Magazinrundschau

Shiva war ein Kiffer

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag Mittag
10.10.2023. Warum war Netanjahu so vertrauensselig gegenüber der Hamas, fragt der Militärhistoriker Edward Luttwak in Tablet. Der New Yorker fürchtet den Fischhunger der Chinesen. Harper's würde sich gern einen legalen Joint in Nepal drehen. Der Chronicle hält fest: Identitätspolitik ist keine Frucht der Postmoderne, sondern des Nationalismus. Somalier würden wohl widersprechen, lernt man in Africa is a Country. Rest of World wirft einen Blick auf die Lage der Feministinnen in China. Die New York Times erzählt, wie in Mexiko der Journalismus zerstört wird.

Tablet (USA), 09.10.2023

In Tablet macht Edward N. Luttwak unter anderem eine gewisse Vertrauensseligkeit der israelischen Regierung gegenüber der Hamas für das katastrophale Versagen aller Alarmmechanismen verantwortlich. Eine Weile lang sah es so aus, als überließe die Hamas dem ebenfalls von Iran gesteuerten, aber viel kleineren 'islamischen Dschihad' den Beschuss Israels mit Raketen, während sich das Verhältnis zu Israel entspannte. "Israel erwiderte den De-facto-Waffenstillstand der Hamas umgehend, indem es Tausenden von Menschen aus dem Gazastreifen erlaubte, in Israel zu arbeiten - zunächst 17.000, dann 20.000, mit der Möglichkeit, dass es noch viel mehr werden. Ihr Verdienst veränderte das Leben von 100.000 Familienmitgliedern mit der Aussicht auf noch größere Vorteile. Was vor Ort geschah, schien einen Weg zur Ruhe für Israel und zu einem gewissen Wohlstand für Gaza zu eröffnen. Offensichtlich war das alles eine Illusion. Die Hamas ist genau wie Arafats PLO bereit, alles für Palästina zu tun - und ganz und gar nichts für die Palästinenser."

Tablet ist ein jüdisch-amerikanisches Magazin mit sehr prononciert proisraelischem Standpunkt und nicht allzu scharfer Kritik an Netanjahu. Davon ist sicher auch die Kritik an Barack Obamas und später Joe Bidens Iran-Politik geprägt, die sich in einem Artikel Alana Newhouses und Jeremy Sterns findet, in dem die AutorInnen die wichtigsten Fragen nach den Pogromen vom Wochenende stellen wollen. Bei der Frage nach den Szenarien, die sich jetzt auftun, stellt sich auch die, ob ein militärischer Schlag Israels gegen den Iran möglich wäre. Nein, meinen sie: "Leider diktiert Amerikas Abkommen mit dem Iran auch hier die Antwort. Israel kann kaum gegen den Iran zurückschlagen, selbst wenn es das wollte, weil der Iran jetzt unter dem Schutz der Vereinigten Staaten steht, die das Regime mit regelmäßigen Geldlieferungen versorgen und versprochen haben, sein Atomprogramm zu schützen. Ein israelischer Angriff auf die iranischen Ölfelder oder ein Angriff auf das iranische Atomprogramm oder die Enthauptung des iranischen Regimes wäre wahrscheinlich gut für Israel und gut für die Region. Da es sich dabei jedoch um Schläge gegen die regionale Ordnung handeln würde, die von den Vereinigten Staaten ins Leben gerufen wurde und von ihnen unterstützt wird, würde ein Schlag gegen den Iran Israel in einen direkten Konflikt mit den Vereinigten Staaten bringen. Das ist ein zu großes Risiko für ein gespaltenes und traumatisiertes Israel."
Archiv: Tablet

New Statesman (UK), 09.10.2023

Lawrence Freedman ist, wie viele derzeit, geschockt von den Hamas-Attacken auf Israel. Wie andere Beobachter fühlt auch er sich an den Jom-Kippur-Krieg im Oktober 1973 erinnert, der mit einem überraschenden Angriff Ägyptens und Syriens auf Israel begann. Doch er sieht auch Unterschiede: "Umfang und Art der Angriffe sind begrenzter und terroristischer, wenn man sie mit der Kanalüberquerung und den Vorstößen mit Panzerfahrzeugen im Jahr 1973 vergleicht. Außerdem bekämpft Israel bislang nur einen Gegner, anders als 1973, als es sich nicht auf die Ägyptischen Angriffe konzentrieren konnte, bevor die dringlichere Gefahr von Seiten Syriens behoben war. Das Land ist sich sicherlich bewusst, dass sich das ändern kann, entweder durch ein Anschwellen der Gewalt in der West Bank oder dadurch, dass die Hisbollah den Krieg vom Libanon aus aufnimmt, mit noch tödlicheren Folgen. Ein anderer Unterschied besteht darin, dass der Krieg im Jahr 1973 zur Diplomatie hinführte. Vorher hatten sich alle arabischen Staaten geweigert, Israels Existenzrechr anzuerkennen und Vorschläge für direkte Verhandlungen zurückgewiesen. Der ägyptischen Präsident Anwar Sadat wollte das ändern und nutze seinen Prestigegewinn aufgrund der ersten erfolgreichen Kriegstage dazu, einen Prozess in Gang zu setzen, der mit einem Friedensvertrag mit Israel endete. Woraufhin er, leider, umgebracht wurde. Dem gegenwärtigen Krieg hingegen gingen wichtige Verhandlungen und Durchbrüche in den israelisch-arabischen diplomatischen Beziehungen, besonders was die Golfstaaten betrifft, voraus. ... Der saudische Kronprinz Mohammed Bin Salman besteht weiterhin darauf, dass die palästinensische Frage nicht vergessen ist, aber die Palästinenser haben in der Region nur wenige Freunde, so populär ihre Sache auch bei den einfachen Menschen ist. Die Anschläge wurden vor der jüngsten Phase des saudi-israelischen Dialogs geplant. Da dieser Normalisierungsprozess jedoch schon seit einiger Zeit im Gange ist, ist es möglich, dass ein Motiv darin bestand, ihn zum Entgleisen zu bringen."
Archiv: New Statesman

London Review of Books (UK), 05.10.2023

Allen Bemühungen zum Trotz, den illegalen Handel mit gestohlenen Antiquitäten einzuschränken, boomt das Geschäft damit, stellt Azadeh Moaveni fest. Nicht unwesentlich daran beteiligt ist die "Antikenabteilung von Isis, eine offizielle Einheit, die Millionen von Dollar sammelte, um die Operationen der Gruppe zu finanzieren. Auf dem Höhepunkt seiner Macht beherrschte der Islamische Staat ein Drittel des Irak sowie Gebiete in Libyen und Syrien, die reich an antiken Ruinen sind, darunter mindestens zehn Unesco-Welterbestätten. In Syrien waren auch Oppositionsgruppen, die von den USA und den Golfstaaten unterstützt wurden, in diesen Handel verwickelt. Als ich einige Zeit in Syrien und der Türkei verbrachte, um über Isis zu berichten, zückten Rebellenkommandeure beim Abendessen ihre Mobiltelefone, um mir Bilder von antiken Gegenständen zu zeigen - antike Gebetsperlen, eiförmige Schnitzereien -, die sie zu Hause hatten, und fragten mich manchmal, was diese seltsamen Gegenstände sein könnten. Unter Experten für Terrorfinanzierung und Archäologen herrscht Uneinigkeit darüber, wie hoch die Einnahmen von Isis aus dem Handel mit Antiquitäten waren: Verlässliche Daten sind nur schwer zu bekommen. Aber der Verdacht, dass es sich um eine beträchtliche Summe handelt, hat zu Reformen in der Welt des Handels und des Sammelns geführt, die noch vor einem Jahrzehnt rücksichtslos und oft gleichgültig gegenüber Fragen der Herkunft waren. Wenn wohlhabende Sammler nicht bereit waren, das kulturelle Erbe von Ländern zu schützen, die sich im Krieg befanden, würde vielleicht die Andeutung, dass sie Isis finanzierten, ihre Gleichgültigkeit bremsen. Organisationen wie die Clooney Foundation for Justice haben Berichte in Auftrag gegeben, die die Verwendung von geraubten Antiquitäten zur Finanzierung von Kriegsverbrechen und Terrorismus veranschaulichen und darauf hinweisen, dass kriminelle Antiquitätenhändler viele illegale Güter auf einmal transportieren können: Waffen, Menschen und Wildtiere ebenso wie wertvolle Artefakte. Die somalische Dschihadistengruppe al-Shabaab exportierte Elfenbein nach China, um ihre Aktivitäten zu finanzieren, zu denen auch der Anschlag auf das Westgate-Einkaufszentrum in Nairobi gehörte, bei dem 71 Menschen getötet wurden." Dennoch finden immer wieder kostbare Artefakte ihren Weg in große Museen, wie beispielsweise der goldene Sarg des ägyptischen Priesters Nedjemankh, den das Met Museum 2018 auf seiner jährlichen Gala ausstellte und der sich als Raubkunst entpuppte, nachdem Kim Kardashian neben ihm posiert hatte.

James Vincent unternimmt in seiner Besprechung von Keith Houstons Buch "Empire of the Sum: The Rise and Reign of the Pocket Calculator" einen Gang durch die Geschichte der "Gehirnprothesen", also der diversen Rechenmaschinen, die über die Jahrtausende entwickelt wurden, um die Beschränktheit unserer kognitiven Fähigkeiten auszugleichen. Ein wichtiges frühes Gerät war der Abakus, der im 17. Jahrhundert von dem auf logaritmischen Prinzipien beruhenden Rechenschieber abgelöst wurde. Schon damals wurden technische Neuerungen skeptisch beäugt, lernen wir, oft mit ähnlichen Argumenten wie heute: "Die Person, die für die Entwicklung der Erfindung am wichtigsten war, der Engländer William Oughtred (1574-1660), ein Pfarrer und Mathematiker, hielt den Rechenschieber bald für gefährlich, weil seine Einführung dazu führen könnte, dass Schüler die mathematischen Grundlagen nicht mehr lernen. 'Die richtige Art zu unterrichten ist nicht mit Instrumenten, sondern durch Demonstration', beschwerte er sich. 'Es ist ein Irrweg vulgärer Lehrer, mit Instrumenten zu beginnen, und nicht mit Wissenschaft, und die Schüler Tricks aufführen zu lassen, als wären sie Jongleure.'"

New Yorker (USA), 16.10.2023

Die USA haben mehr Waffen an die Ukraine geliefert als jedes andere Land. Aber sie haben auch immer wieder Lieferungen neuer Waffen hinausgezögert und die Aussicht auf eine Nato-Mitgliedschaft - auch auf Drängen von Olaf Scholz - verweigert. Die Ukraine hockt derweil in eine Art Limbo, weil sie nie weiß, wie weit die Unterstützung tatsächlich reichen wird. Das vorläufige Einfrieren aller Ukrainehilfe aufgrund des Putsches einiger rechtsaußen-Republikaner gegen ihren Sprecher bestätigt das nur. Susan B. Glasser hat sich für den New Yorker mit Jake Sullivan, dem Sicherheitsberater Joe Bidens, über den schlingernden Kurs der US-Regierung unterhalten: "Sullivan macht sich offensichtlich große Sorgen darüber, wie sich die Situation entwickeln wird. ... Selbst ein ukrainischer Sieg würde die amerikanische Außenpolitik vor Herausforderungen stellen, da er 'die Integrität des russischen Staates und des russischen Regimes bedrohen und zu Instabilität in ganz Eurasien führen würde', wie es ein ehemaliger US-Beamten mir gegenüber ausdrückte. Der Wunsch der Ukraine, die besetzte Krim zurückzuerobern, bereitet Sullivan besondere Sorgen. Er hat die Einschätzung der Regierung zur Kenntnis genommen, dass dieses Szenario das höchste Risiko birgt, dass Putin seine nuklearen Drohungen wahr macht. Mit anderen Worten: Es gibt nur wenige gute Optionen. 'Der Grund für die zögerliche Haltung gegenüber einer Eskalation liegt nicht unbedingt darin, dass sie russische Vergeltungsmaßnahmen für ein wahrscheinliches Problem halten', so der ehemalige Beamte. 'Es ist nicht so, dass sie denken: Oh, wir geben ihnen ATACMS und dann wird Russland einen Angriff gegen die NATO starten. Vielmehr erkennen sie, dass es nicht weitergeht, dass sie einen Krieg führen, den sie weder gewinnen noch verlieren können.'"

China hat seine Flotte an Fischereischiffen massiv erweitert - allerdings nicht nur zum Zwecke des Fischens und vor allem zu Lasten der Besatzungen, wie Ian Urbina zeigt. "Der chinesische Staat besitzt einen großen Teil der Industrie - inklusive rund zwanzig Prozent der Tintenfisch-Schiffe - und kontrolliert den Rest mit der Overseas Fisheries Association. Heutzutage konsumiert die Nation mehr als ein Drittel des Fisches auf der Welt. Die chinesische Flotte hat auch den internationalen Einfluss der Regierung erweitert. Das Land hat etliche Häfen im Rahmen seiner Belt and Road-Initiative errichtet, ein globales Infrastruktur-Programm, das dafür gesorgt hat, dass China zeitweise der größte Geldgeber für Entwicklungen in Südamerika, Subsahara-Afrika und Südasien ist. Diese Häfen erlauben dem Staat, Steuern zu umschiffen und regulierenden Behörden aus dem Weg zu gehen. Die Investitionen kaufen der Regierung auch Einfluss. 2007 hat China Sri Lanka mehr als dreihundert Millionen Dollar geliehen, um einen Hafen zu bauen. (Eine Firma im Besitz des chinesischen Staates hat den Auftrag umgesetzt.) 2017 war Sri Lanka, das kurz vor der Rückzahlung des Kredites stand, gezwungen, einen Deal einzugehen, der China Kontrolle über den Hafen und seine Umgebung für die nächsten 99 Jahre zusichert." Die menschenunwürdigen Bedingungen, unter denen gearbeitet wird, stehen dabei selten im Fokus: "Wie die Boote, die sie beliefern, sind auch die chinesischen Verarbeitungsstätten auf Zwangsarbeit angewiesen. Über die letzten dreißig Jahre hat die nordkoreanische Regierung ihre BürgerInnen gezwungen, in Fabriken in Russland und China zu arbeiten und neunzig Prozent ihres Einkommens - Summen, die sich auf hunderte Millionen Dollar belaufen - in Konten einzuzahlen, die der Staat kontrolliert. Die ArbeiterInnen sind oftmals stark überwacht und in ihrer Bewegungsfreiheit streng eingeschränkt. Sanktionen der UN verbieten solche Nutzung nordkoreanischer ArbeiterInnen, aber, chinesischen Regierungsschätzungen zufolge, haben letztes Jahr allein in einer nordöstlichen Stadt Chinas rund 80 000 NordkoreanerInnen gelebt."

Weitere Artikel: Emily Witt erzählt die Geschichte eines Trans-Teenagers auf der Suche nach einer angemessene Behandlung in den USA. Michelle Orange denkt über die Bedeutung von Madonna nach. Gideon Lewis-Kraus liest "Going Infinite", Michael Lewis' Buch über Sam Bankman-Fried, Gründer und ehemaliger CEO der inzwischen insolventen Kryptowährungsbörse FTX. Julian Lucas bespricht Teju Coles Roman "Tremor". Und Anthony Lane sah im Kino Justine Triets "Anatomy of a Fall" mit Sandra Hüller und Samuel Theis.
Archiv: New Yorker

Elet es Irodalom (Ungarn), 29.09.2023

Der aus der Wojwodina stammende Schriftsteller György Szerbhorváth schreibt über den in der Wojwodina lebenden Schriftsteller László Végel und beleuchtet dabei auch Végels konsequente Skepsis gegenüber dem "Mutterland" samt der Hauptstadt Budapest: "Sagen wir, Végels Kossuth-Preis und seine kürzliche Mitgliedschaft in der ungarischen Akademie unterstützen die Logik der Ausgrenzung nicht, aber ich kann nur eine (Gegen-)Geschichte zum Verständnis anbieten (...) Der Schlüssel zum Geheimnis ist vielleicht, dass die Südslawen, die Post-Jugoslawen (nennen wir sie, wie wir wollen) ihn tatsächlich - sogar in Übersetzungen - besser verstehen als die Ungarn. Das ist Végels Kummer, aber ich denke, es ist nicht so schlimm, dass ein Segment der ungarischen und serbischen, kroatischen (usw.) Kultur irgendwo eine gemeinsame Basis findet, denn von den Rändern aus (Teil seiner Selbstdefinition) sieht er etwas anderes und zeigt etwas anderes, das bei den Zeitgenossen, die nach Jugoslawien heimatlos wurden, mitschwingt. (...) Vielleicht hat Végel das Gefühl, dass Budapest ihn nicht so akzeptiert, wie er es gerne hätte, weil seine ex-jugoslawischen Zeitgenossen ihn besser verstehen."

Harper's Magazine (USA), 10.10.2023

Cannabis gibt es in Nepal seit Urzeiten. Die Einheimischen "haben Cannabis vor fast allen anderen Menschen auf der Welt angebaut, und in einem hinduistischen Text wird es als 'Befreier' beschrieben", erzählt Sean Williams in einem Brief aus Nepal. "Die Gottheit Shiva war Berichten zufolge ein Kiffer, und seine Anhänger ehrten ihn, indem sie Charas in Ton- oder Steinpfeifen, Chillums genannt, stopften und sich in psychotrope Trance versetzten. Jedes Jahr veranstalten die Nepalis ein Fest namens Maha Shivaratri, 'die große Nacht des Shiva', an dem fast alle Menschen im Königreich stoned waren." In den Sechzigern entdeckten Beatniks und Hippies den phantastischen Stoff, der in Nepal wuchs, doch 1973 war es damit vorbei: Auf Druck der USA verbot König Birendra den Anbau und Gebrauch von Cannabis. Heute sind die Maoisten an der Regierung, die einst versprochen hatten, Cannabis wieder zu legalisieren, doch bis heute wurde nichts draus. Inzwischen sind sie dabei, es sich anders zu überlegen. Auch Madan, ein ehemaliger Heroinabhängiger wirbt für die Legalisierung, die vielen Kleinbauern ein Einkommen sichern könnte. Aber Nepal ist spät dran, bemerkt Williams, während er am frühen Abend in Kathmandu über die fast ausgestorbene Freak Street schlendert. "Legales Gras könnte die Hippies zurücklocken - oder zumindest ihre Enkelkinder. In der Karibik werden inzwischen Cannabis-Touren angeboten, und Thailand hat seinen eigenen traditionsreichen Freizeitmarkt legalisiert. Sich im Himalaya zu berauschen, scheint ein attraktiver Anreiz zu sein. ... Viele Einheimische sind der Meinung, dass Ausländer seit langem das Beste aus dem immensen natürlichen Reichtum Nepals herausgeholt haben, ob es nun Bergsteiger sind, die die gigantischen Gipfel erklimmen, Unternehmen, die die Jugend des Landes beschäftigen, oder Hippies, die das stärkste Charas konsumieren. Die Legalisierung des Kiffens könnte dazu beitragen, den Trend umzukehren. Doch ironischerweise legalisieren dieselben Nationen, die Birendra unter Druck gesetzt haben, Cannabis zu verbieten, es nun massenhaft und kommen Nepal damit zuvor."

Außerdem: Rachel Cusk schreibt über die Macht der Mütter, auch wenn sie gestorben sind.
Stichwörter: Nepal, Cannabis

Chronicle (USA), 03.10.2023

Ist Identitätspolitik eine Ausgeburt der Postmoderne, wie Yascha Mounk in seinem neuen Buch "The Identity Trap" behauptet? Überhaupt nicht, meint der Politikwissenschaftler Jason Blakely. "Sie geht vielmehr gut anderthalb Jahrhunderte zurück auf die kulturellen Veränderungen, die die moderne Welt hervorgebracht haben. Wie der Philosoph Charles Taylor in einer Vielzahl von Büchern und Aufsätzen gezeigt hat, wurzelt die Identitätspolitik in einer Verschmelzung der romantischen Ethik der Authentizität und der aufklärerischen Idee der Volkssouveränität. Ziel der Identitätspolitik ist das, was Taylor bekanntermaßen als 'Anerkennung' bezeichnete. Auch wenn es nicht gerne gesagt wird, basiert die älteste Form dieser Politik nicht auf Rasse, Geschlecht oder sexueller Orientierung, sondern auf Nationalismus", wie Rousseau und Herder ihn verstanden. "Der Nationalismus verbindet diese Forderung nach Selbstbestimmung mit der Vorstellung der früheren Aufklärung, dass eine legitime Regierung auf einem Gesellschaftsvertrag beruht und durch die Volkssouveränität bestätigt wird. Der Staat ist nach dieser Auffassung nur dann legitim, wenn er den Willen eines Volkes repräsentiert. Die Identität muss repräsentiert werden. Im Falle des Nationalismus wird häufig eine Eins-zu-eins-Identität von Staat und Nation angestrebt. Der Staat wird von Nationalisten sogar als höchster Ausdruck der Anerkennung der Existenzberechtigung der Kultur und Sprache eines Volkes angesehen. ... Wie Tayler kurz und bündig formulierte: 'Die moderne nationalistische Politik ist eine Art von Identitätspolitik. In der Tat ist sie die ursprüngliche Spezies', deren 'Modell' des 'Kampfes' dann 'auf den Feminismus ... kulturelle Minderheiten, auf die Schwulenbewegung usw. angewandt wird'." Identitätspolitik, also Anerkennung, ist heute praktisch unvermeidlich, meint Blakely. "Hier könnten LGBTQ-Befürworter und christliche Nationalisten, Feministen und Traditionalisten die schwierige Aufgabe bewältigen, unerwartete Gemeinsamkeiten in der geteilten Sorge zu finden, ihren Platz in der Gesellschaft zu verlieren."
Archiv: Chronicle

Africa is a Country (USA), 26.09.2023

Was aber, wenn Identitätspolitik einen Staat gar nicht mehr zulässt? Dafür ist derzeit Somalia ein Beispiel und dessen Chance auf Einheit, auf ein friedliches Zusammenleben der unterschiedlichen Clans. Faisal Ali und Jethro Norman klingen nicht sehr optimistisch in ihrer Bestandsaufnahme: "Als Somalia 1960 unabhängig wurde, wurde es von der Somali Youth League (SYL) regiert, die wie andere Unabhängigkeitsbewegungen dieser Zeit nationalistisch eingestellt war. Die Kolonien, aus denen die SYL eine Nation machen wollte, waren von Frankreich (das heutige Dschibuti), Großbritannien (Northern Frontier District und Britisch-Somaliland), Italien (Italienisch-Somaliland) und Äthiopien (Ogaden-Region) regiert worden. Die Somalier bezeichneten dies als Somaliweyn (Groß-Somalia), und die Aufrufe zu seiner Einigung blieben in den folgenden Jahren eine wichtige politische Botschaft. Um dieses Ziel zu erreichen, entwickelte die Partei ein staatsbürgerliches Ethos, das versuchte, über den Clan-Hintergrund hinauszugehen". Doch zehn Jahre später gab es bereits "mehr als 60 Parteien mit über 1000 Kandidaten an, die alle die Vielzahl der somalischen Clans repräsentierten. Dann stürzte das Militär unter der Führung von Siad Barre 1969 die Regierung." Nach einem Bürgerkrieg wurde 2012 "mit der Verabschiedung einer neuen Verfassung ein System eingeführt, das die Macht zwischen den Clans aufteilt und Anreize für bestimmte Bevölkerungsgruppen schafft, föderale Mitgliedsstaaten auf der Grundlage ihrer Clanzugehörigkeit zu bilden. Damit wurde die Möglichkeit einer clanunabhängigen nationalen Identität zunichte gemacht. Obwohl die Macht theoretisch zwischen der Bundesregierung und den Regionalstaaten geteilt ist, haben Clan-Rivalitäten und Machtkämpfe oft Vorrang vor nationalen Interessen, was zu chronischer Instabilität führt." Nutznießer dieser Situation ist derzeit vor allem die islamistische Terrorgruppe Al-Shabaab, die in den von ihr kontrollierten Gebieten "ein praktisches Regierungs- und Steuersystem eingerichtet hat. Während ihre ideologische Haltung clanbasierte politische Vorstellungen über Bord wirft, nutzt sie die Missstände der marginalisierten Minderheitenclans innerhalb des föderalen Systems aus, um Kämpfer zu rekrutieren und Unterstützung zu gewinnen."

Rest of World (USA), 26.09.2023

Wanqing Zhan wirft einen Blick auf die Lage des Feminismus in China: Tatsächlich verstehen sich immer mehr Frauen als Feministinnen, sogar einen kurzen MeToo-Moment gab es vor wenigen Jahren. Allerdings spielt sich dieser Feminismus vor allem auf den chinesischen sozialen Medien ab - und zugleich beschuldigt das Regime den Online-Feminismus dafür, dass weniger Ehen geschlossen und weniger Kinder geboren werden. Entsprechend werden feministische Accounts auf Social-Media ausspioniert und auch von antifeministischen Lakaien verpetzt und angezeigt. "Die Regierung steht hier eindeutig auf einer Seite. Koordiniertes, antifeministisches Trolling koordiniert sich mit deren Durchgreifen gegen Frauenrechte-Aktivismus, sagt die Autorin Leta Hong Fincher. 'Das geht alles ziemlich Hand in Hand mit der Auffassung der Regierung, dass Feminismus im Allgemeinen eine Bedrohung für die Regierung darstellt, dass diese feministischen Stimmen sich zu einer Gefahr entwickeln und sich schädlich auf die gesellschaftliche Stabilität auswirken könnten', sagte sie. In jüngsten Jahren bewerben die Richtlinien der Regierung traditionelle Familienwerte, was auch eine Abkehr von der Ein-Kind-Politik umfasst, um Paare offen dabei zu unterstützen, mehr Kinder zu zeugen. Gelegentlich fallen die Botschaften auch direkter aus. Im vergangenen Jahr kritisierten Leute auf Social Media Chinas Kommunistischen Jugendverband, eine Parteiorganisation für junge Leute, dafür, dass er in einer einer Serie über Fotos zur Geschichte der Kommunistischen Partei kein einziges Bild einer Frau untergebracht hat. Der Verband reagierte zornig: 'Der 'extreme Feminismus' wird immer blindwütiger und giftiger', verlautete er auf der Social-Media-Plattform Weibo. 'Es ist dringend, dass dieser bösartige Tumor herausgeschnitten wird, um eine friedliche Onlineumgebung wiederherzustellen!'"
Archiv: Rest of World

New York Times (USA), 09.10.2023

Mexiko ist für Journalisten zum Spiegelkabinett geworden: Es gibt keine Ebene des Staates mehr, die nicht wurmstichig ist. Wenn Journalisten von Lokalregierungen bedroht werden, werden sie von der Zentralregierung in Safe Houses gesteckt - aber sind sie dort sicher? Seit 2006 wurden mindestens 128 Journalisten ermordet, erzählt Nicholas Casey in einer tieftraurigen Reportage. Einen Fall greift er heraus, das Städtchen Zitácuaro, wo der Journalist Armando Linares López und einer seiner Kollegen umgebracht worden sind. Sie hatten ihre Redaktion durch eine Doppeltür abgesichert, hatten sich eine Waffe zugelegt, hatten Lösegeld bezahlt. Es nützte alles nichts. Übrig geblieben ist nur mehr Linares' Kollege Joel Vera Terrazas: "Am Tag nach Linares' Tod beschloss Vera, Monitor Michoacán zu schließen. Ab jetzt besuchte niemand mehr das Rathaus mit Fragen, und es gab keine Sendungen mehr aus dem Newsroom. Die Website wurde geschlossen, abgesehen von einer Facebook-Seite. Die jahrelangen Recherchen in Zitácuaro verschwanden aus dem Internet. Diejenigen, die sie angegriffen hatten, hatten gewonnen. Die Nachricht über den Mord an Linares verbreitete sich. Ein anderer lokaler Journalist hörte Gerüchte, dass weitere Reporter ermordet werden sollten. Als der Journalist sah, dass Motorräder in der Nachbarschaft kreisten, floh er. Kurz darauf tat ein anderer Lokaljournalist das Gleiche. Das Pressekorps in Zitácuaro verschwindet."

Die Netflixserie "Tijuana" wurde leider nach einer Staffel eingestellt, sie erzählt ziemlich genau, wie Gewalt gegen Journalisten in Mexiko funktioniert.
Archiv: New York Times
Stichwörter: Mexiko, Drogenkartelle

En attendant Nadeau (Frankreich), 10.10.2023

Mexiko ist ein Land düsterer berühmter Verbrechen, die meist mit dem Drogenproblem liiert sind. In Frankreich erscheinen zwei Bücher von Sergio Gonzalez Rodriguez (1950-2017), die auch deutsche Verleger interessieren sollten, "Des os dans le désert" und "Les 43 d'Iguala". Im ersten dieser Bücher - die beide wohl am ehesten als literarische Reportagen beschrieben werden können - geht es um die Morde an Prostituierten in der Grenzstadt Juarez, die auch in Roberto Bolaños berühmten Roman "2666" eine so wichtige Rolle spielten. Für Bolaño, der Rodriguez' Buch in den höchsten Tönen gelobt hatte, waren dessen Recherchen eine wichtige Grundlage, schreibt Florence Olivier. In dem Buch  "Les 43 d'Iguala" geht es um das berühmte Massaker an Studenten, das die mexikanische Öffentlichkeit seit 2014 nicht loslässt. Rodriguez hat sein Buch im Jahr 2015 veröffentlicht, als sich schon die staatliche Verwicklung in das Verbrechen abzeichnete. Die Frage Rodriguez' sei: "Was ist ein abscheuliches Verbrechen?", so Olivier: "Ein grausames Verbrechen ist ein Staatsverbrechen, das seinen Namen nicht nennt und auf Straflosigkeit abzielt, ein Verbrechen, bei dem die Rechtsstaatlichkeit ebenso mit Füßen getreten wird wie die Opfer und die gesamte Nation. Einige Zeilen weiter stellt Sergio González Rodriguez fest: 'Wir sind vom Tribut der totalitären Gesellschaften und ihrer inhärenten Barbarei zum Risiko der globalisierten Gesellschaften und der drohenden Barbarei übergegangen.' Das Schreiben über diese Barbarei ist daher zwingend erforderlich und hat nichts mit 'schönen Formen' zu tun, die die Realität verwässern und verbergen. Rodriguez, der sich zu seiner Vehemenz bekennt, kommt direkt auf den Punkt."