Magazinrundschau
Weniger Glanz, mehr Knirschen
Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag ab 10 Uhr.
16.03.2010. Die New York Times untersucht den neuen Realitätshunger. In Salon findet Andrzej Stasiuk nur individuelle Realitäten. In der Gazeta Wyborcza ergründet der Ethnologe Tomasz Rakowski die Realität der Armenschächtler. Manchmal sind Realitäten auch austauschbar, lernt El Pais Semanal von der Financial Times. Le Monde diplomatique informiert über den Stand der Verhandlungen zu Acta. Und der New Yorker erlebt die Kulturindustrie in Höchstform.
New York Times (USA), 14.03.2010
Eine Menge Sympathie zeigt Luc Sante für David Shields, der in seinem Manifest "Reality Hunger" (Leseprobe) einen Hunger beschreibt, den alte Literaturmodelle wie der Roman nicht mehr lindern. Aber dennoch, schreibt Sante, "hören wir nicht auf, uns nach Realität zu sehnen, denn wir leben in einer Zeit, die dominiert ist von unzähligen Formen außerliterarischer Fiktion: Politik, Werbung, das Leben der Stars, der Apparat, der den professionellen Sport umgibt - man könnte ohne Übertreibung sagen, dass alles, was im Fernsehen gezeigt wird, Fiktion ist, ob es nun als solche verpackt ist oder nicht. Was also konstituiert Realität in einem kulturellen Zusammenhang? Es kann etwas so Einfaches sein wie eine Störung, eine Unterbrechung, ein ausgelassener Beat, ein fremdes Objekt, das plötzlich eindrängt. Daher die Macht des Samplings in der populären Musik, die eine Öffnung des Raums zwischen den vokalen und instrumentellen Komponenten erzwingt. Es ist auch eine Form der Collage, die kulturelle Güter so bearbeitet, abwandelt und neu einteilt, wie es gerade gebraucht oder ersehnt wird. Realität ist eine Landschaft, die unreale Merkmale beinhaltet; der Realität treu zu sein, erfordert ein gewisses Schwanken zwischen dem Realen und Unrealen."
Salon.eu.sk (Slowakei), 10.03.2010
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Seltsam, aber seit der Wende haben die kulturellen Begegnungen zwischen Österreichern und Slowaken eher ab- als zugenommen, stellt der slowakische Schriftsteller Michal Hvorecky fest. Er erinnert an Alma Münzova, die Übersetzerin, die unter anderem den ersten Band von Robert Musils "Mann ohne Eigenschaften" übersetzte: "Der Name dieser Dame, die vielleicht die bedeutendste Übersetzerin aus dem Deutschen (Nietzsche, Hegel, Jung, Zweig, Lorenz, Flusser) war, ist in den Jahren der sogenannten Normalisierung aus den Bibliotheken verschwunden. Obwohl die Staatssicherheit gegen sie ermittelte, traf sie sich mit verbannten Schriftstellern, übersetzte für die Schublade und schrieb. Und obwohl sie in der Isolation lebte, gelang es ihr, durch Risse im Eisernen Vorhang über Entwicklungen in der österreichischen Kultur informiert zu bleiben. In ihrer Wohnung in der Altstadt von Bratislava, voll mit Gemälden des Modernisten Imro Weiner-Kral, war Münzova Gastgeberin für mehrere Generationen der bedeutendsten Vertreter der slowakischen Kultur. Hier übersetzte sie den 'Mann ohne Eigenschaften', einen polyphonen dialogischen Roman, der in der deutschen Literatur beispiellos ist. Es waren Menschen wie Alma Münzova, die eine Verbindung schufen zwischen dem vergessenen alten Pressburg und dem immer noch zu entdeckenden neuen Bratislava." (Auch dieser Artikel, der im Original in der Sme erschien, wurde von Salon ins Englische übersetzt.)
Le Monde (Frankreich), 14.03.2010
Jacques Mandelbaum stellt sich die Frage, ob Filme wie Tarantinos "Inglorious Basterds" oder Scorseses "Shutter Island" einfach eine eigene Version der Geschichte der Nazizeit präsentieren dürfen und kommt zu dem etwas lauen Schluss: "Während der zweite Weltkrieg und besonders das Grauen der Schoa in die Geschichte einzutreten scheinen, bleibt dieses Ereignis in der Ideen- und Kulturgeschichte doch ein Paradigma des Bösen. Die Frage der Erinnerung daran, wird im Moment des Verschwindens der letzten Zeugen um so heikler, als sie zu einer Frage der Weitergabe wird, die zugleich kenntnisreicher als zuvor und ungewisser ist."
Gazeta Wyborcza (Polen), 13.03.2010
Zum Symbol des sozialen Niedergangs in einigen deindustrialisierten Regionen Polens wurden die sogenannten "Armenschächte". Das sind selbstgebuddelte Stollen, in denen die Armen nach Steinkohle graben. (Mehr dazu hier). Der Ethnologe Tomasz Rakowski hat das Phänomen als erster umfassend untersucht und erklärt: "Wir blicken auf die Armut und sehen nur Passivität und staatliche Unterstützung. So sehen und verurteilen es Medien und Politiker. Aus Sicht der angewandten Sozialwissenschaft, die die Gesellschaft als gut geölten Mechanismus sehen möchte, mag das stimmen. Dadurch werden aber diese Menschen nicht nur stigmatisiert, sondern es werden auch die Veränderungen ignoriert. Wenn sich unsere Perspektive ändert, werden wir feststellen können, dass das Vorgehen dieser Armen rational und kulturell unterlegt ist. Diese Menschen nutzten all ihre Möglichkeiten und Fähigkeiten - als man vom Schrott leben konnte, sammelten sie Schrott; als man Kohle fördern konnte, gingen sie unter Tage; als das Sammeln von Kräutern und Blaubeeren lohnenswert war, taten sie das. All diese Jäger und Sammler arbeiteten hart, um ihr Selbstwertgefühl wieder herzustellen, deshalb haben sie überlebt."
El Pais Semanal (Spanien), 14.03.2010
"Hat es eigentlich jemals ein spanisches Wunder gegeben?", fragt sich Javier Cercas. "Die Antwort lautet: Ja, den Schinken aus Jabugo. Das ist aber auch schon alles. Trotzdem war noch vor bis vor kurzem ständig die Rede vom spanischen Wunder. Wer hatte sich das ausgedacht? Die ausländische Presse natürlich, die so genau darüber Bescheid weiß, was in Spanien los ist, wie die spanische Presse darüber, was außerhalb Spaniens los ist. Der Unterschied ist, dass in England oder Frankreich niemand zur Kenntnis nimmt, was die spanische Presse über diese Länder verbreitet, während wir nur darauf warten, auf den Titelseiten zu verkünden, was die englische oder französische Presse über Spanien sagen. Oder können Sie sich vorstellen, dass der britische Wirtschaftsminister die Redaktion von El Pais aufsucht, um sie davon zu überzeugen, dass es der britischen Wirtschaft keineswegs so schlecht geht, wie El Pais zu glauben scheint? In umgekehrter Absicht hat dafür neulich die spanische Wirtschaftsministerin die Financial Times besucht. Natürlich ist die Financial Times nicht El Pais, da haben Sie Recht, schon deshalb, weil El Pais viel mehr von der spanischen Wirtschaft versteht als die Financial Times. Was man daran erkennen kann, dass die Financial Times, die zwei Tage davor ein tiefschwarzes Bild der spanischen Wirtschaft gezeichnet hatte, zwei Tage nach dem Besuch der Ministerin auf einmal verkündete, der spanischen Wirtschaft gehe es hervorragend: Da sieht man, wie viel Ahnung die Financial Times von der spanischen Wirtschaft hat."
Point (Frankreich), 11.03.2010
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Przekroj (Polen), 09.03.2010
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Es bedurfte eines englischen Musikjournalisten, um das Phänomen der Punk-Rock-Rebellion im kommunistischen Polen zu dokumentieren. Das Ergebnis - der Film "Beats of Freedom" kam soeben in die Kinos. "Es ist ein solider Bildungsfilm, der keine sensationellen Neuentdeckungen bringt, da er vor allem für Zuschauer gemacht wurde, die die Volksrepublik nicht mit eigenen Augen gesehen haben. Vor allem für Ausländer, die über die Musik und das Leben jener Zeit wenig wissen. (...) Aber es ist auch ein Film für junge Polen, die in den Achtzigern oder später geboren wurden." (Mehr zu dem Film und der polnischen Musikszene in der Polityka, auf Deutsch.)
Le Monde diplomatique (Deutschland / Frankreich), 12.03.2010
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Weiteres: Ibrahim Warde nimmt das Modell Dubai unter die Lupe. Und außerdem sind Auszüge aus den Erinnerungen von Irene Bruegel zu lesen, die als Kind deutsch-jüdischer Sozialisten aus der Tschechoslowakei in London aufwuchs: "Als ich sieben war, hörte ich meine Mutter sagen: 'Wenn Stalin stirbt, gehen wir wahrscheinlich nach Hause zurück.' Danach betete ich stundenlang, Gott möge Stalin vor dem Tod bewahren."
New Yorker (USA), 22.03.2010
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Außerdem: Was kann die Politik aus der Glücksforschung lernen? Dieser Frage geht Elizabeth Kolbert anhand zweier Publikationen aus dem Forschungsfeld nach. Sasha Frere-Jones bespricht das neue Album von Sade. David Denby sah im Kino Noah Baumbachs Musiker-Komödie "Greenberg" und Marco Bellocchios Film "Vincere" über Mussolinis Geliebter Ida Dalser und ihrem Sohn Albino. Zu lesen ist außerdem die Erzählung "The Pura Principle" von Junot Diaz und Lyrik von Richard Wilbur und Robert Pinsky.
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