Efeu - Die Kulturrundschau

Keine Schnörkel

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21.02.2024. Auf der Berlinale spürt Zeit online mit Tilman Singers Horrorfilm "Cuckoo" den Dämon in sich. Die NZZ setzt sich den bösen Blicken der DDR-Kunst aus, die im Schaulager in Beeskow lagert. Die FAZ swingt in Graz mit Anton Foersters slowenischer Nationaloper "Die Nachtigall von Gorenjska". Die taz lässt sich von Brittany Howard Klangschalen aus Quarz reichen.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 21.02.2024 finden Sie hier

Film

Szene aus Tilman Singers "Cuckoo"

Im Wettbewerb der Berlinale ist nach dem Wochenende tendenziell Ruhe eingekehrt. Eine Gelegenheit, auf die übrigen Sektionen zu blicken. Für Furore sorgt Tilman Singers "Cuckoo" in Berlinale Special: Ein deutscher Horrorfilm, dessen Hauptfigur Gretchen in einem Bayerischen Naturhotel das Fürchten gelehrt wird. Mathis Raabe ist auf Zeit Online äußerst angetan von Singers Gruselkunst: "Während Gretchen abends auf dem Fahrweg unterwegs ist, überholt ihr Schatten sie auf der Straße immer wieder, schließlich strecken sich Arme hinter ihr aus. Oben und unten werden vertauscht in 'Cuckoo', Menschen kommen aus Richtungen, in denen man sie nicht vermutet hat, und während Stiefschwester Alma einen epileptischen Anfall hat, gerät der lineare Zeitverlauf durcheinander: Sequenzen wiederholen sich, als hätte sich die Filmrolle verhakt; das Bild wabert, als hätte ein Dämon von der Projektion selbst Besitz ergriffen. Das würde zumindest einiges erklären." Andreas Busche stellt im Tagesspiegel die Hauptdarstellerin des Films Hunter Schafer vor.

Thomas Arslans "Verbrannte Erde"

Das Panorama zeigt "Verbrannte Erde" von Thomas Arslan - ein Wiedersehen mit Mišel Matičevićs Trojan, der Hauptfigur in Arslans Gangsterfilms "Im Schatten". Michael Meyns zeigt sich auf Filmstarts äußerst angetan von der Wiederbegegnung: "Was Thomas Arslan an dieser Figur interessiert, ist also nicht die Tiefe des Charakters, sondern die reine Oberfläche, das Agieren, das Handeln. Kein Wunder, heißt seine Produktionsfirma doch 'Pickpocket', benannt nach Robert Bressons gleichnamigem Klassiker, der minutiös einen Taschendieb bei der Arbeit zeigt. 'Verbrannte Erde' ist wie der Vorgänger erneut ein Film der Beobachtung und der Bewegung, kein reißerischer Thriller, auch wenn die Spannung bisweilen enorm ist. Schüsse fallen nicht wahllos, sondern gezielt - so wie Trojan darauf achtet, keine unnötigen Bewegungen zu machen, so versucht auch Arslan, filmisch alles auf den Punkt zu bringen, keine Schnörkel zu ziehen, nie den Stil in den Vordergrund zu stellen." Andreas Busche schreibt im Tagesspiegel ("Trojans Rückkehr sieht durch die Kamera von Reinhold Vorschneider fantastisch aus, metallisch-monochrom leuchtet die Nacht, minimalistisch pulsiert der Soundtrack"). In der taz unterhält sich Tim Caspar Boehme mit Arslan.

Also doch: Auf der Berlinale wird über das große Thema Gazakrieg diskutiert. Allerdings nur im "Tiny House Project" auf dem Potsdamer Platz. Hier waren Festivalbesucher, wie Jonathan Guggenberger in der taz berichtet, geladen, "mit dem in Berlin geborenen Juden [Shai] Hoffmann und dem in einem syrischen Flüchtlingslager aufgewachsenen Palästinenser [Ahmad] Dakhnous über ihre Gedanken, Meinungen und vor allem ihre Gefühle bezüglich Israel/Palästina auszutauschen". Zu besprechen gibt es laut beiden genug. "Für Hoffmann ist eine Grenze erreicht, wenn Aktivisten wie die 'Filmmakers for Palestine' auf der Berlinale zwar lautstark protestieren, aber nicht bereit seien, den angebotenen Dialogfaden aufzunehmen. Unpassende Buzzwords wie 'Genozid' oder 'Zionismus ist Rassismus' seien für die Aktivisten oft wichtiger als ein differenzierter Austausch. Differenzierung heißt für Hoffmann auch: 'Ja, ich bin Zionist, ich bin für das Existenzrecht Israels, ich kann aber auch gegen die illegale Besatzung durch die israelische Regierung sein.'"

Außerdem: Andreas Kilb kürt die diesjährige Berlinale in seinem jüngsten FAZ-Überblickstext zum "Festival der erfundenen Stimmen" und meint: es fehlt nach wie vor "[e]in großer Film". Daniel Kothenschulte zeigt sich in der FR ebenfalls enttäuscht vom Wettbewerb, empfiehlt aber den Forumsfilm "Mit einem Tiger schlafen". Marie-Luise Goldmann stellt in der Welt fünf Frauenfiguren der Festivalauswahl vor. Valerie Dirk resümmiert im Standard zwei deutschsprachige Wettbewerbsfilme. Christiane Peitz gratuliert im Tagesspiegel Martin Scorsese zum Ehrenbären. Robert Ide interviewt im Tagesspiegel die Schauspielerin Bahira Ablassi, die im Berlinale-Special-Film "Shikun" zu sehen ist. Jens Balkenborg porträtiert für epd film die vielbeschäftigte Berlinaleschauspielerin Renate Reinsve. Besprochen werden Alexander Horwaths Essayfilm "Henry Fonda for President" (taz), der Panoramafilm "Faruk" (critic.de), "Love Lies Bleeding" aus der Sektion Berlinale Special (critic.de), die Forumsfilme "Redaktsiya und "Intercepted" in einer Doppelbesprechung (taz), der Wettbewerbsfilm "A Different Man" (filmdienst), der Wettbewerbsfilm "Sterben" (epd film), der Wettbewerbsfilm "Architecton" (taz), der Woche-der-Kritik-Film "Abendland" (Filmstarts), der Wettbewerbsfilm "Des Teufels Bad" (Tagesspiegel, Die Presse, Filmstarts, Moviepilot), dessen Hauptdarstellerin Anja Plaschg im Standard vorgestellt wird, der Encountersfilm "Ivo" (Filmstarts), der Wettbewerbsfilm "Pepe" (Filmstarts).

Abseits der Berlinale: Gefahren und Chancen von Künstlicher Intelligenz treiben die Filmbranche um - auch in Deutschland. Die Schauspielergewerkschaft BFFS versucht gerade, legt Wilfried Urbe in der taz dar, sich gemeinsam mit der deutschen Produzentenallianz auf das weitere Vorgehen zu einigen. Konkret geht es um Möglichkeiten, Schauspieler durch KI-Doubles zu ersetzen und um Ausgleichszahlungen, die dann fällig sein sollten. Fabian Tietke empfiehlt in der taz Berlin die Wiederaufführung des Dokumentarfilms "B-Movie: Lust & Sound in West-Berlin 1979-1989". Anna Lindemann unterhält sich für taz Nord mit Oliver Kanehl, Regisseur des Films "Sprechen Sie Deutsch". Besprochen werden Radu Judes "Erwarte nicht zu viel vom Ende der Welt (Die Presse) und Luc Jacquets Rückkehr zum Land der Pinguine" (filmdienst).
Archiv: Film

Kunst

Paul Jandl besucht für die NZZ das Schaulager in Beeskow, wo DDR-Kunst aus den Büros der SED-Funktionäre, der Gewerkschafts- und Parteizentralen lagert. Es ist eine Zeitreise, und mehr: "Das Archiv in Beeskow ist Ort eines psychologischen Phänomens. Fünfunddreißig Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer ist das Pathos längst abgeplatzt. Die Kunst, die zur Verherrlichung einer sozialistischen Zukunft geschaffen wurde, hat sich auf und davon gemacht und schaut auf einmal böse zurück." Zum Beispiel Neo Rauchs "Die Kreuzung" von 1984: "Es zeigt einen Volkspolizisten beim Regeln des Verkehrs, auffliegende weiße Tauben und davor eine dynamische kleine Gruppe von Menschen. Es ist das Selbstporträt eines Künstlers, der sich heute von diesem Bild distanziert. In seinen offiziellen Werkkatalog hat Neo Rauch es nicht aufgenommen. Es sei zu epigonal. Die Geschichte der 'Kreuzung' ist sehr speziell und doch im Muster staatlicher Kunstankäufe der DDR nicht ungewöhnlich. ... Ein interessantes Detail des Bildes von Neo Rauch: Hinter den dynamischen Figuren ist auf einer Litfasssäule ein riesiges Auge zu sehen. Es erinnert an George Orwells Roman '1984', die große Phantasmagorie vom Überwachungsstaat. Es muss kein Zufall sein, dass das Entstehungsjahr der 'Kreuzung' ausgerechnet auch 1984 ist. Ursprünglich sollte das Bild prominent im Foyer der FDJ-Hochschule hängen, später hat man es in einen Raum des Internats verbannt."

Weiteres: Ute Meta Bauer plaudert in der SZ, ohne groß von kritischen Nachfragen belästigt zu werden, über die von ihr kuratierte Diriyah-Biennale in Saudi-Arabien. Besprochen werden die Ausstellung "Closer to Nature" in der Berlinischen Galerie (Tsp) und eine Ausstellung des guadelupischen Künstlers Kenny Duncan, "Bidim blo!", im Frankfurter basis e. V. (taz).
Archiv: Kunst

Design

Die Krawatte ist zurück, meldet Jeroen van Rooijen in der NZZ. Nachdem das Kleidungsstück noch vor ein paar Jahren als erledigt galt, und das deutsche Krawatteninstitut sogar aufhörte, Krawattenträger des Jahres zu küren, entdeckt nun eine neue Männergeneration den Schlips. "Die Mode hat diesen Wandel registriert und zeigt die Krawatte wieder auf dem Laufsteg. Bei den Designer-Schauen für den kommenden Herbst war sie ein grosses Thema, etwa bei Prada, wo man etwas vollmundig das Ende der Home-Office-Ära ausrief. Nach Jahren des kollektiven Sweatshirt-Schlendrians sei es wieder an der Zeit, sich 'ordentlich' angezogen ins Büro zu begeben, fand das Design-Duo Miuccia Prada und Raf Simons. Es verlieh der Forderung Nachdruck, indem es das Publikum der Show auf Bürostühlen sitzen liess. Als Einladung zur Präsentation verschickte Prada - was sonst? - eine seidene Krawatte."

Ebenfalls in der NZZ porträtiert Nadine A. Brügger die Designerin Elena Velez. Ein neuer Star der Branche, der sich allerdings nicht mit dem, sondern gegen den Zeitgeist profiliert: "Bewusst auf Diversity setzt Velez nicht, die Zusammensetzung der Models ergebe sich von allein. Bei ihr sei meistens ausschlaggebend, wer sich in Form von Kleidern, statt eines Lohns, bezahlen lasse. Plus-Size-Models, wie sie sogar Heidi Klum feiert, sucht man bei Velez vergeblich. Zusätzlich auch noch große Kleider zu machen, könne sich ein kleines Label schlicht nicht leisten, schrieb Velez auf Social Media. Das zu verlangen, sei nicht inklusiv, sondern ignorant. Denn junge Designer mit kleinem Budget würden ausgeschlossen, wenn auch große Größen bei Modeshows erforderlich seien."
Archiv: Design
Stichwörter: Krawatte, Velez, Elena, Prada

Bühne

Szene aus Anton Foersters Oper "Die Nachtigall von Gorenjska". Foto: Werner Kmetitsch


Warum hört man bei uns eigentlich nie Anton Foersters "Die Nachtigall von Gorenjska", fragt sich in der FAZ Reinhard Karger, nachdem er diese slowenische Nationaloper jetzt erstmals an der Oper Graz erlebte. Mit Janusz Kicas Inszenierung kann er zwar nicht viel anfangen, aber die von Marko Hribernik "mit viel Verve interpretierte Musik" imponiert ihm: "Drei geschickt kombinierte Komponenten bestimmen Foersters Musik: der unüberhörbare Einfluss Smetanas, aber auch der burlesken Operetten Jacques Offenbachs, die damals sehr beliebt waren in Slowenien, und vor allem der Bezug zur slowenischen Volksmusik. Dass einige der Arien und Duette der Oper selbst zu slowenischem Volksliedgut wurden, spricht für das Geschick des Komponisten. Vor allem die komplexen Chorszenen mit dem fabelhaften, von Johannes Köhler einstudierten Chor der Oper Graz und etliche Ensembleszenen, wie ein polyphon gesetztes Oktett im dritten Akt, besitzen eine überraschend hohe Qualität."

Besprochen wird außerdem Frank Castorfs Inszenierung von Thomas Bernhards "Heldenplatz" am Wiener Burgtheater (Zeit online).
Archiv: Bühne

Literatur

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Angela Schader stellt in ihrer Perlentaucher-Kolumne "Vorworte" den neuen Roman von Teju Cole vor, "Tremor": Cole "ist jedenfalls kein Autor, der sich im freien Kreieren von Figuren, im Entwickeln und Verflechten von Schicksalen, der Konstruktion von Handlungs- und Spannungsbögen ergeht, wie sie generell mit dem Handwerk des Romanciers assoziiert werden; und auffallend ist auch die Art, wie er sich in seinen bisher drei Romanen an die Hauptfiguren herantastet. Da sind etwa die biografischen Marker, die sie miteinander und auch mit ihrem Schöpfer gemein haben: Wie Cole sind der namenlose Protagonist des 2007 erschienenen Erstlings 'Every Day Is for the Thief' (dt. 'Jeder Tag gehört dem Dieb'), der Ich-Erzähler Julius in 'Open City' und nun auch Tunde, mit 17 Jahren aus ihrer Heimat Nigeria in die USA emigriert, wobei sich dahinter allerdings unterschiedliche Familiengeschichten abzeichnen. Julius und Tunde teilen mit dem Autor zudem das breite Interessenspektrum, die Leidenschaft für Klassik, Jazz oder afrikanische Musik - und vor allem die teils fruchtbaren, teils schmerzhaften Reibungen, die ein Leben 'im Zentrum des weißen Wissens' mit sich bringt. Und Tunde unterrichtet, wie Cole selbst, an der Harvard University."

Judith von Sternburg liest in der FR "Bloodbath Nation", ein schmales Buch, in dem sich Paul Auster, äußerst kritisch, mit der Waffenkultur der USA beschäftigt. Das Thema ist für den Autor auch biographisch grundiert: "Er war selbst ein guter Schütze. Als Amerikaner kam er im Sommercamp und bei Freunden in die Situation zu schießen, er geht davon aus, dass er als begeisterter Baseballer im Vorteil war. Über sein erstes und einziges Erlebnis mit Tontauben schreibt er: 'Den ganzen Nachmittag habe ich kein einziges Mal danebengeschossen.' Warum hat er es gelassen? Er wundert sich selbst. In seiner Familie, schreibt er, habe es keine Waffen gegeben und kein Interesse daran. Erst als Erwachsener erfährt er, dass seine Großmutter väterlicherseits ihren Mann erschossen hat, dass sein Vater das als Kind miterlebt hat, dass eine Waffe sein Leben eigentlich ruiniert hat."

Besprochen werden unter anderem Konrad Rufus Müllers Fotoband "Konrad & Konrad" (FAZ), Irene Langemanns "Das Gedächtnis der Töchter" (FAZ), Ludwig Hohls "Die seltsame Wendung" (Zeit), Jonathan Lethems "Der Stillstand" (SZ) und Alia Trabucco Zeráns "Mein Name ist Estella (SZ).
Archiv: Literatur

Musik

Sven Beckstette freut sich über das neue Album der vielseitigen amerikanischen Sängerin Brittany Howard. "What Now" ist ein Coronaprojekt, kommt aber keineswegs zu klaustrophobisch daher. Textlich geht es um Persönliches und um Liebesfragen, musikalisch in Richtung Rock und Soul. "Höhepunkt ist ohne Zweifel 'Prove It to You' mit einem brachialen Stampfbeat, verzerrtem Basslauf und einer beißenden Synthesizerfanfare sowie Howard in ihrer tiefsten Lage. Dass ihr neues Album nicht in ihre ungeschliffenen Einzelteile zerfällt, liegt zum einen an der Stimme von Howard und zum anderen an einem Leitmotiv, das sich durch alle Songs zieht: Zwischen den Stücken ertönen meditative Flächen von Klangschalen aus Quarz, die Ruhepunkte bieten und zugleich die Stücke mit ihren unterschiedlichen Stilen und Emotionen zu einer Einheit verschmelzen"

Wir hören rein:



Besprochen wird außerdem das toechter-Album "Epic Wonder" (taz).
Archiv: Musik
Stichwörter: Howard, Brittany, What Now