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Martin Walsers "Tod eines Kritkers" muss veröffentlicht werden

Von Thierry Chervel
03.06.2002. Der Suhrkamp Verlag hat sich eine weitere Bedenkzeit von 48 Stunden gesetzt, bevor er entscheidet, wie er mit Martin Walser Roman "Tod eines Kritikers" verfährt. Sollte er den Roman tatsächlich nicht bringen, wäre das eine Katastrophe.
Der Suhrkamp Verlag hat sich eine weitere Bedenkzeit von 48 Stunden gesetzt, bevor er entscheidet, wie er mit Martin Walser Roman "Tod eines Kritikers" verfährt. Sollte er den Roman tatsächlich nicht bringen, wäre das eine Katastrophe.

Auch die Perlentaucher-Equipe konnte den Roman inzwischen lesen und musste feststellen: Es ist gar nicht antisemitisch! Er ist längst nicht so sensationell wie erhofft. Er ist langweilig, wenn auch mit witzigen Passagen, er ist eine persönliche Rache an Marcel Reich-Ranicki, aber er dichtet dessen alter ego, dem Kritiker Andre Ehrl-König, keine bösen Eigenschaften an, die als "spezifisch jüdisch" diffamiert würden. Die Tatsache, dass Ehrl-König jüdisch ist, gehört in dem Roman zu seiner Person, wie bei anderen Romanpersonen, die auch nicht mild behandelt werden, hineinspielt, dass sie dick oder dünn, alt oder jung, hübsch oder hässlich, Frau oder Mann sind. Wäre Reich-Ranicki ein sächsischer Katholik, dann hätte Walser seinen sächsischen Akzent imitiert: Er schreckt vor nichts zurück. Es wird in dem Roman weder zu irgendeinem Verbrechen aufgerufen, noch sonst etwas Verbotenes getan. Wer meint, dass dem nicht so ist, der sollte gegen Walser eine Klage wegen Volksverhetzung anstrengen. Solange dieser Klage nicht stattgegeben ist, gehört das Buch veröffentlicht - jetzt erst recht. Denn das Publikum konnte sich bisher keine Meinung bilden. Für das Publikum ist diese Debatte eine Phantomdebatte, und nun ist das öffentliche Interesse zu groß: Jeder hat das Recht, sich selbst ein Bild zu machen.

Und Jan-Philipp Reemtsma und Heinrich August Winkler, die Walsers Buch "ungeheuerlich" nannten, bevor sie es überhaupt gelesen haben, sollten sich bei dem Autor entschuldigen.

Wer entscheidet denn neuerdings, welches Buch veröffentlicht werden soll? Frank Schirrmacher? Er darf entscheiden, welches Buch in seiner Zeitung vorabgedruckt wird. Marcel Reich-Ranicki? Ein Kritiker entscheidet, wie er ein Buch findet, weiter nichts. Jürgen Habermas, der in Walsers Buch karikiert wird und darüber nicht besonders erfreut sein soll? Das ist ein komplizierterer Fall. Habermas sitzt in dem zu gründenden Stiftungsrat des Suhrkamp Verlags, der nach dem Tod von Siegfried Unseld über die Geschicke des Hauses mitbestimmen soll. Und er hätte nicht die Souveränität, eine Karikatur von sich zu ertragen? Das nennen wir Strukturwandel der Öffentlichkeit. Ein solcher Stiftungsrat hätte auch Proust nicht publiziert - zu viele Karikaturen in der "Recherche", einige sogar antisemitisch.

Ein wohlmeinender Verleger hätte Walser nach der Lektüre des Manuskripts sagen können: Hör mal, so geht das nicht, das ist Privatrache. Da musst du noch ein bisschen sublimieren, dich von der Wirklichkeit entfernen, um sie genauer zu treffen. Jetzt geht das nicht mehr. Das Buch muss zur Diskussion gestellt werden.

Walser hätte eine andere Debatte verdient. In seiner Rede vom 8. Mai proklamiert er ein dubioses deutsches "Geschichtsgefühl", in dem Auschwitz möglichst nicht vorkommen soll. Die FAZ war ergriffen. Den Judenmord will er ins private Gedenken abschieben, als bestünde die deutsche Normalität nicht gerade darin, dass das Land seine Verantwortung öffentlich anerkennt und der Verbrechen auch in jenen Ritualen gedenkt, die Walser als so sinnentleert erscheinen. Man hätte Walsers Geschichtsgefühl-Rede Götz Alys fast gleichzeitig gehaltene Rede über "Hitlers Volksstaat" entgegenhalten können, die zeigen will, dass die Nazis durch soziale Umverteilung auf Kosten der Juden eine "Normalität" geschaffen haben, die zum Teil bis heute fortdauert.

Aber ein schlechtes Buch darf Walser schreiben. Eine Kapitulation des Suhrkamp Verlags wäre ein Sieg des Betriebs über die Literatur.

Thierry Chervel