Efeu - Die Kulturrundschau

Menschen, die nur sich selbst hören wollen

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13.02.2024. Die Feuilletons blicken auf die Störaktion bei der Lesung der kubanischen Künstlerin Tania Bruguera im Hamburger Bahnhof: Zeit Online war dabei und fragt, warum man die Störenfriede nicht rausgeworfen hat. Was soll die die Bezeichnung "pro-palästinensisch", fragt die Welt, das war ganz klar Antisemitismus. Die Berliner Zeitung fürchtet Ähnliches für die Berlinale. Nachtkritik horcht mit René Polleschs "Ja, nichts ist ok" in Berlin am Herz der kranken Gesellschaft. Die SZ hängt an Dua Lipas Lippen, auch wenn sie über Literatur spricht.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 13.02.2024 finden Sie hier

Kunst

Vanessa Vu war dabei als pro-palästinensische Aktivisten am Samstagabend eine Performance der Künstlerin Tania Bruguera im Hamburger Bahnhof störten. (Unser Resümee) Sie beschreibt die Szene auf Zeit Online. Nachdem ein Protest am Nachmittag friedlich verlaufen war, kamen Teile der Gruppe abends zurück und brüllten eine Lesung der Direktorin des Jüdischen Museums Frankfurt, Mirjam Wenzel, unter anderem mit "From the river to the sea"-Rufen nieder: "Was aus der Ferne kaum zu erkennen war und dafür auf einem Handy-Video aus der Mitte der Protestierenden deutlich wird: Immer wieder versuchte auch die Künstlerin Tania Bruguera mit wedelnden Armen einzuschreiten. 'Ihr wisst nichts über mich, ihr wisst nichts über meine Geschichte und was ich für die Palästinenser getan habe', sagt Bruguera in dem Video, sichtlich aufgewühlt. 'Du bist immer noch eine weiße Person!', schrie eine Frau zurück. Brugueras Solidarität mit Palästinensern sei 'performativ'." Vu findet, das Museum hätte durchgreifen müssen: "Am Ende liegt es jedoch in der Verantwortung des Museums, Prioritäten zu setzen und die Sicherheit seiner Gäste zu gewährleisten. (...) Der Wunsch nach Inklusion findet dort seine Grenzen, wo Menschen ebenjenes Prinzip missachten und nur sich selbst hören wollen."

Im Spon-Interview mit Tobias Rapp beschreibt Mirjam Wenzel ihre Erfahrung während der Störaktion. Für sie besteht kein Zweifel, dass gerade ihre Lesung gestört wurde, weil sie Jüdin ist: "Die Ankündigung, wer wann spricht, kam kurzfristig über Tania Brugueras Instagram-Account. Hinter meinem Namen hieß es 'Direktorin des Jüdischen Museums Frankfurt'. Ich war die einzige Teilnehmerin, bei der 'Jüdisch' dabeistand." Sie mache sich "Sorgen, welche Signalwirkung von solchen Aktionen auf in Deutschland lebende Jüdinnen und Juden ausgeht. Offenbar können sie in öffentlichen Räumen nicht darüber sprechen, was das Massaker der Hamas und der Krieg in Gaza für sie psychologisch und biografisch bedeutet. Auch nicht darüber, was es heißen würde, wenn der Staat Israel nicht mehr als Lebensversicherung wahrgenommen werden kann."

In einem kurzen Interview auf Zeit Online, geführt von Peter Neumann, meldet sich einer der Direktoren des Museums, Till Fellrath zu Wort: "Es war uns zu jedem Zeitpunkt wichtig, dass wir die Lage in der Halle unter Kontrolle behalten, wir waren an dem Abend bis Mitternacht vor Ort. Wir mussten die Ereignisse offen gestanden auch erst einmal einordnen und mit der Künstlerin besprechen können. Es gab ja auch direkte Verbalattacken gegen uns persönlich und das Museum. Sam Bardaouil (neben Fellrath der zweite Direktor des Museums, Anm. d. Red.) wurde direkt rassistisch beschimpft und angespuckt. Am Sonntagmorgen haben wir schließlich dem Wunsch von Tania Bruguera entsprochen, die Performance abzubrechen."

Schon das "Übergewicht antiisraelischer Stimmen unter den Prominenteren auf der Redner:innenlisten" ließ bei Jens Winter Zweifel aufkommen, ob hier Raum zur offenen Diskussion bestand, wie er in der taz schreibt. "Gegenüber Mirjam Wenzel, deren Engagement für Israel darin besteht, dass sie am 11. Oktober 'fehlende Empathie' mit Juden im Kulturbetrieb attestierte, stand eine Vielzahl bekannter Gegner Israels, wie Masha Gessen, Deborah Feldman und Tomer Dotan-Dreyfus."

In der Welt möchte Christian Meier die Aktion als das bezeichnet wissen, was sie war, "eine offene Proklamation von Antisemitismus". Denn den Aktivisten geht es nicht darum "für" etwas zu sein, sie positionierten sich "gegen einen offenen Dialog, der geplant war, gegen die Künstlerin, gegen Israel."

Weiteres: Auch im MoMa in New York gab es am Wochenede antisemitische Proteste, meldet Bernhard Schulz im Tagesspiegel. Neben den üblichen Parolen "nannten die Aktivisten auch fünf Mitglieder des Aufsichtsrates des MoMA, denen sie wirtschaftliche Beteiligung insbesondere an israelischer Rüstungsindustrie vorwerfen. Es handelt sich ausnahmslos um jüdische oder familiär verbundene Mäzene, unter ihnen Ronald Lauder, der Präsident des Jüdischen Weltkongresses."

Besprochen werdem die Ausstellung "Frank Auerbach. The Charcoal Heads" in der Courtauld Gallery in London (FAZ), die Installation "Alreadymade" im Kunsthaus Zürich (NZZ) und eine Ausstellung der Multimedia-Künstlerin Emilija Škarnulytė im Kunsthaus Göttingen (taz).
Archiv: Kunst

Film

Nach den Störaktionen der Performance im Hamburger Bahnhof in Berlin rechnet Harry Nutt von der Berliner Zeitung auf der Berlinale mit ähnlichen Szenen und Aktionen israelfeindlicher Aktivisten, zumal auch in New York Kunsteinrichtungen am vergangenen Wochenende gestört wurden. "Den Akteuren wütender Proteste ging es noch nie um Differenzierung und eine pflegliche Anerkennung ihrer Sicht auf die Dinge. Wer sich einer Bewegung mit dem Namen Strike Germany anschließt und damit zum Ausdruck bringt, dass er den deutschen Staat und seine Institutionen für ein gelenktes Überwachungsregime hält, der ist vermutlich nicht für etwas zu gewinnen, das der amerikanische Philosoph Nelson Godman 'The Ways Of Worldmaking' genannt hat. Dabei käme es gerade jetzt auf eine Art relativistischen Pluralismus an, in dem man an seinen eigenen Prägungen festhält und zugleich offen ist für neue. Früher einmal galt das Kino als Ort, an dem solche Welten erzeugt wurden."

In Russland sorgt Michail Lokschins mit August Diehl besetzte Bulgakow-Adaption "Meister und Margarita" für volle Säle. In den Film sind wohl auch einige Spitzen gegen Putins Russland eingebaut, die das Publikum allem Anschein nach auch sehr zur Kenntnis nimmt, berichtet Stefan Scholl in der FR. "Aber Moskau wäre nicht Moskau, wenn es jetzt kein patriotisch-antiwestliches Gezeter gäbe: Lokschin sei US-Bürger und gegen Putins ukrainische 'Spezialkriegsoperation', sein Film aber ebenso antirussisch wie antisowjetisch, schimpft der TV-Moderator Tigran Keossajan. 'In Russland herrscht regelrecht masochistische Duldsamkeit gegen unsere offenen Feinde.' Nicht nur er fordert, die Sicherheitsorgane einzuschalten. ... In den großen Moskauer Kinos wird inzwischen nach den Aufführungen applaudiert. Dass Staat und Gesellschaft sich unter Putin wieder Richtung Sowjetunion in den Vorkriegsjahren bewegen, das spüren die Menschen."

Außerdem: Mathias Raabe freut sich auf Zeit Online über das aktuelle Comeback der Musicals im Kino: "Sie werden wieder gesellschaftsfähig in Zeiten, in denen es nicht mehr stigmatisiert wird, über Gefühle zu reden." Alexander Braun spricht im Tagesspiegel über die von ihm kuratierte Simpsons-Ausstellung im Schauraum Dortmund. Felicitas Kleiner stöbert für den Filmdienst durchs Archiv des Public-Domain-Portals WikiFlix. Helmut Hartung wirft in der FAZ einen Blick auf die Lage der deutschen Filmproduzenten, die sich erhoffen, dass Claudia Roth heute endlich ihre Reform der Filmförderung auf den Tisch legt.

Besprochen werden Andrew Haighs "All of Us Strangers" (Jungle World, unsere Kritik), Tina Satters "Reality" (FAZ), Felipe Gálvez' Debütfilm "Colonos" (Tsp), die Amazon-Serie "Mr & Mrs Smith" (NZZ), die ARD-Actionserie "School of Champion" (FAZ) und Ian Penmans Buch "Fassbinder. Tausende von Spiegeln" (SZ).
Archiv: Film

Musik

Die Agenturen melden, dass Milo Rau als Leiter der Wiener Festwochen das geplante Konzert des von Teodor Currentzis dirgierten SWR-Sinfonieorchesters nach Protest der ebenfalls im Programm des Festivals vorgesehenen, ukrainischen Dirigentin Oksana Lyniv abgesagt und Currentzis wieder ausgeladen hat. Im Dlf Kultur spricht Rau über seine Beweggründe zunächst für diese antagonistische Programmierung und nun für die Absage. In der SZ gratuliert Nele Pollatschek Robbie Williams zum 50. Geburtstag. Jona Spreter schreibt auf Zeit Online einen Nachruf auf den Rapper Pablo Grant.

Besprochen werden neue Popveröffentlichungen, darunter eine neue EP von Burial ("bedrohlich summen die Oldschool-Synthies, die Beats böllern", schreibt Christian Schachinger im Standard).

Archiv: Musik

Literatur

Felix Stephan staunt in der SZ, wie es dem Popstar Dua Lipa gelingt, mit ihrem Buchclub im Netz die GenZ wieder zum Lesen zu bringen. Dort gibt es "auch halbstündige Interviews mit keineswegs auf Niedrigschwelligkeit bedachten Autoren wie Patti Smith, Emma Cline, Brit Bennett und Khaled Hosseini zu sehen. Diese Autorengespräche führt Dua Lipa selbst und beschäftigt sich darin in einer Ausführlichkeit mit den Büchern ihrer Gäste, die bei den Programmverantwortlichen im öffentlich-rechtlichen Rundfunk längst ein nervöses Reformbedürfnis ausgelöst hätte. ... Welchen Einfluss Dua Lipas Literatursendung auf die Verkäufe dieser Bücher hat, ist nicht im Detail erhoben, aber wenn ein Konzert von Beyoncé in Stockholm die Hotelpreise dermaßen in die Höhe treibt, dass der Effekt in der schwedischen Inflationsrate sichtbar wird, könnte das für die Auswirkungen, die Dua Lipas Anwesenheit auf dem vergleichsweise überschaubaren Markt für anspruchsvolle Literatur hat, schon eine praktikable Vergleichsgröße sein."

Weitere Artikel: Aus Rom schreibt Annabelle Hirsch an die taz, dass Elsa Morantes "La Storia" aus dem Jahr 1974 dieser Tage wie weiland zu seinem Erscheinen die Bestsellerlisten Italiens beherrscht, seit der Roman vor kurzem fürs Fernsehen adaptiert wurde - und vielleicht auch, "weil er heute, fünfzig Jahre später, erschreckend gut in die Zeit passt". Schriftsteller John Lewis-Stempel spricht in der FR mit Sylvia Staude über die Vorzüge von Nachtspaziergängen in der Natur. Für die FAZ wirft Frauke Steffens einen Blick auf den anhaltenden Memoir-Boom: "Nie war diese radikale Subjektivität bei Lesern beliebter." Der Schriftsteller Uwe Timm schreibt in der SZ einen Nachruf auf den Germanisten Ulrich Dittmann.

Besprochen werden unter anderem Dilek Güngörs "A wie Ada" (FR), Julia Josts "Wo der spitzeste Zahn der Karawanken in den Himmel hinauf fletscht" (Standard), Albrecht Selges "Silence" (SZ) und Martin Doerrys "Lillis Tochter" (FAZ). Mehr ab 14 Uhr in unserer aktuellen Bücherschau.
Archiv: Literatur

Bühne

"Ja, nichts ist ok." an der Berliner Volksbühne.

Nachtkritiker Christian Rakow horcht bei Fabian Hinrichs und René Polleschs neuer Inszenierung "Ja, nichts ist ok" an der Berliner Volksbühne konzentriert "am Herz der kranken Zivilation". Auf der Bühne sieht er eine Wohngemeinschaft, die erhitzt über Nahost diskutiert, sich gleichzeitig über alltägliche Probleme aufregt - bis die Dinge eskalieren. Das Stück kommt leicht daher, meint Rakow, aber unter der Oberfläche brodelt es: "Es ist ungemein reizvoll, den ungelösten Widerstreit der intellektuellen Suchbewegungen wie auch der Atmosphären und künstlerischen Mittel an diesem Abend zu erleben. Den Kampf zwischen Klamotte und Erkenntnisbegehren. Da wird man mal in kindische Witze aus Grabbelkisten-Büchern gestoßen, dann wieder versuchen die Figuren, eine tastende theoretische Sprache für ihr instabiles Weltverhältnis zu finden. 'Ist es ein Verbrechen, fröhlich zu sein?', fragt Hinrichs, als sich der lange unschöne WG-Tag zur Nacht bettet und er in der Rolle des Stefan unter dem Leuchten des Vollmonds über sich und die Verhältnisse nachdenkt. Man weiß nie, ob man lachen oder weinen soll."

Einen unterhaltsamen Abend hat auch Simon Strauß für die FAZ verbracht, Fabian Hinrichs Solo-Performance findet er beeindruckend: "Wobei die Komik vor allem dadurch entsteht, dass Hinrichs nicht von einer Rolle zur anderen hastet, sondern sich für seine Persönlichkeitswechsel jeweils alle Zeit der Welt nimmt, ruhig, fast melancholisch von einem Typen zum anderen schlendert. Und dabei stets so ernst aussieht, als spiele er vor allem gegen eines an: das große Egal."

Besprochen werden Barrie Koskys Inszenierung von Franz Léhars Oper "Die lustige Witwe" am Opernhaus Zürich (SZ, FAZ, NZZ), Robert Carsens Inszenierung von Detlev Glanerts Oper "Die Jüdin von Toledo" an der Semperoper in Dresden (BlZ, Welt), Falk Richters Inszenierung von "Bad Kingdom" an der Schaubühne in Berlin (nachtkritik, tsp), Schorsch Kameruns Inszenierung von "Cap Arcona" am Theater Lübeck (taz), Lars-Ole Walburgs Adaption von Saša Stanišićs Roman "Vor dem Fest" am Schauspiel Hannover (nachtkritik), und Trajal Harrells Choreografie "Tambourines" am Schauspielhaus Zürich (FAZ).
Archiv: Bühne