Magazinrundschau - Archiv

En attendant Nadeau

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Magazinrundschau vom 04.05.2021 - En attendant Nadeau

Maoisten, das war jene Fraktion ehemaliger 68er, die den real existierenden Sozialismus kritisierten, weil er den stalinistischen Terror aufgegeben hatte. Wenn man hört, dass sich eine Intellektuelle wie Annette Wieviorka "luzide und gerührt" an ihre Zeit in den K-Gruppen erinnert ("Mes années chinoises"), sollte man misstrauisch werden. Noch vor ein paar Wochen war in La vie des idées zu lesen, welch gnadenlose Kälte in den K-Gruppen auch in Frankreich herrschte (unser Resümee). Aber am Ende scheint sich Wieviorka der Rührung nicht hinzugeben. Nur der Rezensent Jean-Yves Potel möchte, dass sie ihre Geschichte nicht so persönlich nimmt. "Immer wieder vergleicht sie, was sie damals dachte, mit der Historikerin, die aus ihr wurde, versucht zu verstehen, was sie dahin getrieben hatte und was sie nicht hatte sehen wollen. Mit ihr fragt man sich, wie ein solches Ausmaß der Verblendung möglich war, was sie so weit von sich selbst und ihrer Umgebung hatte entfremden können. 'Welche eine Kraft der Illusion, wie konnte man nur einen Augenblick daran glauben', fragt sie sich und erinnert sich der zahllosen Reden und Vorträge, denen sie mit religiösem Eifer lauschte. Allerdings hätte man sich hier eine etwas politischere Herangehensweise an ihren wahnhaften Glauben gewünscht."

Außerdem bespricht Mario Kaplan Dumitru Tsepeneags "Un Roumain à Paris", das Tagebuch eines rumänischen Exilautors aus dem Paris der Siebziger, sicher ein interessanter Einblick in die faszinierende rumänische Diaspora in Paris und in das Pariser intellektuelle Leben jener Zeit, von einem Außenseiter gespiegelt.

Magazinrundschau vom 20.04.2021 - En attendant Nadeau

Yannick Haenel hat für Charlie Hebdo über den Prozess zu den Anschlägen gegen die Zeitschrift und einen jüdischen Supermarkt geschrieben. Die lesenswerten Kolumnen, aus denen der Perlentaucher häufig zitiert hat, sind jetzt in einem Buch zusammengefasst. In En Attendant Nadeau unterhalten sich die Rabbinerin Delphine Horvilleur und der Psychoanalytiker Stéphane Habib mit Haenel - leider ist das Gespräch ziemlich wolkig geraten. In einer der nachvollziehbareren Passagen sagt Haenel: "Wahrheit gibt es nicht ohne Ethik, sie braucht Sorgfalt, und Zuhören ist eine Form der Sorgfalt. Der Prozess war für mich tatsächlich so etwas wie ein Auf-die-Probe-Stellen des Schreibens. Versteht jemand, der diese bizarre Praxis des Schreibens - diese Liturgie, ohne Gott vielleicht, aber mit ihrem eigenen Gott - etwas über den Prozess, das der Prozess selbst nicht über sich weiß? Da ich jeden Tag produzieren könnte und öffentlich ein Buch schrieb, bin ich, ohne es zuzugeben, zum Erzähler des Prozesses geworden. Das ist verrückt. Und der Vorsitzende Richter hatte gelesen, was ich geschrieben hatte, bevor er die neue Sitzung eröffnete."

Magazinrundschau vom 13.04.2021 - En attendant Nadeau

Catherine Coquios Artikel über Yassin Al Haj Salehs "Briefe an Samira" liest sich ungeheuer düster und aufregend zugleich. Al Haj Saleh ist auch in Deutschland kein Unbekannter, bei Matthes und Seitz erschien ein kleiner Essayband von ihm. Coquio beschreibt ihn als einen syrischen Oppositionellen, der in den langen Jahren in Assads Gefängnissen vom Kommunismus abfiel. Er lebt im Exil, hat einige Jahre am Wissenschaftskolleg in Berlin geforscht und ist eine der wichtigsten Stimmen der demokratischen syrischen Opposition (hier seine Website). In Frankreich sind nun seine Briefe an seine Frau veröffentlicht worden. Samira Al Khalil gehörte zu einer Gruppe von MenschenrechtsaktivistInnen, die Verbrechen aller beteiligten Kriegsparteien dokumentierte. Prominenteste Vertreterin dieser Gruppe war Razan Zaitouneh, die nach 2011 eines der bekanntesten Gesichter des gewaltfreien syrischen Widerstandes im Bürgerkrieg war. Zusammen mit zwei anderen Mitgliedern der Gruppe sind sie 2013 entführt worden - bis heute gibt es keine Spur von ihnen. "Im ersten seiner 15 Briefe, die er in den Jahren 2017 bis 19 geschrieben hat, ruft der Autor diese Fakten und seine vergeblichen Recherchen dazu in Erinnerung. Er kommt auf seine 'Naivität' und ihre 'Irrtümer' zurück, vor allem den Irrtum, die Gefahr und den Zustand der Auflösung, in dem sich die Opposition befand, ermessen zu haben, oder den Opportunismus ihrer offiziellen Repräsentanten und die Verletzlichkeit der nicht Organisierten, die sie als parteilose demokratische Aktivisten waren. Dieser Vorwurf an die eigene Adresse quält ihn, denn die mangelnde Vorsicht hatte ihn veranlasst, Duma bei Aleppo zu verlassen und nach Rakka zu reisen und Samira bei Razan Zaitouneh zu lassen, die durch ihre Arbeit und ihr freies Auftreten so exponiert war."

En attendant Nadeau präsentiert ein kleines Dossier zu syrischer Literatur, das auch deutsche Verlage anregen könnte. Rashed Issa schreibt über literarische Zeugenberichte aus Assads Gefängnissen. Mahmoud El Hajj stellt einen in Frankreich erschienen Band über syrische Kunst vor.

Magazinrundschau vom 16.03.2021 - En attendant Nadeau

Die Autorin Jacqueline Lalouette untersucht in ihrer sehr aktuellen, eingehenden Studie "Les statues de la discorde" einige Fälle postkolonialen Ikonoklasmus, besonders in Frankreich und in französischen Überseegebieten, berichtet Thierry Bonnot. Denn nicht nur in Amerika und Großbritannien wurden nach dem Polizeimord an George Floyd Statuen ehemaliger Sklavenhalter geschleift oder beschädigt. Frankreich hat hier eine lange Tradition, die mindestens bis zur Französischen Revolution zurückreicht. Dabei untersucht die Autorin auch einige Paradoxien; etwa dass die Bilderstürmer den Kunstwerken eine größere symbolische Kraft zuweisen als jene, die sie aus historischen Gründen verteidigen. Aber es gibt noch andere Widersprüche: "Die Autorin setzt sich mit dem Fall von Victor Schœlcher auseinander, dem nicht etwa vorgeworfen wird, ein Kolonialist zu sein. Ihm kreidet man im Gegenteil an, durch sein abolitionistisches Wirken die Kämpfe der Schwarzen für ihre Befreiung aus eigener Kraft unterlaufen zu haben. Er ist das Inbild des Paternalisten, das Emblem des zugleich großmütigen und herablassenden weißen Mannes, der die Sklaven von einem Joch 'befreit', das andere weiße Männer ihnen auferlegten. Verdient Schœlcher, dessen Statue in Fort-de-France zerstört wurde, diese Abrechnung?"

Magazinrundschau vom 19.01.2021 - En attendant Nadeau

Der 2013 mit 68 Jahren verstorbene Patrice Chéreau gehört zu den Künstlern, die heute sehr gut noch leben und das Publikum mit der Präzision und Intensität ihrer Inszenierungen beglücken könnten. Dominique Goy-Blanquet hat ihm nun ein Buch gewidmet, das vorwiegend seiner Theaterarbeit (mit Akzent auf Shakespeare) gewidmet zu sein scheint. Jean-Yves Potel erzählt in seiner Besprechung, mit welcher Gründlichkeit Chéreau auch die Texte seiner Inszenierungen vorbereitete: etwa die "Hamlet"-Inszenierung, für die er mit dem Dichter Yves Bonnefoy eine neue Übersetzung erarbeitete. "Über Monate haben die beiden Männer in langen Sitzungen über die Personen des Dramas und die Handlung diskutiert und zwanzig Passagen überarbeitet. Bonnefoy hat mit dem Autor des Buchs über diese Arbeit gesprochen und über 'seine große Freude, sich ganze Morgende lang über diesen unerschöpflichen Text zu beugen und einen Regisseur zu entdecken, der Shakespeare nicht als Zeitgenossen betrachtete, sondern 'heute vergessene Begriffe entdecken wollte, durch die er einen Blick auf Universalität erhaschen konnte', auch in der Hoffnung sich so von Stereotypen zu befreien."

Magazinrundschau vom 12.01.2021 - En attendant Nadeau

Auch in Deutschland hat Camille Kouchners Buch "La familia grande" schon von sich reden gemacht - allzu giftig-süffig ist das Sujet. Kouchner, Tochter des in Frankreich sehr berühmten Bernard Kouchner, und Evelyne Pisiers, die einst eine Geliebte Fidel Castros war, Nichte der einst berühmten Schauspielerin Marie-France Pisier, die unter rätselhaften Umständen ums Leben kam, und Stieftocher Olivier Duhamels, aus ebenso berühmter Familie und höchster Funktionär des Staats, erzählt, wie Duhamel ihren Bruder missbrauchte. Interessant, wie das sehr literarische Magazin En attendant Nadeau auf dies Buch reagiert. Claude Grimal bespricht dieses Enthüllungsbuch nämlich als literarisches Werk, auch weil der Verlag es in einer literarischen Reihe präsentiert. In Frankreich ist das bereits ein Genre. "So muss also einmal mehr in der jüngsten französischen Verlagsgeschichte eine 'literarische Enthüllung den Rechtsweg ersetzen und die Öffentlichkeit an die Stelle der Gerichte treten. Wozu braucht es ein Buch mit Literaturvorbehalt, damit die Justiz Schritte einleitet, obwohl doch, wie das Buch selbst enthüllt, 'alle Welt Bescheid wusste'? Vielleicht weil man der Literatur im Namen ihrer Macht alles verzeiht."

Lesenswert auch Jean-Louis Tissiers Besprechung von Pierre Schoentjes' Essay über "Littérature et écologie", der sich in seiner Untersuchung literarischer Werke mit ökologischen Themen allerdings sehr stark auf französische Autoren bezieht.

Magazinrundschau vom 05.01.2021 - En attendant Nadeau

Hier wäre vielleicht jemand, der auch von deutschen Verlagen entdeckt werden sollte. Arpád Soltészs Roman "Der Ball der Schweine" wurde ins Französische bereits übersetzt. Es ist ein Roman über den Mord an dem slowakischen Journalisten Jan Kuciak. Jean-Yves Potel bespricht ihn und stellt den Autor vor, der selbst ein investigativer Journalist ist: "Er ist für seine seriöse Arbeit über das organisierte Verbrechen bekannt. Mit dem Roman verfolgt er einen anderen Weg. Seine Ironie situiert ihn von vornherein in die mediale Atmosphäre seines Landes, er stellt sich als 'Strichjunge der Journaille' dar, der 'plaudert wie ein Ungläubiger'. Sein lebhafter Stil ohne unnütze Abschweifungen und voller sprechender Details setzt nicht eine Ermittlung in Szene, sondern eher Genrebilder. Mit erschreckendem Realismus rekonstruiert Soltész Machtverhältnisse, Sprechweisen und Motive der traurigen Individuen, die diese trübe Welt bewohnen."

Es gibt ein sehr lesenswertes Interview mit Soltész in Jadu, einem Online-Magazin des Goethe-Instituts. Soltesz erzählt da im Gespräch mit Nataša Holinová die tragische Geschichte seiner ungarisch-slowakisch-jüdischen Familie und, wie er kurz vorm Mauerfall Asyl in Deutschland bekam und einen recht positiven Eindruck hatte: "Nach ungefähr einem halben Jahr hat die Polizei meine Hauswirtin furchtbar erschreckt. Eines Abends standen sie vor der Tür und fragten nach mir. Ich sah schon vor meinem inneren Auge, wie sie mich abschieben, aber sie kamen, weil irgendein ungarischer Tourist einen Autounfall hatte und sie ihn befragen wollten. Sie hatten gehört, dass ich Ungarisch spreche und auch ganz gut Deutsch und baten mich höflich, ob ich nicht dolmetschen kommen könnte. Wunderlich war, dass sie mir nach dem Dolmetschen ein relativ hohes Honorar zahlten. Ich sagte, dass ich Asylbewerber sei und nicht arbeiten dürfe. Die Polizisten lachten und sagten: 'Für uns schon'."

Magazinrundschau vom 22.12.2020 - En attendant Nadeau

Die Ecole des Hautes Etudes en Sciences Sociales (EHESS) ist ein Leuchtturm des intellektuellen Lebens in Paris. Sie bringt einen bemerkenswerten Band über die Pariser Attentate im November 2015 (aber auch andere Attentate wie die von Madrid) heraus, der großenteils in der Dokumentation all der spontanenMahnmale″ besteht, die nach den Attentaten entstanden. Riesenhaufen von Blumen, Wände voller Graffiti. Der Band heißt ″Les mémoriaux du 13 novembre″ (Die Mahnmale des 13. November). ″Was sagen all diese Inschriften″, fragt Philippe Artières mit dem Soziologen Gérôme Truc, der die Graffiti studierte: ″Sie richten sich an die Opfer, schreien ihre Wut heraus, sprechen Friedensbotschaften aus, beharren auf 'Liberté, égalité, fraternité', sind religiöse Gebete...Sie drücken vor allem ein 'Wir' aus, unterstreicht der Soziologe. Das selbe emotionale 'Wir', das auch die ForscherInnen bei ihren Recherchen nie aus dem Sinn verloren. Denn die sie täuschen keine Distanz vor und sehen sich auch als Zeugen des Ereignisses.″
Stichwörter: Pariser Attentate

Magazinrundschau vom 17.11.2020 - En attendant Nadeau

Larissa Reissner, Fotograf unbekannt.
Ein Buch über den Arbeiteraufstand in Hamburg 1923, fehlgesteuert von der KPD. In Frankreich wird so etwas noch übersetzt, in Deutschland erschien das Buch zuletzt vor ein paar Jahren an entlegener Stelle, aber man kann "Hamburg auf den Barrikaden - Erlebtes und Erhörtes aus dem Hamburger Aufstand 1923", auch in der Gutenberg-Edition lesen. Larissa Reissner (oder Reisner) gehörte zum Hochadel des frühen Kommunismus, erzählt Jean-Jacques Marie, Trotzki widmete ihr entzückte Seiten in seinen Memoiren, liiert war sie bis zu ihrem frühen Tod im Jahr 1926 mit dem legendären Kommunisten und späteren Stalin-Opfer Karl Radek. 1923 schrieb sie ihre Reportage über den Hamburger Aufstand - die Hamburger Arbeiter wollten Revolution machen und wussten nicht, dass die Partei die Aktion schon abgeblasen hatte. Es gab 21 Tote. "Reissner verbindet eine dramatische, manchmal poetische Erzählung der Episoden dieses gescheiterten Aufstands mit einer minuziösen Beschreibung des Lebens der Arbeiter und vor allem der Arbeiterinnen, die allzu häufig der Gewalt ihrer Männer ausgesetzt sind, besonders wenn diese keine Arbeit haben. Es gelingt ihr, dieser abgebrochenen Aktion eine epische Dimension zu geben und den Hamburger Hafen als eine monströse Maschinerie zu zeichnen, wo 'nicht ein Qudratzentimeter nackten Bodens übrigbleibt' und wo auf dreißig Kilometern Ausdehnung nur zwei todkranke Bäumchen wachsen."

Magazinrundschau vom 10.11.2020 - En attendant Nadeau

Der Algerienkrieg ist ein bleibendes Trauma in der französischen Geschichte, auf allen Seiten des Konflikts. Raphaëlle Branche hatte bereits vor fast zwanzig Jahren das Buch "La torture et l'armée pendant la guerre d'Algérie, 1954-1962" vorgelegt, das großes Aufsehen erregte, weil viele Familien sich fragten, was die Väter im Algerienkrieg, über den keiner je redete, eigentlich getan haben. Diese Frage steht nun direkt im Zentrum des neuen Buchs von Branche: "Papa, qu'as-tu fait en Algérie ? Enquête sur un silence familial", das Sonia Dayan-Herzbrun hier bespricht. Das Ausmaß der Traumatisierung der zurückgekehrten Soldaten, die schon deshalb schwiegen, weil sie manchmal in die schändliche Praxis der Folter verwickelt waren, ist noch größer als man glaubte. Dayan-Herzbrun zitiert eine Forscherin, die von 350.000 Suiziden spricht. Und die Familiengeschichten sehen so aus: "Die kleine Isabelle Roche ist ein Jahr nach der Rückkehr ihres Vaters geboren, und ihr Bruder ein Jahr später. Ihr bleiben die Schläge, die ihr Bruder jeden Tag bekommt, erspart, aber sie leidet unter einem ausgedehnten Ekzem. 'Eines Tages beobachtet sie, wie ihr Vater im Bad den Kopf ihres Bruders unter Wasser drückt. Diese Badewannenszene brennt sich in ihr Gehirn.' Über die Erfahrungen, die ihr Vater in Algerien gemacht hat, weiß sie kaum etwas. Das wenige hat sie von ihrer Mutter gehört, Bruchstücke von Erzählungen über plötzliche und absurde Tode."