Die neue Ausgabe von
Kafka beschäftigt sich mit den
Vertreibungen des 20. Jahrhunderts und das wie immer auch auf
Polnisch,
Ungarisch,
Tschechisch und Slowakisch..
Der tschechische Psychiater und Publizist
Petr Prihohoda fürchtet, dass die Vertreibung der
Sudetendeutschen nur eine von mehreren unbewältigten Vergangenheiten ist: "Die meisten Tschechen haben außer Befürchtungen
keine spontane Zukunftsvision. Eine Minderheit setzt auf die Europäische Union. Und die Mehrheit? Die ist ambivalent, viele empfinden Unlust... In diese Gemengelage dringt von Zeit zu Zeit die Stimme der Sudetendeutschen. Es sind nicht viele, doch rühren sie an den neuralgischen Punkt unserer Existenz. Ihre Vertreibung hat nicht nur sie, sondern auch
uns verletzt. Selbst wenn man einen Moment lang die moralische Seite ausklammert, sind die Beschädigungen enorm. Die sudetendeutschen Gebiete erlebten eine Zerstörung, die wir nicht rückgängig gemacht, sondern noch vergrößert haben. Die
Vertreiber und ihre Befürworter waren später entscheidend an der Gestaltung der Verhältnisse im ganzen Land beteiligt. Vertreibung wurde eine
zulässige Methode, denn auf die Vertreibung der Deutschen folgte die weiterer Gruppen; nicht aus dem Land, sondern an den
Rand der Gesellschaft und in die
Gefängnisse."
Die jugoslawisch-ungarische Schriftstellerin
Victoria Radics erzählt von den
Isbeglica, den Hunderttausenden von Heimatlosen auf dem Balkan: "Isbeglica an der
grünen Grenze, Isbeglica in
sündhaft teuren Autos. In
Massenquartieren, in
Luxushotels und in Gästezimmern. Im Zug, die Habe gebündelt
auf dem Rücken, oder mit riesigen Siegelringen an den Fingern. In Wien, in Berlin, in Budapest. Ungarn, Albaner, Serben und Moslems."
In der Printausgabe ist auch ein Essay von
Karl Schlögel über das
Jahrhundert der Vertreibungen zu lesen: "Wo solch ungeheure Menschenmassen im Bruchteil einer historischen Sekunde versetzt werden, müssen ungeheure Kräfte wirksam gewesen sein. Es bedarf einer ungeheuren Gewalt, um die
Trägheit des Lebens zu überwinden, die Routinen zu erschüttern und Menschen in Bewegung zu versetzen. Daher ist seit jeher der Schock, die
überfallartige Situation, die das Überraschungsmoment nutzt, ganz entscheidend. Mit langen Erklärungen wird nur alles komplizierter, ja verdorben. Man darf den zum Abtransport Bestimmten nicht mehr als
maximal eine halbe Stunde geben, sonst kommen sie ins Nachdenken darüber, was man dagegen unternehmen kann ..."
Weiteres: Der Publizist Adam Krzeminski
glaubt, dass der deutsch-polnische Streit um die Vertriebenen weniger diesen selbst und ihrem Schicksal gilt als vielmehr der politischen Rolle des
Bundes der Vertriebenen. Und Doris Liebermann
erinnert an verschiedene Schicksale
deutscher Tschechen.