Efeu - Die Kulturrundschau

Intellektuelles Labyrinth der Hipness-Ebenen

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20.01.2024. Die FAZ überlegt, ob ohne White Cube die Kunst wieder etwas rumpeliger, individueller würde. Die SZ durchleidet Luk Percevals Adaption von Hans Falladas Roman "Wolf unter Wölfen" am Hamburger Thalia-Theater, die nachtkritik erfreut sich dagegen an den weißen Billardkugeln von Bühnenbildnerin Annette Kurz. Die begeisterte taz entdeckt die 1966 bei einem Verkehrsunfall mit 23 Jahren gestorbene Autorin Diane Oliver. Zeit online trauert um das Musikmagazin Pitchfork, die SZ um Frank Z, den Sänger der Punkband "Abwärts".
9punkt - Die Debattenrundschau vom 20.01.2024 finden Sie hier

Film

Das Berlinale-Forum meldet auf Facebook, dass nun auch Suneil Sanzgiri ihre Installation "Two Refusals" wegen Unterstützung der Kampagne "Strike Germany" aus dem Festivalprogramm abgezogen hat. Zuvor hatte Ayo Tsalithaba seinen Film "Atmospheric Arrivals" zurückgerufen, um damit ein Zeichen gegen die angebliche "rassistische und faschistische Zensur der deutschen Regierung" zu setzen (für das Elend, zu dem die Hamas die Menschen im Gazastreifen, mit denen er sich angeblich solidarisiert, seit vielen Jahren verdammt, findet der Filmemacher allerdings keine vergleichbar deftigen Worte). Die unterwürfige Reaktion der Festivalsektion ärgert wiederum den Filmemacher Christoph Hochhäusler in einem Facebook-Kommentar darunter: "Es ist mir unverständlich, warum ihr so einfühlend von 'Respekt" und 'Gewissensfreiheit' schreibt, während Ayo Tsalithaba (...) eine maximal diffamierende, uniformierte Position einnimmt, die eine Diskussion gar nicht mehr zulässt. Das sanfte Säuseln eures Bedauerns gegenüber diesem Affront passt für mich nicht zu der Tatsache, dass ihr ein öffentlich finanziertes Festival seid."

Außerdem: Elmar Krekeler spricht für die Welt mit dem Schauspieler Felix Kramer, der in der ARD-Mysteryserie "Oderbruch" (besprochen in der FAZ) die Hauptrolle spielt. Bei einem Abend in Wien wurden neue, geförderte Drehbücher vorgestellt, berichtet Valerie Dirk im Standard. Magdalena Pulz porträtiert für den Tages-Anzeiger den Schauspieler Jacob Elordi. Bully Herbig dreht 2024 eine Fortsetzung seines Blockbusters "Der Schuh des Manitu", meldet David Steinitz in der SZ.

Besprochen werden Kaouther Ben Hanias "Olfas Töchter" über junge Tunesierinnen, die sich dem IS anschließen (Tsp), Adrian Goigingers "Rickerl" mit Voodoo Jürgens (Standard), die indische Netflix-Serie "Killer Soup" (Presse) und die auf Paramount gezeigte Serie "The Woman in the Wall" (FAZ).
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Kunst

Wir haben uns so an den "White Cube" im Museum gewöhnt, also an den "neutralen, sachlichen Ausstellungsraum", dass wir ihn nicht mehr hinterfragen, bekennt in der FAZ (Bilder und Zeiten) Georg Imdahl, für den dann Brian O'Doherty Essay von 1976, "Inside the White Cube", ein Augenöffner war. Und Doherty ist inzwischen nicht mehr der einzige, der die Neutralität des White Cube in Frage stellt: "Der White Cube, in den Worten des Berliner Kritikers und Kurators Hans-Jürgen Hafner, ist ein 'für die Kunst zugerichteter und diese selbst zurichtender Ort' - ein architektonischer, 'idealtypischer Funktionsapparat' für eine 'von aller Schlacke befreite Kunst'. Tatsächlich wird diese anders wahrgenommen und fühlt sich auch ganz anders an, wenn man ihr im Atelier des Künstlers oder einer Kunstakademie begegnet. Oder in einer privaten Sphäre, wo sie in persönliche Lebensströme eingebunden ist und sich der Fokus nicht unbedingt allein auf sie richtet; wenn Kunst beiläufig sein darf, um dann eher unvermittelt ins Blickfeld zu geraten. Im White Cube hingegen gleichen sich die Konditionen der Wahrnehmung überall auf der Welt an, sie suggerieren Objektivität, und wenn der Eindruck nicht täuscht, sind die Museen seit dem Erscheinen des Essays vor knapp fünfzig Jahren noch stromlinienförmiger geworden. Früher, so Hafner, 'waren sie rumpeliger', will sagen: individueller, weniger stylish und angepasst."

Sophie Jung unterhält sich für die taz mit der Kuratorin Çağla İlk über deren Auswahl für den deutschen Pavillon der Kunstbiennale in Venedig: "Kein Beitrag für den deutschen Pavillon kann der faschistischen Architektur des Pavillons entkommen. Dieses Gebäude spricht die Sprache einer Ideologie von Endgültigkeit und Ewigkeit. Mit 'Thresholds' setzen wir der statischen Machtgeste des Hauses drei Szenarien entgegen. Thresholds, das soll die Perspektive unserer Besucher sein. Die Schwelle interessiert uns als Punkt zwischen einer Vergangenheit, die verschwindet, und einer Zukunft, die ich noch nicht betreten habe. Räumlich bedeutet Thresholds in unserer Arbeit das Infragestellen von nationalstaatlichen Konstruktionen und eine Sehnsucht nach Deterritorialisierung der politischen Fantasie."

Zu den Künstlern, die Ilk ausgewählt hat, gehören Yael Bartana und Ersan Mondtag. Nicola Kuhn erwartet sich im Tagesspiegel viel von den beiden: "Sofort mobilisiert sich eine Vorstellung davon, wie die beiden Künstler den Pavillon rocken könnten. Es dürfte krachen, aber auf eine konstruktive Art: nicht beckmesserisch mit erhobenem Zeigefinger, sondern als starker Eindruck, Irritation, wildes Denken, das gerade in Zeiten eines polarisierten Kulturbetriebs gebraucht wird, den Meinungsmacher und Bekenntnisträger dominieren."

Weiteres: Nach dem Streit um ihre offenbar etwas undurchsichtige Ernennung, ist jetzt die Kuratorin Iwona Blazwick von der Leitung der privat organisierten Istanbul-Biennale zurückgetreten. Es ist der zweite Schlag für die Biennale, nachdem sie die für den Herbst geplanten Ausgabe auf das Jahr 2025 verschieben musste, erklärt Ingo Arend in monopol. Ebenfalls in monopol: Maja Goertz stellt die Malerin Harriet Backer vor, der das Nationalmuseum Stockholm demnächst eine Ausstellung widmet. Jens Hinrichsen gratuliert Cindy Sherman zum Siebzigsten, Saskia Trebing gratuliert Kiki Smith ebenfalls zum Siebzigsten. Besprochen wird eine Ausstellung mit den Alben-Covern der britischen Design-Agentur Hipgnosis in der Ludwiggalerie Oberhausen (SZ).
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Literatur

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Was für eine schöne Entdeckung, was für eine schöne Fügung, schreibt Dirk Knipphals in der taz: Beinahe hätten die Kurzgeschichten der 1966 bei einem Verkehrsunfall 23-jährig verstorbenen Autorin Diane Oliver den Sprung vom Manuskript in die Öffentlichkeit nämlich nicht geschafft - umso märchenhafter, dass sie nun auf Deutsch zu lesen sind. Sie führen mitten hinein in die frühen Sechziger in die USA: "Die Bürgerrechtsbewegung ist längst aktiv, der Name Martin Luther King fällt in dem Band ausdrücklich, doch die Segregation ist noch nicht überwunden. ... Man darf sich diese Kurzgeschichten nun aber keinesfalls nur als eine Art Geschichtsunterricht vorstellen. Interessant bis heute sind sie vor allem, weil Diane Oliver konsequent auf die individuelle Ebene geht. In der Story 'Nachbarn' lässt sie, erzählerisch geschickt, die Zweifel, Sorgen und Skrupel innerhalb einer Familie aufscheinen, deren Sohn Tommy ausersehen ist, als erstes Schwarzes Kind auf eine bis dahin rein weiße Schule zu gehen." Die Autorin "zeichnet eine Gesellschaft, in der es, wie es an einer Stelle heißt, 'viele Veränderungen' gibt, die aber auch erst einmal psychisch verarbeitet werden müssen. Auch deshalb - und keineswegs nur, weil viele der gesellschaftlichen Probleme bis heute virulent sind - sind diese Geschichten weiterhin relevant. Durch diese Sammlung wird die amerikanische Literatur um eine weitere Stimme reicher."

Außerdem: Marc Reichwein stellt in der WamS Astrid Böhmisch, die neue Leiterin der Leipziger Buchmesse, vor. Andreas Rosenfelder stellt in der WamS Kafka (100. Todestag) und Kant (300. Geburtstag) gegenüber, und fragt sich im Schlaglicht-Duell: Wer von beiden ist eigentlich zeitgemäßer? Robert Misik führt in der NZZ aus demselben Anlass durch Kafkas Leben. Marc Reichwein erzählt in der WamS von seinem Besuch in der Deutschen Nationalbibliothek in Leipzig. Queen Camilla macht nun einen Literaturpodcast, meldet Alexander Menden in der SZ. Susanne Lenz erinnert in der Berliner Zeitung an den Schriftsteller Walter Kaufmann, der dieser Tage 100 Jahre alt geworden wäre. Judith von Sternburg blickt für die FR aufs Jahr 1774, als Goethes "Werther" erschien.

Besprochen werden unter anderem Sigrid Nunez' "Die Verletzlichen" (taz), Benjamín Labatuts "Maniac" (taz), Bai Juyis, Bashô Matsuos und Kamo no Chômeis Lyrikband "Die Klause der Illusionen" (NZZ), Stephan Wackwitz' "Geheimnis der Rückkehr" (SZ) und Natascha Wodins Erzählband "Der Fluss und das Meer" (FAZ). Mehr ab 14 Uhr in unserer aktuellen Bücherschau.
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Bühne

Szene aus "Wolf unter Wölfen" am Thalia Theater. Foto © Armin Smailovic

Dreieinhalb Stunden dauert Luk Percevals Adaption von Hans Falladas Roman "Wolf unter Wölfen" am Hamburger Thalia-Theater. SZ-Kritiker Egbert Tholl hat schwer gelitten, obwohl das Thema eigentlich interessant ist: "Seit geraumer Zeit denkt man darüber nach, wie weit sich Deutschland wieder den Verhältnissen der Weimarer Republik annähert, sei es in den politischen Verhältnissen, den pekuniären oder einfach nur denen eines trübseligen Lebensgefühls. Immer bleibt die Frage, was man von damals fürs Heute lernen könnte, und Falladas Roman ist da nicht die schlechteste Diskussionsgrundlage. Weil er voll ist mit grandiosen Personenbildern, weil er ein umfassendes Gesellschaftstableau ist. Voll mit Irren, Verrückten, Kaputten. Das Irritierende nun nach dieser Premiere am Hamburger Thalia-Theater ist, dass sich Regisseur Luk Perceval für die Gegenwart nicht zu interessieren scheint. Seine Inszenierung von 'Wolf unter Wölfen' ist hermetisches Kunstgewerbe."

Man muss ja nicht immer mit dem Zaunpfahl winken, denkt sich dagegen nachtkritiker Andreas Schnell und bewundert das abstrakte Bühnenbild von Annette Kurz: "zeitlos schöne Bilder, große weiße Kugeln, die symbolträchtig für das Roulettespiel stehen, dem Falladas Protagonist verfallen ist. Aber auch für den Wettbewerb, den nur einer (oder eine) gewinnen kann: als nur noch eine Kugel übrig bleibt, die von langen Stangen umringt ist. Billard-Queues vielleicht, aus denen später der Wald um das Gut Neulohe wird, wo der wesentliche Teil der Handlung spielt, während die verbliebene Kugel zum Mond wird."

Weitere Artikel: Friedrich Dieckmann singt in der FAZ (Bilder und Zeiten) dem Bühnenbildner und Regisseur Achim Freyer ein Loblied.

Besprochen werden außerdem Sebastian Nüblings Inszenierung von Ariane Kochs "Kranke Hunde" am Theater Basel (nachtkritik), die Uraufführung von "Split" des Autorenduos Ivana Sokola und Jona Spreter in der Inszenierung von Pablo Lawall am Theater Münster (nachtkritik), Emel Aydoğdus Adaption von Gün Tanks Roman "Die Optimistinnen" am Berliner Gorki Studio Я (ein schöner "Feel-Good-Abend", lobt nachtkritiker Georg Kasch) und Rachid Ouramdanes Choreographie "Corps Extrèmes im Haus der Berliner Festspiele (Lebensgefährliche Akrobatik wird hier gezeigt, beeindruckend, aber "hat das irgendeine Aussagekraft für künstlerische Praktiken und Ästhetiken?" fragt sich Wiebke Hüster in der FAZ).
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Musik

Jakob Biazza schreibt in der SZ zum Tod von Frank Z, dem Sänger der legendären (Post-)Punkband Abwärts. Mit dem 1980 erschienenen Albumdebüt "Amok-Koma" hatte die Band "das Land, hatte die Welt, hatte die ganze wahnsinnig gewordene Zeit mit stahlkaltem Blick erfasst und vertont. ... Gitarren wie Krähengeschrei, ein sehr humorloser Bass, die Drums ganz und gar unbeirrbar und drum herum immer irgendein Firlefanz aus Synthies oder Kindertröten oder etwas anderem, das ganz wunderbar nervte. Und dann dieser Gesang. Erster Song, erste Zeilen: 'Linke Seite Supermarkt / Rechte Seite Abenteuerspielplatz / In der Mitte Autobahn / La, la, la-la, la ...' Vier Verse, die eine ganze Welt bauen - und direkt wieder einreißen." Einen weiteren Nachruf schreibt Thomas Kramar in der Presse. In seinem Reflektor-Podcast sprach Tocotronic-Bassist Jan Müller vor ein paar Jahren sehr ausführlich mit Frank Z über Leben und Werk. Und hier der Song "Computer-Staat" aus demselben Album, damals ein von allen Bands gecoverter Szenehit:



Daniel Gerhardt trauert auf Zeit Online um das Musikmagazin Pitchfork, das nach einer Ankündigung des Konzerns Condé Nast liquidiert und dessen Reste beim Männermagazin GQ eingegliedert werden sollen. Damit geht eine Ära des Online-Musikjournalismus zu Ende, wie es sie wohl nie wieder geben wird: "Vor allem in den Nullerjahren galten Pitchfork-Rezensionen und das portaleigene Gütesiegel 'Best New Music' als Karrierestarter für Indierock-Gruppen und -Künstler. ... In der Frühzeit des Magazins kultivierte Pitchfork einen Schreibstil, den es zuvor höchstens in kleinteiligsten Fanzines gegeben hatte: ausufernde Texte, ungewöhnliche Perspektiven, autofiktionale Ansätze. Mit derbem Humor und jugendlicher Arroganz positionierten sich die Autoren (Autorinnen gab es kaum) gegen die alteingesessene, womöglich betriebsmüde Musikpresse." Allerdings "hat Pitchfork schon lange keine Trends mehr gesetzt, der bescheidwisserische Vorsprung auf Mitbewerber und Publikum schien aufgebraucht."

Auch beim Berliner CTM Festival haben erste Künstler ihre Teilnahme wegen ihrer Unterstützung für die "Strike Germany"-Kampagne abgesagt, berichtet Julian Weber in der taz: "Schaden werden die Absagen dem Festival nicht" glaubt er, "dass sich die Künstler:innen mit ihrer Absage einen Gefallen getan haben, ist dagegen unwahrscheinlich."

Außerdem: Andrian Kreye berichtet in der SZ vom Winter Jazzfest in New York, das "wahrscheinlich wichtigste Festival seiner Art" und ein "intellektuelles Labyrinth der Hipness-Ebenen", wo er "fünf atemlose Nächte" erlebte. Guido Sprügel blickt für die Jungle World auf die Proteste gegen die Schließung des Hamburger Clubs Molotov. Frederike Möller plädiert in "Bilder und Zeiten" (FAZ) dafür, die musikalischen Werke von Annette von Droste-Hülshoff mehr zu würdigen. In der NMZ gratuliert Christoph Becher dem Musikkritiker und Musikwissenschaftler Martin Hufner zum 60. Geburtstag.

Besprochen werden Barbara Morgensterns Kammerpop-Album "In anderem Licht" (taz), Martha Argerichs Konzerte beim Festival "Le Piano Symphonique" in Luzern (NZZ, mehr dazu bereits hier), ein Konzert des Chicago Symphony Orchestras in Frankfurt (FR), Marika Hackmans Album "Big Sigh" (FR) und Andreas Doraus neues Album "Im Gebüsch" (ZeitOnline). Sein Video "Mein englischer Winter" passt gerade gut zum winterweißen Berlin:

Archiv: Musik