Magazinrundschau - Archiv

En attendant Nadeau

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Magazinrundschau vom 27.02.2024 - En attendant Nadeau

Letzte Woche hat Emmanuel Macron, von der deutschen Öffentlichkeit so gut wie unbemerkt, die Überreste des Widerstandskämpfers Missak Manouchian und seiner Frau Mélinée ins Panthéon überführen lassen. Es handelt sich dabei um einer Art republikanische Heiligsprechung, die nur wenigen Toten widerfährt und mit großem Zeremoniell begangen wird. Jean-Yves Potel kommt auf einige Bücher zu sprechen, die im Kontext dieser Zeremonie erschienen sind. Manouchian war Anführer einer Gruppe, die heute nach dem "Roten Plakat", einem Fahndungsplakat der Nazis, benannt ist. Ihm hat der kommunistische Parteipoet Louis Aragon ein Gedicht gewidmet, das vom Chansonniers Léo Ferré unsterblich gemacht wurde - es verfestigte auch den Mythos, dass vor allem die KP Widerstand geleistet hätte (wenn auch erst nach dem Hitler-Stalin-Pakt). Unter anderem hat die bekannte Autorin Anne Wieviorka gegen die ausschließliche "Pantheonisierung" des Ehepaars Manouchian polemisiert - und der Zeremonie darum eine zu starke Fokussierung auf Einzelpersonen vorgeworfen. Dennoch: Die Symbolik sollte gerade wohl auch sein, dass hier ein armenisches Paar geehrt wird - denn in Frankreich spielte die armenische Diaspora nach dem Völkermord eine große Rolle. Ein anderes Buch hat der Historiker Claude Collin verfasst, der Widerstandsgruppen in der Region Grenoble studierte: "Er findet so heraus, dass unter den 96 Toten in diesen Einheiten - von ihrer Gründung bis zur Befreiung - nur 23 Franzosen sind. Die anderen sind Polen, Ungarn, Italiener, Spanier, darunter 34 Juden. Im Rahmen dieser sehr detailreichen Untersuchungen betont Collin, dass selbst die Kommunistische Partei diese ausländische Präsenz herunterspielte, wenn nicht sogar verschwieg. Und er fragt sich, warum es so lange dauerte, bis die Rolle der Ausländer in der Résistance anerkannt wurde. Er spricht von einem 'Mantel des Schweigens', der im Wesentlichen politisch motiviert war."

Magazinrundschau vom 10.10.2023 - En attendant Nadeau

Mexiko ist ein Land düsterer berühmter Verbrechen, die meist mit dem Drogenproblem liiert sind. In Frankreich erscheinen zwei Bücher von Sergio Gonzalez Rodriguez (1950-2017), die auch deutsche Verleger interessieren sollten, "Des os dans le désert" und "Les 43 d'Iguala". Im ersten dieser Bücher - die beide wohl am ehesten als literarische Reportagen beschrieben werden können - geht es um die Morde an Prostituierten in der Grenzstadt Juarez, die auch in Roberto Bolaños berühmten Roman "2666" eine so wichtige Rolle spielten. Für Bolaño, der Rodriguez' Buch in den höchsten Tönen gelobt hatte, waren dessen Recherchen eine wichtige Grundlage, schreibt Florence Olivier. In dem Buch  "Les 43 d'Iguala" geht es um das berühmte Massaker an Studenten, das die mexikanische Öffentlichkeit seit 2014 nicht loslässt. Rodriguez hat sein Buch im Jahr 2015 veröffentlicht, als sich schon die staatliche Verwicklung in das Verbrechen abzeichnete. Die Frage Rodriguez' sei: "Was ist ein abscheuliches Verbrechen?", so Olivier: "Ein grausames Verbrechen ist ein Staatsverbrechen, das seinen Namen nicht nennt und auf Straflosigkeit abzielt, ein Verbrechen, bei dem die Rechtsstaatlichkeit ebenso mit Füßen getreten wird wie die Opfer und die gesamte Nation. Einige Zeilen weiter stellt Sergio González Rodriguez fest: 'Wir sind vom Tribut der totalitären Gesellschaften und ihrer inhärenten Barbarei zum Risiko der globalisierten Gesellschaften und der drohenden Barbarei übergegangen.' Das Schreiben über diese Barbarei ist daher zwingend erforderlich und hat nichts mit 'schönen Formen' zu tun, die die Realität verwässern und verbergen. Rodriguez, der sich zu seiner Vehemenz bekennt, kommt direkt auf den Punkt."

Magazinrundschau vom 21.02.2023 - En attendant Nadeau

Françoise Frenkels Buch "Nichts, um sein Haupt zu betten" hatte auch in Deutschland eine sehr lebhafte Aufnahme gefunden - zumindest bei der Kritik. Die Autorin polnisch-jüdischer Herkunft, die in den zwanziger Jahren in Berlin eine französische Buchhandlung unterhielt, wo sie unter anderem Roger Martin du Gard oder André Gide zu Lesungen empfing, erzählt darin, nüchtern und fesselnd, wie schwierig es war, in der Emigration einen neuen Ort zu finden. Das Buch war nach dem Krieg an entlegener Stelle erschienen und wurde dann mit einem Vorwort von Patrick Modiano neu aufgelegt. Die Historikerin Corine Defrance hat durch einen großartigen Zufall eine Menge weiterer Dokumente von Frenkel gefunden und kann darum in Frankreich nun eine Biografie über sie publizieren, die Sonia Combe mit großer Begeisterung bespricht: "Die Schweiz ist nur ein Transitland. Die Gastfreundschaft hatte ihre Grenzen. Françoise Frenkel geht nach Frankreich und wählt Nizza, wo sie Bekannte hat, die ihr bereits geholfen haben. Ihr Buch half ihr auf seltsame Weise bei der Einbürgerung, die ihr, wie Corine Defrance minuziös beschreibt, im Jahr 1950 gewährt wurde. Sie ist damals einundsechzig Jahre alt und wohnt in einer 'ein-Zimmer-und-Küche'-Wohnung. Immerhin hat sie Meerblick. Sie hat fast ihre gesamte Familie in Polen verloren und wird nie genau erfahren, wie ihre Verwandten ermordet wurden. Ihr Ex-Mann wurde am 16. Juli 1942 in Paris in der Rue Delambre 41 verhaftet. Heute weiß man, dass er am 19. August 1942 in Auschwitz starb." Combe schreibt in ihrer Kritik über einen wichtigen Text Frenkels, in dem sie die deutsch-französische Annäherung nach dem Krieg kritisiert - und in ihrer nüchternen Art erzählt, wie sie in Deutschland nach dem Krieg versuchte, Entschädigung zu bekommen. Hoffen wir, dass Defrances Biografie übersetzt wird.

Magazinrundschau vom 10.01.2023 - En attendant Nadeau

Georges-Arthur Goldschmidt empfiehlt in einem kurzen Text Euphrosinia Kersnovwkajas Chronik aus dem Gulag, "Envers et contre tout", die auf Deutsch noch nicht erschienen ist. Es handelt sich um einen der wenigen weiblichen Berichte aus den sowjetischen Lagern, in denen Kersnovwkaja die Jahre 1940 bis 52 verbringen musste. "Ihr Schicksal ist es zu zeigen, dass es kaum einen Unterschied zwischen dem 'freien' Leben und dem Gulag gibt. Auch draußen ist man immer noch drinnen", schreibt Goldschmidt, der hervorhebt, dass ihr Buch gegenüber anderen Gulag-Büchern eine Besonderheit hat: "Jede erzählte Episode wird von einer Illustration begleitet, die uns in physischen Kontakt mit dieser Realität bringt. Mehr als zweihundert Zeichnungen illustrieren dieses Buch. Diese Zeichnungen geben nicht nur wieder, was war, sondern sie zeigen es auch auf naive und zugleich genaue Weise. Diese Zeichnungen strahlen eine Präsenz und eine Wahrheit aus, die sie zu umso eindringlicheren Dokumenten machen, als sie selbst erlebt wurden. Die Aquarelle und Zeichnungen erheben keinen Anspruch auf den Status eines Kunstwerks, sondern sollen lediglich das Erzählte konkretisieren."

Magazinrundschau vom 29.11.2022 - En attendant Nadeau

In China, so scheint es, wird Hai Zi verehrt als eine Art Rimbaud oder auch Hölderlin. Im Alter von 25 Jahren legte er sich im März 1989 auf ein Bahngleis. Neben seiner Leiche fanden sich Bücher von Joseph Conrad und Henry David Thoreau und die Bibel, lernt man in der englischsprachigen Wikipedia. Er hat einige Langgedichte und unzählige kurze verfasst. In Frankreich erscheint nun eine Auswahl, übersetzt von Pierre Vinclair. Eine abwesende Geliebte spielt in seiner Lyrik immer wieder eine Rolle, erzählt Claude Tuduri: Der Schmerz um sie sei um so beunruhigender, "als sie nie benannt wird. Weder Beatrice noch Diotima, weder ihr Körper, noch ihr Blick, noch ihr Name tauchen auf. Als wäre es 'das' Weibliche in seiner Gesamtheit, das den Autor mit seinem Elend alleingelassen hat." Die transzendentale Einsamkeit hat Hai Zi übrigens auch in extrem reduzierten Zeichnungen bebildert, die ein wenig an Kafkas Zeichnungen erinnern. Hai Zi ist auch von Hölderlin beeinflusst: "Hölderlin, sag mir, für wen sind meine Gedichte geschrieben? / Gedichte und Lebensmittel versteckt hinter einer Kellertür / Häuser und Obstbäume, welch' ein Bild werden sie im Finsteren abgeben?" Hai Zi kam vom Land. Die Natur spielt eine Rolle wie in Gedichten des 19. Jahrhunderts, so scheint es (in der Weiterübersetzung aus dem Französischen): "Erinnerst du dich an den Donner, der in der Ferne rollte / Sehr hoch im Himmel hallte der Klang des Paradieses / Unstete Menschheit, erinnerst du dich / an die weiße Pappel unter dem Blitz und im Regen?"

Nicht völlig glücklich ist David Novarina mit der allzu anekdotenseligen Geschichte der Juden von Odessa von Isabelle Némirovski ("Histoire, mémoires et représentations des Juifs d'Odessa - Un vieux rêve intime"). Aber sie empfiehlt eine Lektüre am besten parallel zu den Büchern Isaak Babels. Vor allem die Schilderung der Glanzzeit Odessas in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bis zum Pogrom von 1905, über die auch Edmund de Waal in seinem "Hasen mit den Bernsteinaugen" schreibt, ist für die Rezensentin ein Gewinn. "In dieser Stadt, in der sich so etwas wie eine 'jüdische Aristokratie' bildet, herrscht ein fortschrittlicher Geist, der von der Haskala, der jüdischen Aufklärungsbewegung inspiriert ist... Es bildet sich eine jüdische Presse, und auch literarische Salons prägen das Leben der Stadt. Isabelle Némirovski erwähnt die Figur des Josef Klausner, eines zionistischen Intellektuellen, der dazu beitrug, das moderne Hebräisch zu schaffen. Sein Großneffe, der israelische Autor Amos Oz, erinnert sich in seinem Roman 'Eine Geschichte von Liebe und Finsternis' an ihn: 'In meiner Kindheit empfand ich eine große Bewunderung für meinen Großonkel, denn, so sagte man man mir, er hatte Wörter des Alltags erfunden, Wörter, die seit je zu exisitieren schienen wie 'monatlich', 'Bleistift', 'Eisberg', 'Hemd'."

Magazinrundschau vom 01.11.2022 - En attendant Nadeau

Die Belagerung von Leningrad mit dem Hungermord an Hunderttausenden, gehört zu den von den Deutschen begangenen Verbrechen, die sie bis heute eher verdrängen. Die von den Nazis gewollte und den deutschen Soldaten ins Werk gesetzte Entmenschlichung findet natürlich auch in den Opfern statt. Jura Rjabinkin, der im Alter von 16 Jahren an Hunger gestorben ist, beschreibt diese Entmenschlichung, diesen Hass auf das Brot des anderen, in seinem Tagebuch sehr genau, erzählt  Philippe Artières. 1972 wurde es in Russland zum ersten Mal gedruckt. Auf deutsch scheint dieses Tagebuch noch nicht publiziert zu sein, aber Passagen wurden in dem von Daniil Granin herausgegebenen "Blockadebuchs" von 2019 nachgedruckt, auf französisch bringen es jetzt die Editions des Syrtes heraus: "Das Schreiben ist eine Waffe im Kampf gegen diese Entmenschlichung", so Artières. "Ungeschminkt schildert er seine Desillusionierung und seine Wut: 'Ich weine, ich bin erst sechzehn Jahre alt! Was für Schweine, die diesen Krieg angezettelt haben ... Adieu, meine Kindheitsträume, ihr werdet nie mehr zurückkehren. Ich werde euch wie die Pest vertreiben' (9./10. November). Ab Dezember ändert sich die Funktion des Tagebuchs weiter, das Schreiben ist das, was ihn mit dem Leben verbindet; am 10. Dezember, als die Kälte, die Läuse und der Hunger seinen baldigen Tod ankündigen, notiert er: 'Die Seiten meines Tagebuchs nähern sich dem Ende. Es scheint, dass das Tagebuch selbst die Zeit bestimmt, die mir noch bleibt, um es zu führen'."

Magazinrundschau vom 18.10.2022 - En attendant Nadeau

Der Judentum ist ein wichtiges Thema in Prousts "Recherche", und dennoch hat es etwas Irrlichterndes. Proust selbst war Sohn einer Jüdin, also im traditionellen Sinne jüdisch, aber sein Vater, der Arzt Adrien Proust, war Katholik und hat ihn katholisch erzogen. Diese Zwiespältigkeit charakterisiert auch sein Schreiben. Einerseits gibt es einige Nebenfiguren, die als antisemitisch gelesen werden, andererseits war Proust ein leidenschaftlicher Dreyfusard, und die Dreyfus-Affäre spielt in der "Recherche" eine große Rolle. Das Thema "Proust und das Judentum" ist auch en vogue in der Literaturwissenschaft. In Deutschland setzt sich Andreas Isenschmid in einem neuen Buch damit auseinander. In Frankreich gibt es zwei Neuerscheinungen, die stark auf der immensen Korrespondenz Prousts (41 Bände) basieren, Antoine Compagnons "Proust du côté juif" und Pierre Birnbaums "Marcel Proust - L'adieu au monde juif". Während Compagnon sich vor allem mit der französisch-jüdischen Rezeption befasst und Benjamin Crémieux' schöne Beobachtung von den "Juden, die aus Proust einen Nicht-Juden und den Nicht-Juden, die aus Proust einen Juden machen wollen" zitiert, geht Birnbaum mehr auf Prousts eigenes Verhältnis zur Frage ein. "Birnbaum spürt die gleiche Ambivalenz in Prousts Korrespondenz mit seinen antisemitischen Freunden auf, die 'zwischen Bewunderung und Ablehnung' schwankt. 'Es ist eine Tatsache', schreibt er, 'dass Proust vor Zärtlichkeit und Rücksichtnahme gegenüber antisemitischen Pamphletisten zerfließt, die sich selbst als seine treuen Freunde bezeichnen': Charles Maurras, Chef der Action française, Maurice Barrès, 'Prinz der Nationalisten', Léon Daudet, 'einer der schärfsten Gegner von Hauptmann Dreyfus', und viele andere, die heute weniger bekannt sind. Zwar blieb Proust auf Distanz und nahm während der Dreyfus-Affäre keinen Kontakt zu ihnen auf, doch nach 1906, als Dreyfus vom Kassationsgericht rehabilitiert wurde, nahm ihr lobhudlerischer Briefwechsel wieder 'Fahrt auf'. Man muss zugeben, dass diese Briefe den heutigen Leser in Erstaunen versetzen."

Tiphaine Samoyault gibt außerdem einen Überblick über französische Neuerscheinungen zu Prousts hundertstem Todestag.

Die Ecole Normale Supérieure genießt als Ausbildungsstätte der intellektuellen Elite Frankreichs einen mythischen Ruf. Nur das beste Prozent der Abiturienten darf sich bewerben und wird in zwei Jahren gnadenloser Vorbereitungsklasse weiter gesiebt - dann darf man die Schule erst besuchen. Althusser lehrte dort, Foucault lernte dort. Aber sie ist keine Uni, und der Philosoph Bernard Pautrat beschreibt sich im Gespräch mit Marc Lebiez als Außenseiter in der Spinoza-Forschung, weil er eben nicht an der Uni lehrt. Statt dessen bereitete er seine Spinoza-Neuübersetzung, die jetzt in der ebenso mythischen "Pléiade" herauskommt, in einem 22-jährigen Seminar an der ENS vor. Auch  die "Ethik" hat er neu übersetzt: "Nur wenige haben sie tatsächlich gelesen, vor allem als Ethik, was die Leute nicht daran hindert, wie ich es oft gehört habe, zu sagen: 'Ach, ich liebe Spinoza!', obwohl man nur ein paar Seiten überflogen hat. Natürlich ist es keine bequeme Lektüre, aber man wird nichts erreichen, wenn man sich nicht die Mühe macht, die gesamte 'Ethik' zu lesen, indem man für sich selbst alle Beweisführungen noch einmal durchführt. Dass man zwanzig Jahre braucht, um zu verstehen, dass man zwanzig Jahre braucht, um sie zu verstehen? Nun, sei's drum."

Magazinrundschau vom 23.08.2022 - En attendant Nadeau

Maraini und Pasolini, Cover des erwähnten Bandes.
Hervé Joubert-Laurencin setzt die Lektüre einiger französischer und italienischer Neuerscheinungen zu Pasolini fort, der in diesem Jahr hundert Jahre alt geworden wäre. Sehr bemerkenswert scheint ihm unter anderem Anne-Violaine Houckes "Duplografie" "L'Antiquité n'a jamais existé" über Fellini und Pasolini, die nachweise, dass beide sich aus einem instinktiven Antifaschismus heraus erfanden, und zwar, indem sie, gelehrt, wie beide waren, einen neuen, antiheroischen und -akademischen Bezug zur Antike in Szene setzten. Liebevoll schreibt Joubert-Laurencin auch über den kleinen Band "Caro Pier Paolo" der Autorin Dacia Maraini, die, zusammen mit ihrem Lebensgefährten Alberto Moravia, eng mit Pasolini befreundet war. Sie beschreibt in kurzen Briefen an den längst toten Pasolini unter anderem den sehr kurzen Moment "einer Welle, die ihre beiden Körper beim Schwimmen im Meer gegeneinander schleudert, und Pier Paolos instinktives Zurückzucken vor dem weiblichen Körper, das sie analysiert und in die allgemeinste Angst einordnet, die den Dichter ergreifen konnte, 'heftig und absolut und dich wie ein Schwert durchbohrend'. Lange Zeit verbrachten sie im tiefen Afrika, in das sie zum Jahresende immer wieder reisten. Vor allem jene Reise, bei der sich Maria Callas, die neue Freundin Pier Paolos, dem abenteuerlustigen Dreigepann anschloss. Sehr präzise und nach meiner Meinung unbekannt ist die Episode über die schrecklich in den Dichter verliebte Diva, die so frustriert war, dass sie ihn nicht überzeugen konnte, sie zu heiraten und mit ihr ein neues Leben zu beginnen." Hier Teil 1 und Teil 2 von Joubert-Laurencins Artikel, der ja vielleicht auch deutsche Verleger inspirieren könnte.

Magazinrundschau vom 03.05.2022 - En attendant Nadeau

"Es scheint mir, dass ich keine Romane mehr schreiben werde", sagt Ljudmila Ulitzkaja (französisch: Oulitskaïa) mit melancholischer Beiläufigkeit in einem Gespräch, das ihrem neuen, ins Französische übersetzen Erzählband "Le corps de l'âme" gewidmet ist: "Ich denke, dass in unserer Zeit das Genre der Kurzgeschichte die Romanform verdrängt hat. Heutzutage ist alles sehr konzentriert, die Menschen haben wenig Zeit zum Lesen und jeder möchte Mitteilungen, auch literarische, in kürzerer Form erhalten." Sie erklärt auch, warum Frauen in ihren Romanen eine so große Rolle spielen, und hier erhält das von Gabrielle Napoli geführte Gespräch zwanglos Aktualität: Die Frauen, sagt Ulitzkaja, seien in Russland generell von höherer Qualität. Sie seien es, die mit der Zukunft, der Kindererziehung befasst sind, während die Männer durch den Wegfall der Sowjetunion ihr Selbstbild verloren haben. Außerdem gebe es einfach viel mehr Frauen: "Dafür gibt es viele Gründe, darunter auch rein demografische. Die Dominanz der Frauen in der Bevölkerung ist auf drei Faktoren zurückzuführen: kleine und große Kriege, die vor allem Männern das Leben kosten; Gefängnis, wo sich viele Männer im zeugungsfähigen Alter befinden; und Alkoholismus, der ebenfalls nicht gerade förderlich für die Fortpflanzung ist. So dass Frauen immer häufiger Aufgaben übernehmen, die früher von Männern wahrgenommen wurden."
Stichwörter: Ulitzkaja, Ljudmila, Russland

Magazinrundschau vom 12.04.2022 - En attendant Nadeau

Yannis Kiurtsakis ist offenbar einer der bekanntesten Essayisten Griechenlands. In Frankreich sind einige seiner Bücher übersetzt - in Deutschland scheint er komplett unbekannt zu sein. In Frankreich ist sein Essayband "Le miracle et la tragédie - 1821-2021" erschienen, der im Original zum 200. Jahrestag der griechischen Revolution veröffentlicht worden war. Kiurtsakis redet im Gespräch mit Ulysse Baratin et Feya Dervitsiotis sehr schön über das paradoxe Projekt der griechischen Nation, das eine im europäischen Kontext völlig archaische Kultur mit dem Konnex auf das alte Griechenland ins 19. Jahrhundert katapultierte. Da gab es viele Brüche, etwa zwischen der heidnischen Antike und der christlich orthodoxen Religion: "Unter diesen krassen Diskontinuitäten verbirgt sich jedoch eine Beständigkeit, die auf zwei festen Fundamenten ruht. Zum einen sind es die geografische Lage und Zerklüftung des Landes, die über einen sehr langen Zeitraum nicht nur eine wechselvolle Geschichte, sondern auch eine spezifische Lebensweise geprägt haben, im Rhythmus der Arbeit und des Tages, in den Verhaltensweisen und der Mentalität. Andererseits die griechische Sprache, die nie aufgehört hat, gesprochen zu werden, sich aber dennoch wandelte, um lebendig zu bleiben, und so die Schätze an Bedeutung und menschlicher Weisheit bewahrte, die sich über so viele Generationen angesammelt hatten. Dank dieser Lebendigkeit ist es dieser Sprache beispielsweise gelungen, in der Vorstellung den Kult und die Kultur unseres Volkes, den antiken Polytheismus und den orthodoxen Monotheismus miteinander in Einklang zu bringen - zwei Welten, die sich jahrhundertelang auf theologischer, ideologischer und politischer Ebene erbittert bekämpft haben."