Efeu - Die Kulturrundschau

Menschliche Abgründe

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07.03.2024. Die FAZ hört beim Auftakt der Lit.Cologne einen zornigen Michel Friedman, der fragt, weshalb die Deutschen nicht gegen Antisemitismus auf die Straße gehen. Der Tagesspiegel blickt fassungslos auf die Berliner Club-Szene, die Aufrufe unterschreibt, die das Hamas-Massaker als "natürliche Reaktion" bezeichnen. Monopol schießt mit Wim Delvoye in Genf auf Warhol, Cranach und Picasso. Für bedingungslose Kunstfreiheit setzen sich Sasha Marianna Salzmann im Tagesspiegel und Hans Eichel in der Zeit ein. Und der Perlentaucher setzt sich zu Michael Mann in einen geschmeidigen "Ferrari".
9punkt - Die Debattenrundschau vom 07.03.2024 finden Sie hier

Literatur

Oliver Jungen berichtet in der FAZ vom Auftakt der Lit.Cologne, der ganz im Angesicht eines wiedererstarkenden Antisemitismus stattfand. Auf der Bühne sprachen Michel Friedman, Robert Habeck und Nele Pollatschek. Es "wurde erstaunlich ungeschützt gesprochen, mal tastend, mal fordernd. Nele Pollatschek machte deutlich, wie alleingelassen sich Juden nach dem Anschlag gefühlt haben, weil die sonst übliche Welle der Solidarität mit ihnen ausblieb und stattdessen die Anfeindungen zunahmen. Hunderttausende trieb erst das Potsdamer Geheimtreffen zur 'Remigration' auf die Straße, ergänzte Friedman, nicht der Umstand, dass wieder 'Tod den Juden' gerufen worden sei. Seinen Zorn hielt er nicht zurück. Gebrochen worden sei das Wehret-den-Anfängen-Versprechen dieses Landes, auf das er trotz aller Anfeindungen lange gebaut habe." Für die taz berichtet Dorothea Marcus.

Außerdem: In der FAZ wirft Tilman Spreckelsen einen Blick auf Theodor Fontanes Antisemitismus. Besprochen werden unter anderem Werner Herzogs Essay "Die Zukunft der Wahrheit" (Standard), Joy Williams' "In der Gnade" (FR), Lize Spits "Der ehrliche Finder" (NZZ), Ulrich Chaussys Biografie über Arthur Eichengrün (online nachgereicht von der FAZ) und Didier Eribons "Eine Arbeiterin" (FAZ).
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Kunst

Bild: Room Vénus Italica. Exhibition The Order of Things (2024) First "salle palatine" © Musée d'art et d'histoire de Genève, Foto: Stefan Altenburger

So kann Vandalismus im Museum auch Spaß machen, freut sich Lisa-Marie Berndt, die für Monopol die Ausstellung "Wim Delvoye: The Order of Things" im Genfer Musée d'Art et d'Histoire besucht hat. Delvoye ist jener belgische Konzeptkünstler, der bereits einen echten Kot produzierenden Verdauungstrakt baute oder Schweine tätowierte. Die aktuelle Ausstellung ist harmloser, atmet Berndt auf: "Der Belgier verdreht Nachbildungen antiker Skulpturen, verwandelt sie in Murmelbahnen, lässt faustgroße Metallkugeln eines an den Wänden angebrachten Systems unter metallischem Rattern durch durchlöcherte Werke der Kunstgeschichte schießen, sie fröhlich von Epoche zu Epoche hüpfen, von Rafael bis Warhol, von Cranach bis Picasso. Unter den durchlöcherten Werken ist auch ein sakrales Holzrelief aus dem 17. Jahrhundert, das aus Wim Delvoyes ziemlich beeindruckender Privatsammlung stammt. Dort, wo einst der Kopf des Christuskindes war, klafft jetzt ein Loch, durch das eine Kugel rast."

Textilkunst befreit sich derzeit aus dem Nischendasein - und mit der Ausstellung "Vom Faden zur Form - Sofie Dawos Textilkunst zwischen Zero und Konkretion" trägt auch das Kunsthaus Dahlem dazu bei. Großartig findet Tom Mustroph in der taz, wie die Ausstellung Werke Dawos mit jenen der Künstlerbewegung ZERO und zeitgenössischen Arbeiten von Haleh Redjaian verknüpft: "Bei Dawo kann man in späteren Jahren auch Ausflüge ins Dreidimensionale beobachten. Sie ließ in den 1970er Jahren lange Fäden aus ihren Wandbehängen heraushängen. Das führte nicht nur zu einer Art Schüttelfrisur dieser textilen Objekte. Weht etwas Luft durch den Raum, bewegen sich die Fäden sogar."

In der Zeit kürt Hanno Rauterberg den einstigen Bundesfinanzminister Hans Eichel, den Rauterberg offenbar besucht hat, zum Retter der Kunstfreiheit, ja zum "Dissidenten von Kassel". Denn Eichel setzt sich nicht nur für den Erhalt der Documenta, sondern auch gegen einen geplanten "Code of Conduct" ein. "'So weit sind wir also inzwischen', sagt Eichel, 'dass der Staat sagt, was ausgestellt werden soll.' Das sei ja wie zuletzt in Polen oder wie in Israel mit seiner rechtsradikalen Regierung: Zensur!" Die Kunstfreiheit dürfe nicht eingeschränkt werden, nur durch Aufklärung lasse sich Antisemitismus bekämpfen, so Eichel weiter. "Nicht Politiker, erst recht nicht Kulturbürokraten dürften entscheiden, ob ein Kunstwerk gegen geltendes Recht verstoße. 'Ausschließlich Gerichte treffen diese Entscheidung', sagt Eichel und hebt seinen berühmten Zeigefinger. Alles andere sei 'extrem schädlich und extrem verfassungsfeindlich'."

Besprochen werden die große Hip-Hop-Schau "Culture" in der Frankfurter Schirn (Zeit, mehr hier), die Ausstellung "Hanna Bekker vom Rath. Eine Aufständische für die Moderne" im Berliner Brücke-Museum (FAZ) und die Ausstellung "Please Touch" im Düsseldorfer Museum Kunstpalast, die die Besucher dazu auffordert, Skulpturen von Tony Cragg anzufassen (wovon Cragg weniger begeistert war, wie Lisa Berins in der FR weiß).
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Film

Anmut in der Trauer ums Paradies: "Ferrari" von Michael Mann

Michael Manns neuer Film "Ferrari" ist leider nur auf Amazon Prime und nicht im Kino zu sehen. Seinen Titel trägt das Biopic dabei wohl eher aus Marktkalkül, glaubt Robert Wagner im Perlentaucher: Jedenfalls weiß man nach dem Film nur ein bisschen mehr über Enzo Ferrari (Adam Driver), hat aber "einer zutiefst universellen Erzählung" beigewohnt. "Manns Film zeichnet nicht das Porträt eines Rennstalls, sondern malt das Porträt eines Lebens in der Gegenwart, das aus der Perspektive eines verloren gegangenen (oder nie erreichten) Paradieses immer beschwerlich wirkt. Die größte Qualität von 'Ferrari' ist, dass eben dies nicht als triste, bedeutungsschwere Erkenntnis präsentiert, sondern mittels eines eleganten, lustgesteuerten, zuweilen makabren Genrefilm gefeiert wird."

Weitere Artikel: Die Enthüllungen um Oliver Stone, der nach Recherchen von unter anderem Spiegel, ZDF und Standard offenbar bei autoritären Machthabern die Klinke putzt, um sie für schmeichelhafte Porträtfilme zu gewinnen (unser Resümee), hätte man bereits 2022 bringen können, schreiben Tobias Kniebe und Susan Vahabzadeh in der SZ - zumindest lagen schon damals entsprechende Informationen auf dem Tisch, die die SZ selbst damals allerdings auch nicht aufgegriffen hat. In der FR verneigt sich Daniel Kothenschulte vor der Schauspielkunst von Sandra Hüller, die sich Hoffnungen auf einen Oscar machen kann. Für die Welt plaudert Hanns-Georg Rodek mit Ethan Coen und Tricia Cooke über deren lesbische Krimikomödie "Drive-Away Dolls" (unsere Kritik). Patricia Kornfeld empfiehlt im Standard das Wiener Festival "Tricky Women Tricky Realities" mit Animationsfilmen von Frauen.

Besprochen werden Eric Gravels Sozialdrama "Julie - Eine Frau gibt nicht auf" (FD, SZ), Veit Helmers queeres Liebesdrama "Gondola" (FD, SZ), die DVD-Ausgabe von Adil El Arbis und Bilall Fallahs "Rebel" (taz), Johan Rencks auf Netflix gezeigter Science-Fiction-Film "Spaceman" mit Adam Sandler (FR), Florian David Fitz' auf Netflix gezeigte Science-Fiction-Serie "Das Signal" (Welt), die Sky-Serie "Mary & George" mit Julianne Moore (Tsp) und die auf Disney+ gezeigte Serie "Shōgun" (Presse). Außerdem meldet die SZ, welche Filme sich in dieser Woche lohnen und welche nicht. Und hier der Überblick des Filmdiensts über alle Starts in dieser Woche.
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Bühne

In der FAZ wirft Marc Zitzmann einen Blick auf die Krise der französischen Theater: Der Sektor soll laut Nicolas Dubourg, Präsident des Syndicat national des entreprises artistiques et culturelles, eine Unterfinanzierung von 100 Millionen Euro aufweisen. Produktionen und Tourneen wurden abgesagt, Aufführungen auf wenige Termine zusammengestrichen. "Mit Abstand am schwersten zu Buche schlägt ..., dass die Gehälter je nach Statut des betreffenden Hauses punktuell oder jährlich erhöht werden (müssen). Und ihre Steigerung gemeinhin der Inflationskurve folgt. Ein Problem, vor dem übrigens auch deutsche Theaterhäuser stehen. Bei großen Strukturen wie Opernhäusern machen die Saläre im Schnitt rund 70 Prozent des Gesamtbudgets aus. Schon ein kleiner Anstieg des Gehaltsaufkommens drückt da gewaltig auf die einzige Variable: den künstlerischen Etat. Zumal die Subventionen seit Jahren stagnieren."

Der Tagesspiegel bringt eine gekürzte Version der Rede, die die Dramatikerin Sasha Marianna Salzmann bei der Veranstaltung "Kultur und Demokratie" im Kanzleramt hielt. Salzmann denkt über die Kunst als Ort nach, in dem jede Stimme Gehör findet - und kein Ausschluss stattfindet: "Auch wenn die Künstler*innen als Menschen den humanistischen Ansprüchen nicht immer gerecht werden mögen - die Kunst selbst nimmt alle Protagonist*innen gleich wichtig und gleich ernst. Wenn sie es nicht tut, ist sie Propaganda. Aber wenn sie ein Ort der Verhandlung der Widersprüchlichkeiten und Ambivalenzen der conditio humana ist, dann ist sie auf der Seite der Menschlichkeit."

Weitere Artikel: In der Welt berichtet Jakob Hayner von der Tagung "Macht Kritik Theater?" in der Akademie der Schönen Künste in München, bei der nur in einem Punkt Einigkeit herrschte: Es braucht "eine Kritik, die nicht bloß nachvollzieht oder empfindsame Künstlerseelen streichelt, sondern ein eigenes Urteil riskiert." In der FR schreibt Judith von Sternburg einen Nachruf zum Tod des im Alter von 89 Jahren verstorbenen britischen Dramatikers Edward Bond, in der NZZ erinnert Marion Löhndorf. Herbert Föttinger gibt 2026 die künstlerische Leitung, Alexander Götz die kaufmännische Direktion am Wiener Theater in der Josefstadt auf, ab März beginnt die Suche nach Nachfolgern, meldet der Standard.

Besprochen werden Stefano Giannettis Inszenierung von Karol Szymanowskis Oper "König Roger" in Dessau (FAZ)
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Architektur

Dass geschenkte Architektur Fluch und Segen bedeuten kann, erkennt Hannes Hintermeier (FAZ) in der Ausstellung "The Gift. Großzügigkeit und Gewalt in der Architektur" im Architekturmuseum der TUM in der Pinakothek der Moderne, die die "Bedrohung" architektonischer Hinterlassenschaften untersucht. Etwa in Ulan Bator: "Die Hauptstadt der Mongolei, ist städtebaulich geprägt von den Großspendern Sowjetunion und China. Am Beispiel einer Familie, die in dritter Generation in einer unter Breschnew gebauten Mietskaserne wohnt, zeigt sich die wandelnde Akzeptanz dieses Geschenks. Waren die Großeltern noch froh über die Unterkunft, sieht die junge Generation, nicht nur wegen des Ukrainekriegs Russland gegenüber skeptisch geworden, die Segnungen des sowjetischen Erbes kritisch. Mit einfachen Holzregalen ist die Grundfläche der Wohnung nachgebaut, Bilder aus dem Familienalbum vermitteln ein Gefühl, wie es sich anfühlen muss, dort zu leben."
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Stichwörter: Mongolei, Ulan Bator

Musik

Nicholas Potter wirft für den Tagesspiegel einen Blick auf die seit kurzem kursierende, antiisraelische Kampagne "DJs against Apartheid", die in ihren Aufrufen das Hamas-Massaker vom 7. Oktober von Grund auf obszön relativiert: Die Pogrome seien Widerstand und eine "direkte und natürliche Reaktion", heißt es da. Nicht nur international, sondern auch in der Berliner Szene - und insbesondere in der queeren Club-Szene, welche von der Hamas ohne mit der Wimper zu zucken als nächstes massakriert würde - gilt es als schick, den Aufruf zu unterzeichnen. "Der Antisemitismusforscher Jakob Baier findet die Radikalität der Kampagne erschreckend, er sei aber nicht überrascht. 'Statt einer Solidarisierung mit den zivilen Opfern der Hamas und - allen voran - mit den ermordeten Besuchern des Musikfestivals schreiben die Initiatoren, dass es sich bei den Angriffen der Hamas um einen scheinbar legitimen 'bewaffneten Widerstand' auf israelische Politik handeln würde. ... Dies ist Ausdruck eines sich zunehmend radikalisierenden antizionistischen Aktivismus, der den islamistischen Terrorismus - mitsamt seinen genozidalen Absichten gegenüber Jüdinnen und Juden - relativiert.'"

Eine mit viel Aufsehen vorgestellte neue Studie legt nahe, dass die Musikindustrie, die dank Streaming zumindest nominal wieder so viel Geld verdient wie in den Neunzigern, auch die Künstler an diesem Geldsegen im großen Stil teilhaben lässt. Auftraggeberin der Studie ist allerdings die Industrie selbst. Simon Schwarz vom Tagesspiegel äußerst eine gewisse Skepsis: "Dass die bei Plattenfirmen unter Vertrag stehenden Künstler, wie vom BVMI kommuniziert, nominal und auch anteilig an der Umsatzentwicklung profitieren, mag in der Summe stimmen, allerdings fehlen in der Studie mehrere Kenngrößen, die ein differenzierteres Bild ergeben hätten: Unter anderem rechneten die Studienautoren lediglich mit den Industrieeinnahmen und nicht mit Gewinnen. Zudem sind bei den Zahlungen Durchschnittswerte angegeben und nicht der Median. Aus der Studie lässt sich insofern nicht ableiten, ob sich die insgesamt gestiegenen Anteile gleichmäßig auf die Künstlern verteilen - oder ob wenige überproportional haben zulegen können. Letzteres liegt nahe, weil das Streaming-Geschäft bekannte Musiker bevorteilt."
Archiv: Musik