Efeu - Die Kulturrundschau

Exitus und Riesenjubel

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31.10.2023. Die Filmkritiker gehen auf die Knie vor Sandra Hüller: In Justine Triets cannes-prämiertem Gerichtsdrama "Anatomie eines Falls" spielt die deutsche Schauspielerin auf Oscar-Niveau! Veröffentlicht mehr Bücher aus dem ukrainischen Krieg, ruft die Lyrikerin Ulrike Almut Sandig in der FAZ . Die Literaturinstitutionen reagieren auf die Vorwürfe, sie würden zu Israel schweigen, etwas verschnupft. Die taz bewundert, wie der Künstler Sarkis Traumata heilt. Die SZ schwärmt von Asmik Grigorians girrender und zärtelnder "Salome" an der Staatsoper Hamburg. 
9punkt - Die Debattenrundschau vom 31.10.2023 finden Sie hier

Film

Schuldige und Unschuldige zugleich: Sandra Hüller in "Anatomie eines Falls"

In Cannes hat Justine Triet mit "Anatomie eines Falls" die Goldene Palme gewonnen, jetzt startet der Film in den Kinos. Die großartige Sandra Hüller spielt hier eine Frau, die wegen Mordes an ihrem Ehemann angeklagt wird, ohne dass dem Publikum klar wäre, ob sie die Tat auch wirklich begangen hat. "Von nun an analysieren wir jede noch so winzige Regung dieser Frau, jedes Zucken eines Mundwinkels, jeden müden Blick", schreibt Philipp Bovermann in der SZ. "Dass Sandra Hüller die Rolle übernommen hat, ist ein großes Glück für alle Beteiligten. Denn die Herausforderung ist schwindelerregend: eine Frau zu spielen, die sich verstellt, vielleicht aber auch nicht. Ein Vexierbild zu sein. Beide Frauen zugleich zu sein, die Schuldige und die Unschuldige. Die Täterin und das Opfer. Das Monster und die hilflos Entstellte. ... Hüller spielt herausragend, selbst für ihre Verhältnisse. In der nun anstehenden Awards Season ist mit ihr zu rechnen. Sie ist eine Naturgewalt, zart und verletzlich, berechnend und reserviert, irgendwie geht das bei ihr alles gleichzeitig."

Zu sehen "ist ein Film der Worte, der gesprochenen wie geschriebenen", schreibt Andreas Busche im Tagesspiegel. "Doch die Sprache ist nicht das zentrale Medium, in dem sich bei Triet und ihrem Ko-Autor Arthur Harari ein Urteil (über eine Tat, einen Menschen) artikuliert. Die französische Regisseurin (...) stellt in der Konvention des Gerichtsdramas - darin weist ihr Film auf prozessualer Ebene große Ähnlichkeiten mit dem Spielfilmdebüt 'Saint Omer' ihrer Kollegin Alice Diop auf -, verschiedene Sprechakte einander gegenüber." Dieser Film ist "ebenso ein Meta-Krimi wie ungeschöntes Beziehungsdrama", beobachtet Michael Kienzl im Filmdienst.
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Literatur

Über 900 Autorinnen und Autoren haben mittlerweile den Aufruf an den Literaturbetrieb zu Solidarität mit Israel unterzeichnet. Das Anliegen "trifft also allenthalben auf offene Ohren", beobachten Cornelius Pollmer und Marie Schmidt in der SZ, die außerdem Reaktionen sammeln auf den Befund des Offenen Briefes, der Betrieb würde auf das antisemitische Massaker der Hamas mit Schweigen reagieren: "Das Netzwerk der Literaturhäuser (...) macht in einer gemeinsamen Reaktion auf den offenen Brief darauf aufmerksam, dass seine Mitglieder bereits durch Statements und aktuelle Veranstaltungen kundgetan hätten, dass die Angriffe der Hamas und jeglicher Antisemitismus zu verurteilen seien. Sie geben aber zu Bedenken: 'Literaturhäuser und vergleichbare Institutionen schlichten weder Kriege noch Konflikte.' ... Auf eine Veranstaltung 'Gegen Antisemitismus', die man kurz nach dem 7. Oktober geplant habe, verweist die Bayerische Akademie der Künste." Und "die Berliner Akademie der Künste verweist auf ein Statement ihrer Präsidentin Jeanine Meerapfel von 9. Oktober, in dem es bereits hieß 'Der Schutz jüdischer Einrichtungen in Deutschland muss insbesondere in diesen Tagen gewährleistet sein - die Akademie der Künste tritt für ein Verbot jeglicher Unterstützung der Hamas in Deutschland ein.'"

Die Lyrikerin Ulrike Almut Sandig erzählt in der FAZ von ihren Eindrücken beim Besuch des Bookforums in Lwiw. Auch hier im relativ friedlichen Osten der Ukraine zeigen sich ihr die Spuren, die der Krieg in den Menschen und im Alltag hinterlässt. Es sind paradoxe Beobachtungen - einerseits bieten sich ihr friedliche Szenerien, andererseits gibt es Luftalarme und Beerdigungen von Gefallenen. "Wir schlendern durch die Stadt, vorbei an einer endlos scheinenden Reihe von Gefallenenporträts mit Grabkerzen und Kränzen. Jugendliche flitzen auf Scootern zwischen ihnen hindurch, Kinder fahren Dreirad. Der Tod ist hier zu einer Normalität geworden, die meine Vorstellung übersteigt. ... Der Krieg, er ist hier nicht von der Sprache zu trennen. 'Luftalarm im ganzen Land', heißt es bei Victoria Amelina in Juri Durkots Übersetzung, 'als würden alle gleichzeitig zur Erschießung geführt, dabei nur auf einen gezielt, meistens auf den am Rande. / Heute bist das nicht du. Entwarnung.' Wollen wir wirklich wissen, wie es sich in Zeiten des Krieges lebt und schreibt, müssen unsere Verlage endlich Autorinnen und Autoren wie Victoria Amelina, Halyna Kruk oder Oleh Kozarew verlegen. Die deutsche Verlagswelt hängt hier der englischen hinterher. Den Nachteil tragen wir selbst. Die ukrainische Erfahrung eines Krieges, der auch unserer ist, droht uns zu entgehen."

Außerdem: In der Zeit legt uns Thomas E. Schmidt die Erinnerungsbücher von Nicolaus Sombart ans Herz. Kathleen Hildebrand schreibt in der SZ einen Nachruf auf die Schriftstellerin Janina David.

Besprochen werden unter anderem Elena Fischers "Paradise Garden" (Zeit), Fabcaros neuer Asterix-Band "Die weiße Iris" (ZeitOnline), Myriam Leroys "Rote Augen" (Tsp), Armin Nassehis Handreichung "Gesellschaftliche Grundbegriffe. Ein Glossar der öffentlichen Rede" (BLZ), Eva Menasses Essay "Alles und nichts sagen - Vom Zustand der Debatte in der Digitalmoderne" (SZ), Peter Handkes Erzählung "Die Ballade des letzten Gastes" (SZ), NoViolet Bulawayos "Glory" (FAZ), Lion Christs "Sauhund" (NZZ) und Tobias Lehmkuhls Biografie über Erich Kästner (Welt).
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Architektur

Die Heilig-Geist-Kirche in Wolfsburg. Entworfen von Alvar Aalto. Foto: Stiftung Heilig-Geist, Wolfsburg.

Der "standardisierten doktrinären Moderne der Entfremdung" setzte der schwedische Architekt Alvar Aalto eine "warme Moderne aus dem kalten Norden" entgegen, weiß NZZ-Kritiker Ulf Meyer, der die Entwürfe für Aaltos "menschenfreundliche" Nachkriegsbauten in der Ausstellung "Gezeichnete Moderne" im Berliner Museum für Architekturzeichnung bewundert: "Die ersten Skizzen zeigen meist den Duktus des Meisters, während die Werkpläne von der liebevollen Umsetzung seiner Gestaltideen in gebaute Wirklichkeit zeugen. Es sind einfache Bleistift-Linien-Zeichnungen auf Papier, teils ganz von Hand, teils mit dem Lineal gezeichnet, die den Entwurf einer neuen Architektur eröffneten. Schnitte, Grundrisse und Ansichten überwiegen. Vereinzelt wurde die Raumwirkung der Neubauten auch anhand von manuell konstruierten Perspektiven überprüft."
Archiv: Architektur
Stichwörter: Aalto, Alvar

Kunst

Ausstellungsansicht "Sarkis. 7 Tage, 7 Nächte." Foto: Stefan Altenburger Photography Zürich. 


Höchste Zeit, dass der türkisch-französische Künstler Sarkis endlich auch in Deutschland vorgestellt wird, ruft Carmela Thiele in der taz. Die "7 Tage, 7 Nächte" in der Kunsthalle Baden-Baden ist einzigartig, den Sarkis konzipiert jede Ausstellung neu, so Thiele: "Er verwebt Aspekte der Malerei, der Skulptur, der Fotografie und der Musik. Das Bühnenhafte seiner mit Verweisen und Doppeldeutigkeiten gespickten Installationen gibt den Betrachtern Rätsel auf. Sie werden in ein Labyrinth von Bildern und Gedanken verstrickt, auch um die Frage, was Kunst leisten kann." In seinen Werken sucht Sarkis die Heilung, auch von historischen Traumata wie dem Völkermord an den Armeniern, dem seine Eltern 1915 entkommen sind, so Thiele. In seiner Installation "verbindet er eine inhaltliche und eine konzeptuelle Ebene miteinander. Er verarbeitet die wieder aufgebrochene Wunde des tabuisierten Genozids, indem er den Begriff des Originals, eines Gemäldes etwa, infrage stellt. Der Prozess der Leidverarbeitung, den Besuch einer Therapeutin, im Atelier verbrachte Nächte und die Herstellung eines Bildes montiert er zu einem Tableau. Das sogenannte Original fällt auf den Status eines Relikts zurück."

Weiteres: Die Camaro-Stiftung zeigt Alexander Camaros berühmten Bilderzyklus "Das Hölzerne Theater" aus der Nachkriegszeit, erfahren wir von Katrin Bettina Müller aus der taz. Das "Museum der Dinge" muss übergangsmäßig umziehen, meldet Tilman Baumgärtel ebenfalls in der taz. Die Realisierung eines geplanten Neubaus in der Karl-Marx-Allee ist unsicher.

Besprochen werden die Ausstellung "Geniale Frauen. Künstlerinnen und ihre Weggefährten" im Bucerius Kunst Forum Hamburg (taz), die Retrospektive des koreanischen Künstlers Lee Ufan im Hamburger Bahnhof (tsp) und die Ausstellung "William Turner. Three Horizons" im Lenbachhaus München (SZ).

Archiv: Kunst

Musik

Wolfgang Sandner berichtet in der FAZ von seinen Highlights beim Deutschen Jazzfestival in Frankfurt. Sehr anregend war zum Beispiel "der Auftritt des Duos LIU mit der Schweizer Sängerin Lucia Cadotsch und dem Freiburger Saxophonisten Wanja Slavin", bei deren Songs "man nicht wusste, was man höher bewerten sollte, die frei schwebende Intonationssicherheit der Sängerin, die kompakt-expressiven Phrasierungen des Saxophons oder die ungemein dichte Klangkonstruktionen, die jeweils abrupt endeten, als hätte jemand dramaturgisch spektakulär den Stecker gezogen. Als kaum weniger bemerkenswert, wenn auch stilistisch ganz anders geartet, erwiesen sich das Quartett der Trompeterin Heidi Bayer mit ihren fein ausgehorchten, zweistimmigen Jazzinventionen mit dem Altsaxophonisten Johannes Ludwig und dann das Quartett der Klarinettistin Rebecca Trescher, die mit ihrer makellosen Phrasierung so nahe an Mozart, Weber und Brahms intonierte, wie sie offen für freiere Jazzklangfarben blieb."

Weitere Artikel: Die Musikologin Azbeth Rodríguez erklärt im FR-Gespräch den sagenhaften Erfolg des mexikanischen Volksmusikers Pesó Pluma. Johann Voigt plaudert für die taz mit Elmar Giglinger und Markus Kavka über ihre drogengeschwängerte Zeit beim Musikfernsehen, über die sie gerade auch ein Buch geschrieben haben. Elena Witzeck fragt sich in der FAZ, warum alte Musiker so oft über junge Musik lästern.

Besprochen werden Peter Kempers Buch "The Sound of Rebellion" (FR), das Jubiläumskonzert zu 100 Jahren Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin (Tsp, hier zum Nachhören), ein Auftritt von Dave Okumu in Frankfurt (FR), Raganas "Desolation's Flower" (Pitchfork) und neue Popveröffentlichungen, darunter Shabazz Palaces' "Robed in Rareness" ("Es geht mit diversen Gästen um die Fortführung des Afrofuturismus und einen Soundtrack der Befreiung von alten Zwängen", hält Christian Schachinger im Standard fest).

Archiv: Musik

Design

Warum trägt eigentlich nicht jeder Mann einen Trenchcoat, fragt sich Tillmann Prüfer in seiner Stilkolumne fürs Zeitmagazin. Praktischer geht es schließlich nicht: Man sieht sofort gut aus und hat zugleich jede Menge Sorgen von der Backe. "So hat Humphrey Bogart in der berühmten Abschiedsszene in Casablanca einen Trenchcoat an. Das weiß jeder, aber weiß jemand, welche Hose, welche Schuhe er trug? Sie fallen in der berühmten Filmszene überhaupt nicht auf. Weil: Trenchcoat. Bogart sagt: 'Schau mir in die Augen, Kleines.' Das ist eigentlich ein steindummer Satz. Man stelle sich vor, Bogart hätte das gesagt, während er ein 'Fruit of the Loom'-T-Shirt getragen hätte. Das hätte null funktioniert. ... Der Trenchcoat macht für einen die gesamte Arbeit, dieser Mantel sieht so selbstgewiss aus, dass man gar nichts mehr falsch machen kann. Man zieht ihn über und wird sofort präsenter, muss weniger reden, eigentlich gar nichts mehr tun."
Archiv: Design
Stichwörter: Mode, Männermode, Trenchcoat

Bühne

Szene aus "Salome" an der Oper Hamburg. Foto: Monika Rittershaus. 


SZ-Kritiker Reinhard J. Brembeck ist völlig begeistert von Asmik Grigorians Interpretation der "Salome" in einer Inszenierung von Dimitri Tcherniakov an der Staatsoper Hamburg. Sowieso ist diese Aufführung ein Coup, freut sich der Kritiker, genial wie Tcherniakov wieder einmal zeigt, wie "die Menschenpsyche ihre seltsamsten Neurosen austreiben kann. So hat er die 'Salome', der Text stammt von Oscar Wilde, aus der Zeit Jesu in die Moderne versetzt. Zentral ist ihm ein Gedanke: Was auf der Bühne gesungen wird, ist bei ihm nicht nur realer Dialog, es sind immer wieder auch die Gedanken der Partygäste." Angetan hat es dem Kritiker aber vor allem die Salome selbst: "Sie kann girren, locken, zärteln, sie könnte alle und jede haben. Nur der frauenfeindliche Vorzeigeintellektuelle (im Original Johannes der Täufer) ist impotent ihren Verlockungen gegenüber, zynisch lächelt er diese Frau aus seinem Leben. Und die steigert sich, keine kann das derzeit so grandios wie Grigorian, in einen Blut- und Sexrausch hinein, dessen psychischen Exzessen sie selbst erliegt. Exitus und Riesenjubel." FAZ-Kritiker Jürgen Kesting hat den Abend etwas anders erlebt: "Wie sauber das sorgsam einstudierte Staatsorchester auch spielte, der Aufführung fehlte es an Spannung, Atmosphäre, sensualistischem Zauber." Für Judith von Sternburg ist Grigorian ebenfalls das "Ereignis des Abends", wie sie in der FR versichert.

Weiteres: Philipp Hochmair wird den nächsten "Jedermann" spielen, melden die Feuilletons. In der SZ unterhält er sich mit Christine Dössel. SZ-Kritikerin Dorion Weickmann gratuliert der Choreografin Reinhild Hoffmann zum Achtzigsten.

Besprochen werden Claus Peymanns (zweite) Inszenierung von Thomas Bernhards Stück "Minetti" am Residenztheater München (Welt), Walter Barts Inszenierung des Stücks "Die Hundekot-Attacke" (SZ), Johanna Wehners Inszenierung von Bram Stockers "Dracula" am Schauspiel Frankfurt (taz) und Jan-Christoph Gockels Inszenierung von Heiner Müllers Drama "Der Auftrag" am Deutschen Theater Berlin (FAZ).

Archiv: Bühne