Efeu - Die Kulturrundschau

Das Geschlecht gibt keine Antwort

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
08.03.2024. Zum Weltfrauentag entdecken FAZ und FR die vergessene und verdrängte Kunst von Frauen wie Sofonisba Anguissola und Alice Bailly. Die Welt kniet nieder vor Florian David Fitz' Netflix-Vierteiler "Das Signal", während Zeit Online ihn überhaupt nicht versteht. Auch die großartige Isabelle Huppert kann die Pariser Inszenierung der Racine-Oper "Bérénice" nicht retten, seufzt die FAZ. Stefanie Sargnagel und Christiane Rösinger sprechen mit der FAZ über Iowa, Feminismus und das humoristische Potential von Tabus.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 08.03.2024 finden Sie hier

Kunst

Melanie Bonajo: TouchMETell, 2019. In Kollaboration mit Théo Demans. Bild: AKINCI.

In dieser "Schule der Liebenden" drückt FAZ-Kritikerin Katharina Deschka gerne die Schulbank: Die niederländische Künstlerin Melanie Bonajo hat in Zusammenarbeit mit dem Sexualpädagogen Daniel Crämer, der Kuratorin Yanna Rüger und dem inklusiven Zürcher Theater Hora in der Kunsthalle Mainz ein "genresprengendes Kunst- und Bühnenprojekt" geschaffen, so Deschka. "In einer bunten Landschaft mit schwebenden Blasen, glitzernden Seen, Liegeinseln und beweglichen Blüten belehrt eine Frau mit abstehenden Zöpfen, blau geschminktem Mund und wackelnden Drähten am Kopf als eine Art moderne Version von Pippi Langstrumpf ihre Zuschauer und das Ensemble darüber, was Liebe, Sexualität und Beziehung alles sein kann und darf. Und das ist vieles, eigentlich alles, 'was sich gut anfühlt', wie sie sagt, für 'dich und den Partner'. Denn natürlich soll darüber aufgeklärt werden, dass Menschen sich längst nicht nur in männliche und weibliche Personen einteilen lassen, es für Sex kein Rezeptbuch gibt und auch Geschlechtsorgane 'alle anders' aussehen. Ein Skulpturenpark der Organe, durch den die erstaunten Darsteller wandeln, demonstriert das auf komische Weise. Überhaupt sind die Schauspieler großartig".

Noch immer haben Frauen in der Kunst einen schweren Stand, so verdienen sie beispielsweise rund ein Viertel weniger als ihre männlichen Kollegen, ärgert sich Lisa Berins in der FR. Auch in den Museen sieht man sie zu wenig, aber Schritt für Schritt ändert sich das - sie werden "wiederentdeckt", wie es so schön heißt. "Aber was heißt Wiederentdeckungen? Wohin waren die Künstlerinnen denn verschwunden? Natürlich haben Frauen immer Kunst gemacht, nur hatten sie kaum eine Chance, sich damit zu profilieren. Und selbst wenn sie sehr erfolgreich waren, wurden sie mit der Zeit vergessen oder ignoriert", so Berins und verweist auf Sofonisba Anguissola (1531/32-1625), Artemisia Gentileschi (1593-1654) oder Angelika Kauffmann (1741-1807), Lavinia Fontana (1552-1614) oder Elisabetta Sirani (1638-1665). Auch heute noch kann frau sich diese Frauen gut zum Vorbild nehmen, findet Berins.

Alice Bailly: Der Tee, 1914. Bild: Diether von Goddenthow.

Auch im Arp-Museum Bahnhof Rolandseck in Remagen kommen endlich Künstlerinnen zu ihrem Recht, freut sich Alexandra Wach in der FAZ. Neben Sofonisba Anguissola oder Artemisia Gentileschi kann in "Maestras. Malerinnen 1500-1900" auch die Genferin Alice Bailly entdeckt werden: "Unter dem Eindruck des Kubismus begann sie Alltagsszenen in geometrische Flächen aufzulösen. 1914 entsteht die grandios flirrende Arbeit 'Der Tee', die vier Frauen mit neun Händen vor starkfarbigem Hintergrund nach Teetassen greifen lässt und dabei am Vorabend des Ersten Weltkriegs eine bourgeoise Welt in Auflösung evoziert. 'Die Kunst ist keine Angelegenheit von Rock oder Hose', sagte Bailly einmal. Deshalb ist jeder ihrer dynamischen Pinselstriche mit einem unsichtbaren Fragezeichen versehen. Das Geschlecht gibt keine Antwort. Dem Arp-Museum kann man aber dankbar sein, dass es diesen mitunter beinahe erloschenen Sternen der Malerei Strich für Strich wieder zum Strahlen verhilft."

Weiteres: Die Künstlerin und Aktivistin Dafne B hat der Neuen Nationalgalerie eine tonnenschwere Stahlskulptur vor die Tür gesetzt, um für Frieden zu protestieren: Die Leitung will sich wehren und die Skulptur notfalls abreißen, meldet die Berliner Zeitung. Ingeborg Ruthe gratuliert Tina Schwichtenberg in der Berliner Zeitung zum 80. Geburtstag. Jens Hinrichsen schreibt in Monopol zum Tod des isländischen Künstlers Hreinn Fridfinnsson. Besprochen wird die Hip-Hop-Ausstellung "The Culture" in der Frankfurter Schirn (SZ).
Archiv: Kunst

Film

Wird nie kalt: "Das Signal" (Netflix)

Florian David Fitz hat mit "Das Signal" einen deutschen Science-Fiction-Vierteiler für Netflix gedreht. Elmar Krekeler packt da in der Welt ein derart überschäumend-ergriffener Enthusiasmus, das man fast gewillt ist, das Lob als Ironie zu verstehen. Jedenfalls "geht es - das nebenbei - in den vier Stunden, die man dem 'Signal' unbedingt geben sollte, vor allem ums Hören, ums Zuhören, ums Verstehen von dem, was man hört, ums Senden und ums Empfangen. ... Die Erzählökonomie kann einen geradezu glücklich machen. Zumal es nie kalt wird in den auch philosophisch und historisch weiten Räumen, durch die 'Das Signal' hallt. Weil eine unheimliche Wärme von Paula und Sven und Charlie ausgeht, Peri Baumeister und Florian David Fitz und der ganz wunderbaren Yuna Bennett. Um sie herum kreist im Cast ein ziemlich großes System von Sternen - Katharina Thalbach, Meret Becker, Uwe Preuss, Katharina Schüttler. Und allesamt nutzen sie die wenige Zeit, die ihnen oft bleibt, zu feinen Charakterstudien." Matthias Kalle auf Zeit Online hingegen streckt bei all dem Mystery-Mumpitz die Waffen: "Mit den Mitteln der Kritik kann ich dieser Serie nicht gerecht werden, denn ich habe im Prinzip gar nichts verstanden." Weshalb er es mit dem Rezensieren auch sein lässt und stattdessen 33 Verständnisfragen an Netflix formuliert.

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Im Tagesspiegel-Gespräch mit Werner Herzog über das Wesen der Wahrheit (darüber hat der Filmemacher gerade einen Essay geschrieben) gibt sich der bajuwarische Autorenfilmer erneut kampfeslustig. Unter anderem kommt die Sprache auch darauf, wie sich KI auf Drehbücher auswirkt. "Vermutlich werden sie schlechter. Künstliche Intelligenz wird niemals in der Lage sein, ein Drehbuch von dem Kaliber zu schreiben, wie ich es kann. Sie wird auch niemals Filme herstellen, die so großartig sind wie meine."

Auf Artechock kommt Rüdiger Suchsland Oliver Stone zu Hilfe, dem nach Recherchen vorgeworfen wird, sich von autoritären Machthabern für schmeichelhafte Filme bezahlen zu lassen (unser Resümee): Der Regisseur "ist sicherlich jemand, der von der Macht fasziniert ist, auch von ihren Abgründen. ... Auch mit Filmen, die vom Ausland erzählen, kritisiert er eigentlich seine eigene Heimat. Er ist ein Linker, ein Contarian, einer der selten viel Geld vom großen Hollywood bekommt. Man sollte diese ganzen Enthüllungen darum jetzt zumindest auch daraufhin befragen, warum es denn ausgerechnet einen unabhängigen linken Filmemacher trifft? Einen der immer umstritten war? Es trifft dagegen nicht die Hollywood-Konzerne, die sämtlich sehr wohl mit den ganzen Ländern, die hier erwähnt werden, Geschäfte machen."

Weitere Artikel: Wolfgang Lasinger resümiert für Artechock die iranischen Filme, die in diesem Jahr auf der Berlinale liefen. Dazu passend ist in Berlin gerade die fünfzehnminütige Videoinstallation "The Fury" der iranisch-stämmigen Filmemacherin und Künstlerin Shirin Neshat zu sehen, berichtet Birgit Rieger im Tagesspiegel. Thomas Willmann spricht für Artechock mit der Filmemacherin Helen Britton über ihren Dokumentarfilm "Hunter from Elsewhere". Magdalena Pulz stellt in der SZ das TikTok-Comedyphänomen Paloma Diamond vor, eine fiktive Schauspielerin, die angeblich schon neunzehnmal - und jedes Mal erfolglos - für den Oscar nominiert wurde. In der FAZ gratuliert Claudius Seidl der Filmproduzentin Regina Ziegler zum 80. Geburtstag.

Besprochen werden Michael Manns "Ferrari" (critic.de, unsere Kritik), Ethan Coens "Drive-Away Dolls" (critic.de, unsere Kritik), Severin Fialas und Veronika Franz' Arthaus-Horrorfilm "Des Teufels Bad" (Standard) und Stephen Frears' Serie "The Regime" mit Kate Winslet (NZZ).
Archiv: Film

Bühne

Isabelle Huppert als "Bérénice." Foto: Alex Majoli.

Trotz der großen schauspielerischen Leistung, die Isabelle Huppert auf die Bühne bringt, kann Jean Racines "Bérénice" in der Inszenierung von Romeo Castellucci am Théâtre de la Ville FAZ-Kritiker Marc Zitzmann nicht überzeugen. Zu gewollt ist diese reduzierte Ausgabe, in der Castelluci gleich mal sechs von sieben Rollen gestrichen hat. Eigentlich geht es um ein Liebespaar, das sich aus Standesgründen trennen muss, aber ohne Bérénices Gegenpart Titus verliert das Ganze seinen Sinn: "Streicht man die eine Hälfte des mythischen Paars, kippt die Tragödie zwangsläufig ins Abstrakte. Isabelle Huppert rezitiert Bérénices Text vollständig - einschließlich halber Alexandriner und zweisilbiger Ausrufe -, aber niemand antwortet ihr. Das Drama wird so zum Monolog, seine Struktur fällt zusammen, der Sinnzusammenhang löst sich auf. Mit wem spricht die Darstellerin, auf wessen Einwürfe antwortet sie? Wo endet eine Szene, wo beginnt die nächste? Alles hier verschwimmt in (Kunst-)Nebel . . ."

George Orwells "Farm der Tiere" ist schon reichlich ausgeschlachtet worden, seit letztem Jahr gibt es eine von dem Russen Alexander Raskatov komponierte Oper, die jetzt an der Wiener Staatsoper aufgeführt wurde. Der erste Akt überzeugt Alexander Keuk in der Neuen Musikzeitung mit einem stimmlich breit aufgestellten Sängerorchester und dem Dirigenten Alexander Soddy, der "die Klangcharaktere wie mit einem Schweißbrenner modelliert." Der zweite Akt aber schwächelt merklich: "Dass man nicht wirklich völlig begeistert applaudiert, liegt an einem seltsam durchhängenden zweiten Akt, der vor allem visuell außer Neonschriftzeichen und der fast unauffällig vollzogenen Menschwerdung der Tiere nicht viel zu bieten hat. Auch Raskatov hat dort sein musikalisches Füllhorn schon so sehr entleert, dass die doch sehr kurzatmigen Szenen nun nicht mehr die Fulminanz des 1. Aktes besitzen. Da ist angesichts der Tatsache, dass wir uns auch 2024 wieder und erneut in einem Orwell-Jahr befinden und immer noch auf der Welt die Köpfe einhauen, mehr aktuelle Kommentierung, kunstartige Übertreibung und vor allem ein radikaler Epilog vonnöten, der besser 'gesessen' hätte als das hier fade inszenierte Zuklappen des Märchenbuches."

Weitere Artikel: Donald Runnicles, derzeit Generalmusikdirektor an der Deutschen Oper Berlin, wechselt zur Saison 2025/26 als Chefdirigent an die Dresdner Philharmonie, meldet die FAZ. Die SZ unterhält sich mit Stefan Herheim und Tobias Kratzer, Opernregisseure, die jetzt zusätzlich noch Intendanten werden.
Archiv: Bühne

Musik

Arno Lücker sieht für VAN den aktuellen Forschungsstand zu Bedřich Smetana durch. Jean-Martin Büttner freut sich im Tagesanzeiger über den Erfolg der aus der Schweiz stammenden Musikerin Raye bei den Brit Awards. Teresa Rübel porträtiert im Tagesspiegel das Kreuzberger DJ Duo Balagan Sisters. In der FAZ gratuliert Max Nyffeler dem Komponisten Christian Wolff zum 90. Geburtstag.

Besprochen werden ein Bruckner-Abend mit Christian Thielemann und den Berliner Philharmonikern (VAN), die Gastauftritte der Organistin Iveta Apkalna mit Paavo Järvi in der Tonhalle Zürich (NZZ) und ein Konzert von Fever Ray (Tsp).
Archiv: Musik
Stichwörter: Thielemann, Christian

Literatur

Der Schriftsteller Etgar Keret erzählt in der SZ von einem Lieder- und Geschichtenabend gemeinsam mit dem "Sänger mit den traurigsten Liedern der Welt" in einer israelischen Bibliothek, dessen Veranstalterin sehr darum gebeten hat, den Abend nicht zu traurig werden zu lassen, und die dies während der Veranstaltung immer wieder anmahnt. Schließlich "lässt der Sänger mit den traurigsten Liedern der Welt seine Gitarre erklingen und singt uns ein Lied über einen einsamen Mann, der im Bus sitzt und Joghurt mit Fruchtgeschmack isst. Der Joghurt in dem Lied enthält keine Früchte, nur deren Geschmack. Aber immerhin enthält er Joghurt. Auch das ist eine Art von Trost. ... Auf dem Heimweg höre ich in den Nachrichten, dass an diesem Abend zwei weitere israelische Soldaten in Gaza getötet wurden und Dutzende palästinensischer Zivilisten beim jüngsten IDF-Bombardement ums Leben gekommen sind. Und ich sehne mich zurück nach den Tagen, in denen dieser Radiosender Joghurt-Werbung anstelle von Todesmeldungen spielte und in denen man auf der Bühne die traurigsten Lieder der Welt singen durfte."

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Sandra Kegel plaudert in der FAZ mit Christiane Rösinger und Stefanie Sargnagel über deren gemeinsamen Aufenthalt in Iowa, über den Sargnagel auch ein Buch geschrieben hat. Unter anderem geht es in dem Gespräch auch um Generationenkonflikte im Feminismus, aber auch um Humor, den Wiener Humor, den Berliner Humor und den spezifisch weiblichen Humor. Sargnagel etwa findet "es immer lustig, Normen infrage zu stellen", denn "Tabus haben immer humoristisches Potential. ... Pädagogischer Humor ist einfach nicht witzig. Ich will mich auch weiterhin aus dem Fenster lehnen und geschmacklos sein. Gerade in politischen Szenen ist Humor schwierig. Weil die Leute glauben, sie müssten einen Witz lesen wie ein politisches Manifest. Dabei ist es eine Kunstform, die mit Ambivalenzen arbeitet und mit Widersprüchen und die Dinge, die man sagt, nicht unbedingt die Aussagen sind, die man tut, sondern auch Parodie sein können. ... Wenn man mir erklären kann, was verletzend ist, bin ich kritikfähig. Aber einfach nur zu sagen, ich bin verletzt, reicht mir nicht. Man kann ja immer sagen, das verletzt mich."

Weiteres: Für die WamS porträtiert Marc Reichwein den Verleger Albert Eibl, der auf entlegene und in Vergessenheit geratene Bücher spezialisiert ist. Die NZZ-Redaktion listet die zehn Bücher von Frauen, die sie geprägt haben. Besprochen werden unter anderem Marcia Nardis "Gesammelte Gedichte" (Tsp), Christina Röckls Kinderbuch "Bus" (FR) und Michael Lentz' "Heimwärts" (SZ).
Archiv: Literatur