Efeu - Die Kulturrundschau

Entdeckerfreude statt Konvention

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22.03.2024. Die Kritiker freuen sich, dass die Preise der Leipziger Buchmesse mit Barbi Markovic, Ki-Hyang Lee und Tom Holert an drei Überraschungskandidaten vergeben wurden. Die NZZ bestaunt gekrönte Vulven und Phalli mit langen Beinen in einer Zürcher Ausstellung zur Kunst des Mittelalters. Die nachtkritik freut sich, dass Fellinis nie verfilmtes Drehbuch "Die Reise des G. Mastorna" in Heidelberg auf die Bühne kommt. Zeit Online und Pitchfork geraten bei Waxahatchees neuem Album in Freudentaumel.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 22.03.2024 finden Sie hier

Literatur

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Der Preis der Leipziger Buchmesse für Belletristik geht an Barbi Marković ("Minihorror", einen Erzählband, den der Perlentaucher noch vor den Zeitungen zu den Herbst-Büchern der Saison gekürt hatte) , für die beste Übersetzung an Ki-Hyang Lee (für Bora Chungs Erzählungsband "Der Fluch des Hasen") und fürs beste Sachbuch an Tom Holert ("ca. 1972"). "Die Popliteratur feiert einen Triumph", hält Andreas Platthaus auf FAZ.net nach diesen Juryentscheidungen fest. In einem Jahrgang, in dem die Jury von vornherein die großen Namen große Namen sein ließ, wird mit Markovićs Buch "überaus gelungene, abgedrehte, harmlos-abgründige Avantgarde" ausgezeichnet, schreiben Maja Beckers und Adam Soboczynski auf Zeit Online. "In Markovićs Geschichten prallt eine heile Walt-Disney-Mäusewelt auf den Horror der realen Welt, die wiederum nur surreal zu fassen ist. Wer als Kind ein Fan der Lustigen Taschenbücher war (oder als Erwachsener noch immer ist), wird an diesem inspirierenden Versuch, den Comic in Literatur zu überführen, das größte Vergnügen haben." Mit Tom Holerts Buch "Bild-und-Text-Essay", das viel visuelles Material zum Umbruchsjahr 1972 collagiert, zeichnet die Jury "ein fein kuratiertes, aufschlussreich originelles Liebhaberbuch" aus. Und in Ki-Hyang Lees übersetzten "Fluch des Hasen" sehen Beckers und Soboczynski gar "eine thematische Verwandtschaft mit Markovićs Prosa - es wird auch hier nicht realistisch erzählt, wir geraten in das Reich der Fantasy und des Märchens".

Auch Richard Kämmerlings freut sich in der Welt über "Entdeckerfreude statt Konvention": Markovics ist für ihn ein Comicroman, aber das "heißt in diesem Fall nicht Bildergeschichte, sondern meint das virtuose Spiel mit den Erzählkonventionen des klassischen Comics und Zeichentrickgeschichten." Zu erleben ist "schwarzhumorige Popliteratur der anderen Art, näher dran am grellen Zeichenspiel der Pop Art als vieles, was literarisch seit 25 Jahren unter diesem Label läuft." Für die Presse bespricht Anne-Catherine Simon Markovićs Buch. Dlf Kultur hat mit der Autorin gesprochen.

Weitere Artikel: Vom Auftakt der Leipziger Buchmesse, bei dem Olaf Scholz schrille "Gaza"-Brüller sehr souverän weggewischt hat, berichten Maja Becker (Zeit Online), Marc Reichwein (Welt), Jens Uthoff (taz) und Cornelius Pollmer (SZ). In seiner Rede zur Leipziger Buchmesse feierte Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier "die neue Literatur aus dem Osten", schreibt Kathleen Hildebrand in der SZ. Für die FAZ fasst Jan Wiele die Rede zusammen. Anna-Elisa Jakob informiert in der Zeit, wie sich die Leipziger Buchmesse auf den Ansturm insbesondere junger Leser vorbereitet. Hanna Kopp und Vanessa Frane machen sich auf 54books Gedanken über Ingeborg Bachmanns Roman "Malina". Nadine Lange spricht für den Tagesspiegel mit der Verlegerin Astrid Ohletz, die sich auf lesbische Liebesromane spezialisiert hat.

Besprochen werden unter anderem Christof Meuelers Biografie über Wiglaf Droste (Freitag), Comics über Kafka (taz), Toxische Pommes' "Ein schönes Ausländerkind" (TA), Ronya Othmanns "Vierundsiebzig" (online nachgereicht von der taz), Ulrich Peltzers "Der Ernst des Lebens" (online nachgereicht von der taz), Wilhelm Bartschs Gedichtband "Hohe See und niemands Land" (online nachgereicht von der FAZ) und Amazing Amezianes Comic über Leben und Werk von Quentin Tarantino (FD). Mehr ab 14 Uhr in unserer aktuellen Bücherschau.
Archiv: Literatur

Kunst

Les Très Riches Heures du Duc de Berry, Paris/Bourges, 1410-1485, Faksimile. Bild: Bibliothèque et Archives du Château de Chantilly.

Ein Körper ist nie einfach nur ein Körper, lernt Stephanie Caminada für die NZZ in der Ausstellung "begehrt. umsorgt. gemartert" des Zürcher Landesmuseums, er wird bewertet, sexualisiert, beschämt, erotisch aufgeladen, zwischen normal und nicht normal, schamhaft und nicht schamhaft eingeteilt. Die Schau zeigt Gemälde des Mittelalters vom 10. bis zum 15. Jahrhundert: Der Körper gilt in dieser Zeit als "Wohnort der Sünde, die sexuelle Lust gefährdet die göttliche Ordnung. Sexualität wurde von der Kirche nur in der Ehe geduldet, nur in einer bestimmten Stellung und nur zur Fortpflanzung. Sexuelle Praktiken außerhalb der Ehe und 'widernatürliche' Handlungen wie gleichgeschlechtliche Akte, Masturbation oder oraler Verkehr wurden im Kirchenrecht ab dem 12. Jahrhundert unter Strafe gestellt." Das verhindert aber nicht die aufwendige künstlerische Auseinandersetzung damit, betont Caminada: "Eines der Motive könnte als Sinnbild der sexuellen Abhängigkeit von Männern gegenüber Frauen gedeutet werden: Drei Phalli mit langen Beinen tragen eine gekrönte Vulva wie bei einer Prozession auf einer Bahre. Es könnte aber auch die Prozessionen der katholischen Kirche verspotten."

Ob die Idee vom Centre Pompidou in Metz gutgehen konnte, hatte sich einst auch Peter Iden in der FR gefragt, schließlich ist Metz eine ziemlich kleine Großstadt und das Museum hat keine eigene Sammlung, sondern wird von der großen Pariser Schwester versorgt. Die aktuellen Ausstellungen zeigen Iden aber: Das funktioniert sogar sehr gut. Das Haus kann eine enorme Bandbreite abdecken, zum Beispiel in der aktuellen Schau "Wenn Kunst auf Psychoanalyse trifft", laut Iden "der gewagte Versuch, dem Analytiker Jacques Lacan (1901-1981), der ein leidenschaftlicher Liebhaber und Kenner der Malerei war, in seiner zunächst an Freud orientierten Vorstellung zu folgen, Kunstwerke nicht als Herausforderung zu ihrer Deutung zu verstehen, vielmehr als Antrieb, mit dem man 'die Welt zu sehen und neu zu denken vermag'. Die Übergänge in der Philosophie Lacans sind fließend. Man erkennt an den schriftlich fixierten, mitunter einander widersprechenden Ergebnissen seiner immer wieder durch Werke der Kunst, von denen einige ausgestellt sind, provozierten Überlegungen ein Denken, das in seinen Schwankungen aktuell ist und durchaus auch auf Irrwege geraten kann (wie 'Es gibt kein Verhältnis der Geschlechter' oder die These 'Die Frau' gebe es nicht)."

Besprochen werden: Die Ausstellung "Die Reise der Bilder" im Lentos Kunstmuseum Linz (FAZ), "Jupiter im Oktogon" von Rebecca Horst im Museum Wiesbaden (FR) und Daniel Canogars "At Any Given Hour" in der Frankfurter Galerie Anita Beckers (FAZ).
Archiv: Kunst

Bühne

Im Theater Heidelberg wird "Die Reise des G. Mastorna" aufgeführt, ursprünglich mal ein Drehbuch von Federico Fellini, er konnte es nicht mehr verfilmen, Bernadette Sonnenbichler hat nun eine Bühnenfassung vorgelegt, über die sich Nachtkritiker Michael Laages freut. Der Cellist Mastorna muss mit dem Flugzeug notlanden und findet sich in einer angenehm verwirrten Welt wieder, bei der er auch nicht weiß, ob er nicht doch im Flugzeug verbrannt ist, erklärt Laages. In den räumlichen Besonderheiten des Heidelberger Theaters mit seinen gleich zwei Bühnen "entfesselt die Regisseurin mit kleinem Ensemble und großer Statisterie ein zauberhaft verstörendes Pandämonium aus Erinnerung, Alptraum und Traum - eine religiös verzückte Prozession driftet durch den Raum und um die Cafehaus-Tischchen herum; Mastorna sieht sich den alten Ausbildern beim Militär genau so gegenüber wie alten Freunden, die längst tot sind; das zugemüllte einstige Liebes- und Lotterbett rollt eine frühere holländische Geliebte mit monströsem Kunst-Busen herein, und im Bett ist noch eine jüngere Frau versteckt, umwickelt von einer monströsen Schlangen-Attrappe. Aus dem Schnürboden rauscht ein verkokelter Flugzeug-Sitz herab: Ist Mastorna im Flugzeug verbrannt?"

Szene aus "Saul". Foto: Miklos Szabo.


Jan Brachmann verliert sich in der FAZ ein bisschen in der Freude darüber, dass das dänische Königspaar die Aufführung von Georg Friedrich Händels "Saul" an der Königlichen Oper Kopenhagen, inszeniert von Barrie Kosky, besucht. Es ist, betrachtet man die Menge an Instrumenten, wohl die aufwendigste Händel-Oper: "Das Glockenspiel zum Sieg Davids über Goliath übersteigert den Gesang des Frauenchors zu enthemmter Frivolität. Die Harfe verstärkt die balsamische Wirkung des Countertenors von Morten Grove Frandsen als David. Die Kriegspauken und Posaunen geben dem berühmten Trauermarsch, mit dem jüngst auch Wolfgang Schäuble zu Grabe getragen wurde, Größe im Kargen, Herbheit und Wärme", weiß Brachmann zum musikalischen Teil des Abends zu berichten. Koskys Inszenierung "erzählt das Schicksal Sauls als Konflikt zwischen Davids Humanität und der Dekadenz einer Hofgesellschaft, die Katrin Lea Tag in Kostüme des achtzehnten Jahrhunderts gesteckt hat. Die patriotische Identifikation mit Gottes auserwähltem Volk Israel gönnt Kosky den Briten nicht. Er liest Händels 'Saul' als historisches Vorspiel zur 'Madness of King George', der Regierungskrise des geisteskranken Königs Georg III. in den Jahren 1788/89."

Weiteres: Manuel Brug stellt in der Welt den Wagner-"Tenor der Stunde" vor: Michael Spyres. Nadja Loschky, Intendantin in Bielefeld, wird anlässlich ihres Regiedebüts in "Giulio Cesare in Egitto" an der Oper Frankfurt von Guido Holze in der FAZ porträtiert. In der SZ interviewt Peter Laudenbach den Intendanten des Theaters Koblenz, Markus Dietze, zu den immer wieder in der Kritik stehenden Arbeitsbedingungen an den deutschen Theatern (unser Resümee). Lola Arias, eng mit dem Gorki-Theater verbunden, erhält den Internationalen Ibsen-Preis, meldet die Berliner Zeitung.
Archiv: Bühne

Film

Schlägt drei Sonnen mit seinem Spiel: Benedict Wong (Netflix)

Die auf eine epische Auseinandersetzung mit außerirdischen Intelligenzen hinauslaufende Netflix-Serie "3 Body Problem" nach der Trisolaris-Trilogie des chinesischen Science-Fiction-Autors Cixin Liu hat ein Problem, schreibt Axel Weidemann in der FAZ: Nämlich, dass Netflix-Serien dazu neigen, "stets mehr zu zeigen, als der Spannung zuträglich ist. Das funktionierte in der Anthologie-Serie 'Black Mirror', doch wenn es um Lius Trisolaris-Trilogie geht, hätte man gut daran getan, die Bilder so anzulegen, dass sie in die Fantasie des Zuschauers münden, ihn quasi den Rest des Weges gehen lassen." Dies hätte "eine Verdichtung ermöglicht, die es dem Zuschauer erspart, ständig schönen und/oder smarten Menschen dabei zuzusehen, wie sie zögernd den entscheidenden Knopf drücken und/oder darauf warten, dass ihr 'Herr' oder zumindest die Technik reagiert. Immerhin: Was drei Sonnen nicht vermögen, schafft der Schauspieler Benedict Wong." Dessen "gefällig-ungefälliges Spiel (fast so, als wäre er durch Zufall in die Serie gestolpert) entwickelt eine Anziehungskraft, die selbst die aussichtslosesten Handlungsstränge zu binden vermag." Vielleicht greift man dann doch lieber zum Hörspiel? Der WDR stellt seine 32 Folgen umfassende Adaption der drei Romane am 28. März online.

Außerdem: Michael Ranze spricht für den Filmdienst mit Rodrigo Moreno über dessen Film "Die Missetäter". Valerie Dirk blickt für den Standard aufs Programm der Diagonale. Karl Fluch schreibt im Standard einen Nachruf auf den Schauspieler Michael Emmet Walsh.

Besprochen werden Hirokazu Kore-edas "Die Unschuld" (Standard, online nachgereicht von der FAS, unsere Kritik), Gil Kenans "Ghostbusters: Frozen Empire" (Standard, NZZ), Julien Hervés Komödie "Oh La La" (Welt) und die Ausstellung über "Die Simpsons" im Schauraum Comic + Cartoon in Dortmund (SZ).
Archiv: Film

Musik

"Das Countryalbum des Jahres erscheint eine Woche früher als gedacht", freut sich Daniel Gerhardt auf Zeit Online. Gemeint ist nicht das neue Beyoncé-Album, das diesen Titel bereits sicher glaubte, sondern "Tigers Blood" der Gruppe Waxahatchee rund um die Sängerin Katie Crutchfield und diese Platte "gehört zu jenen Platten, nach denen eigentlich nichts mehr kommen kann: kein besserer Song, keine schönere Geschichte, keine komplettere Heilung. Wer schon mal aus dem Fenster in ein Wespennest gefallen ist, sich dabei was gebrochen hat und dann vom Krankenwagen überfahren wurde, der weiß, worum es bei Countrymusik geht. Wer sich außerdem daran erinnern kann, wie langsam der Schmerz nachließ und die Hoffnung zurückkehrte, für einen flüchtigen, idiotischen Moment, der weiß auch, wie sich die neuen Songs von Waxahatchee anfühlen. Denn das ist der Clou: Tigers Blood ist keiner jener Countrywitze, die mit einsamen Säufern im Straßengraben enden, verlassen von Freundinnen und Hunden. Es ist ein Daumen hoch fürs Leben." Für Pitchfork bespricht Jaysone Greene das Album ähnlich euphorisch. Wir hören rein:



Außerdem: In der Welt plaudert Oliver Polak über seinen neuen Schlager-Podcast bei Dlf Kultur. Gregor Kessler spricht in der taz mit den Musikern von The Jesus and Mary Chain, die heute ein neues (im Standard besprochenes) Album veröffentlichen.



Besprochen werden ein Auftritt von Lakecia Benjamins (Standard), Bushidos Comeback-Konzert in Berlin (BLZ), eine Berliner Aufführung von Karlheinz Stockhausens Schlagzeugstück "Musik im Bauch" durch das Ensemble Les Percussions de Strasbourg (SZ) sowie neue Alben von Kle.ze (taz) und Adrianne Lenker (Pitchfork).
Archiv: Musik