlin inszeniert, "echte" Figuren einzusetzen und seinen Hang zum Monologisieren zu zähmen. Bei Cargo ist Ekkehard Knörer - bei aller Liebe zu Goetz - nicht überzeugt. Dass Goetz die expliziten NSU-Bezüge im Text gestrichen hat, macht die Geschehnisse um ein Paar, das doch an das NSU-Trio angelehnt ist, für ihn "sehr viel weniger klar, stellt sich vielmehr immer wieder die Frage, ob diese Bezüge und die entsprechenden Passagen, der Bankraub von Eisenach - von Claudia Bossard geradezu farcenhaft inszeniert - nicht auf eher frivole Weise dem anderen Stoff, dem Familien-Stoff, zugesetzt sind, ohne eine wirkliche Verbindung mit ihm zu finden. Das ist eine bittere Diagnose, ich weiß auch nicht, ob sie am Text selbst genauso gestellt werden müsste. Die Inszenierung jedoch hat die Mittel nicht, diese intime Verbindung, die der Ausgangspunkt ist, plausibel zu machen", so Knoerer, der die Aufführung an ihrem Tiefpunkt erlebt, wenn Regisseurin Bossard Stadttheater versucht.

Für Jürgen Kaube (FAZ) ist Goetz' Stück interessant gescheitert. "Man hat im Theater gar keine Zeit, davon erschöpft zu sein, so schnell folgt ein Diskurswirbel über Gefühle, Streit, Liebe, Heirat und Kinder auf den nächsten. Das Stück gedankenanregend zu nennen wäre ungefähr so, als nennte man die Niagarafälle erfrischend. Dabei greifen allerdings viele dieser Untersuchungen von Liebe, Kleinfamilie und Erziehungsunglück, gerade weil sie alle möglichen Gebilde betreffen, die unter diesen Begriffen gefasst sind, am konkreten Geschehen der NSU-Verbrechen vorbei. Goetz studiert die elementaren Strukturen der Familie, aber keinen historischen Fall. Den begreifen wir durch dieses Stück nicht besser, die Familie siegt über das Verbrechen."

Weiteres: In der taz gratuliert Andreas Hartmann dem Berliner Hau zum 20. Geburtstag. Besprochen wird die koreanische Schau "Thinking Hands" im Berliner Admiralspalast, bei der gleichzeitig getöpfert und getanzt wird (BlZ, Tsp)
Archiv: Bühne