Efeu - Die Kulturrundschau

Wie eine Selbstparodie

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11.07.2023. Die FAZ streift in Wolfgang Laibs Installationen durch duftende Reisfelder und Blütenstaub. Die NZZ sieht Beiruts Kunstszene nach der Explosion vor drei Jahren wie einen Phönix aus der Asche steigen. Tom Cruise springt mit dem Motorrad von den Klippen - die taz gähnt. Dafür staunt sie beim "Heroins of Sound"-Festival, was man mit Klavieren und E-Gitarren so alles machen kann.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 11.07.2023 finden Sie hier

Kunst

Die Installation "Reisfeld" von Wolfgang Laib. Foto: Kunstmuseum Stuttgart.

Alle Sinne von FAZ-Kritikerin Katinka Fischer erwachen, wenn sie durch Wolfgang Laibs Ausstellung "The Beginning of Something Else" im Kunstmuseum Stuttgart streift. Für seine Werke verwendet der Künstler natürliche Materialien wie Reis, Wachs und Blütenstaub, die "den Kreislauf des Lebens und das menschliche Verhältnis zur Natur" widerspiegeln: "Neben dem starken Aroma wird die Installation beseelt durch sanft gewellte Linien, unterschiedliche Abstände und Längen sowie verstreute Reiskörner, die die Abwesenheit eines Lineals und ähnlicher Hilfsmittel zur Erzeugung von Gleichförmigkeit verraten. Bei den Treppenelementen entdeckt man die Künstlerhand in den malerischen Farbwolken, die die mit burmesischem Lack behandelte und eben nicht monochrome Oberfläche bedecken. 'Zikkurat' lautet der Titel des zentralen Objekts. Der Begriff für eine mesopotamische Tempelanlage gibt zu erkennen, dass die von rechten Winkeln bestimmte Form keineswegs der Versachlichung dient. Stattdessen symbolisiert sie eine Himmelsleiter, die die Verbindung zwischen Himmel und Erde herstellt."

Die Explosion der Tanks im Hafen von Beirut 2020 war eine Katastrophe, aber die Stadt erholt sich und die Kunstszene blüht wieder auf, schreibt Werner Bloch in der NZZ: Gerade wurde das Sursock-Museum wiedereröffnet, das einzige Kunstmuseum des Landes, 2026 soll das Beirut Museum of Modern Arts eröffnet werden. Das ist auch dringend notwendig in diesem Land, denn es gibt "keine geschriebene Kunstgeschichte von Libanon - es gibt auch kein Geschichtsbuch für die Schulen. Auf eine gemeinsame Geschichte können sich die verfeindeten Gruppen wie Drusen und Sunniten, christliche Maroniten oder der von Iran finanzierte Hizbullah, der große Teile des Landes beherrscht, nicht verständigen. 'Eine gemeinsame Geschichtsschreibung ist verboten, weil jeder an seiner eigenen Wahrheit festhält', sagt Laure d'Hauteville. Die offizielle Geschichte höre mit dem französischen Mandat am Ende des Zweiten Weltkriegs auf. Gerade deshalb ist die Gegenwartskunst hier überlebensnotwendig."

In der FAZ schreibt Hubertus Butin zum Restitutionsskandal um die Bührle-Stiftung. Seit mehr als zehn Jahren laufen die Verhandlungen mit den Nachkommen des jüdischen Kunstsammlers Max Emden, dessen Sohn im Jahr 1940 gezwungen war, das Monet-Gemälde "Mohnfeld bei Véteuil" zu verkaufen, erklärt Butin. Doch die Stiftung weigert sich strikt, eine Aufarbeitung der problematischen Provenienzgeschichte wichtiger Werke der Sammlung nachzukommen: "Die kompromisslose und jede moralische Verantwortung ablehnende Haltung der Bührle-Stiftung hat nicht nur den eigenen Ruf nahezu ruiniert. Dieses Verhalten schadet auch massiv dem Ansehen des Kunsthauses Zürich. Das Museum wird nicht zur Ruhe kommen, solange es für den Monet und weitere belastete Werke keine faire und gerechte Lösung gibt."

Besprochen wird die Ausstellung "Avant l'orage" der Pinot-Collection in der Bourse de Commerce in Paris (NZZ).
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Stichwörter: Kunsthaus Zürich

Film

Husch, husch, weg war er: PR-trächtige fünf Sekunden in "Mission Impossible 7"

Der neue "Mission Impossible"-Blockbuster mit Tom Cruise kommt in die Kinos und der Star rennt mal wieder um sein Leben, um das Kino zu retten, schreibt Michael Meyns in der taz und bleibt aber skeptisch: "Kann man dieses Ego-Spektakel mit gutem Gewissen noch als Film bezeichnen?" Im Zentrum der Filmreihe stehen immer die Stunts und vor allem das PR-Versprechen, dass Cruise seine Stunts komplett selber durchführt. "Cruise springt mit einem Motorrad von der Klippe! Seit einem halben Jahr kann man sich das Video von diesem Stunt im Internet anschauen, kann hören, wie Regisseur Christopher McQuarrie bedeutungsschwer behauptet, dies sei der größte Stunt der Filmgeschichte. ... Im Film selbst verpufft diese Szene, dauert kaum fünf Sekunden." So "fühlt sich das siebte 'Mission: Impossible'-Abenteuer oft wie eine Selbstparodie an, die bekannte Muster, Versatzstücke und Handlungselemente variiert".

Jan Küveler von der Welt staunt derweil über die prognostischen Fähigkeiten der Drehbuchautoren Erik Jendresen und Christopher McQuarrie: "Wie sehr das Skript die Kriege und Debatten der Gegenwart voraussieht, ist von einem Wahnwitz, der mit den Stunts des Hauptdarstellers locker mithalten kann. Eine Hauptrolle spielen erstens die Russen und zweitens eine künstliche Intelligenz. Verrückt, bedenkt man, dass selbst die Dreharbeiten schon vor drei Jahren stattgefunden haben." In der SZ streckt David Steinitz angesichts einer Handlung, die "komplett gaga" ist, die Waffen: "Man muss sich diesem Hollywoodunsinn einfach lustvoll ergeben, dann hat man sehr unterhaltsame 163 Minuten vor sich."

Außerdem: Michael Ranze resümiert im Filmdienst das Filmfestival von Karlovy Vary. Hollywood wird wohl demnächst Sommerferien wider Willen machen, meldet Claudius Seidl in der FAZ: Während der Drehbuchstreik derzeit noch anhält, drohen nun auch die Schauspieler mit Streik.

Besprochen werden Lola Quivorons Banlieue-Film "Rodeo" (Standard, Welt), die in der ZDF-Mediathek nur nachts gezeigte Serie "It's a Sin" über die schwule Szene der Achtziger in London ("nicht hoch genug zu preisen", jubelt Jan Feddersen in der taz)  und die ARD-Doku "Generation Crash - Wir Ost-Millenials" über die von Gewalt geprägten Neunziger in Ostdeutschland (FAZ).
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Design

"Die Airbagisierung der Gesellschaft hat begonnen", glaubt Katharina Wetzel im Tages-Anzeiger: Überall in der Mode und im Möbeldesign tauchen derzeit voluminöse, an Airbags erinnerne Gestaltungselemente auf. "Was sagt das über uns und die Zeiten, in denen wir leben, mit Krisen und Krieg in Europa? ... Angst vor einer atomaren Bedrohung, Angst vor Migration, Angst vor der Klimakatastrophe. Die Angst hat sich zum Verkaufsschlager entwickelt und kommt doch verniedlicht auch als aufblasbares Gadget daher. Der Airbag ist dabei zum Symbol eines Sicherheitsbedürfnisses geworden, das Künstler und Designer immer häufiger aufgreifen - ohne Funktion, aber mit der Botschaft der Beruhigung: In diesem Sofa bist du maximal geborgen, in dieser Jacke kann dir die Außenwelt nichts anhaben, in dieser Kugel kannst du dich ohne eine Schramme den Berg runterstürzen. Spaß ja, aber Risiko? Nein."

Im Tagesspiegel porträtiert Tobias Langley-Hunt die ukrainische Modedesignerin Lilia Litkovska, die ihre aktuelle Kollektion auf der Berlin Fashion Week zeigt: "Wenn sie von Kiew erzählt, von kulturellen Entwicklungen, die in ihrer Heimatstadt in den Jahren vor dem Krieg angestoßen wurden, ahnt man, wie schwer die Erinnerungen lasten und wie viel Hoffnung sie gleichzeitig geben. ... 'Neue künstlerische Strömungen sind entstanden und gewachsen. Vor dem Krieg kamen viele internationale Besucher in die Stadt, die Teil der Entwicklung sein wollten.' ... Der kreative Geist der Entwicklung lässt sich aber zum Glück nicht so einfach zerstören. 'Wir, die Kreativen, sind eine Art ukrainische Armee. Aber wir zerstören nicht, sondern erhalten und bauen auf.'"

Männer, habt Gnade mit Euren Mitmenschen und schüttet Eure Ambra-Parfüms weg, ruft ein schwer gebeutelt um Atem ringender Uwe Ebbinghaus im FAZ-Kommentar seinen Geschlechtsgenossen zu.
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Literatur

Dem deutschen Literaturbetrieb fehlt zuweilen das Rüstzeug, um migrantisch geprägte literarische Stimmen wirklich verorten zu können, stellen die Literaturwissenschaftlerinnen Ela Gezen und Maha El Hiss in der taz eine Woche nach dem Bachmann-Wettbewerb und der Jurydiskussion über Deniz Utlus dort vorgetragenen Text fest: Mitunter mangelt es schon an den Referenzen, auch wenn es Versuche gab, etwa Yaşar Kemal, Nâzım Hikmet und weitere einzuführen. "Die fehlende Bekanntheit dieses Autor*innen-Kollektivs, das sich über die Arbeit am Werk Kemals formte, spricht Bände über die problematische und homogene Kanonbildung in Deutschland, die das literarische Schaffen nicht-weißer Autor*innen ausgrenzt. ... In der Diskussion über migrantisierte Literatur werden allzu oft homogene Lesegemeinschaften imaginiert und einander gegenübergestellt: Die einen würden ihn, Kemal, nicht kennen. Für die anderen würde er wahrscheinlich in jedem Bücherschrank stehen, so Insa Wilke. Ist die Schlussfolgerung, die sich hier ziehen lässt, dass die Herkunft von Autor*innen Leserschaften festlegen, etwa analog zur andauernden Reduktion von migrantisierten Autor*innen auf die literarische Verarbeitung von Migration?"

Weitere Artikel: Sieglinde Geisel fragt sich in der Sommer-Reihe von Tell, wie naiv Christa Wolf gewesen ist. Arno Widmann spricht für die FR mit dem Frankfurter Antiquar Wolfgang Rüger über das beschwerliche Geschäft, online mit antiquarischen Büchern zu handeln. Außerdem gibt die NZZ zwölf Lesetipps für den Strand und die Hängematte.

Besprochen werden unter anderem Anne Berests "Die Postkarte" (Standard), Eva von Redeckers "Bleibefreiheit" (FR), Sarah Elena Müllers "Bild ohne Mädchen" (NZZ),  Matias Énards "Der perfekte Schuss" (SZ) und Heinrich Deterings Gedichtband "An der Nachtwand" (FAZ).
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Architektur

Nikolaus Bernau berichtet in der FAZ vom Weltarchitekturkongress: "Sidney, Aarhus, Kopenhagen und Malmö priesen die Gestaltungskraft ihrer öffentlichen Verwaltungen an, Kap Verde seine kleinteilige Architektur, China seine vielen Neubauprojekte (ohne jeden Verweis auf Nachhaltigkeit), Tansania seine Versuche, eine ökologische Tourismusarchitektur zu entwickeln: Die Tagung war auch ein Treffen derjenigen, die Wissen austauschen wollen. Der Vorsitzende des Stadtparlaments im ukrainischen Mykolajiw, Dimytri Falko, zeigte, dass seine vom russischen Überfall schwer gezeichnete Stadt grüner, nachhaltiger, dichter wieder aufgebaut werden soll, und zwar unter Einbeziehung von Ideen aus der Bürgerschaft, also ganz nach den Copenhagen Lessons. Ohne Demokratie gebe es nämlich keinen Sieg und keine Zukunft im Klimawandel, so Falko."
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Stichwörter: Klimawandel

Bühne

Viel "Versöhnungstheater" und kaum kritische Fragen erlebte Janis El-Bira (Berliner Zeitung) beim Treffen von HKW-Kurator Max Czollek mit der wegen ihres autoritären Führungsstils kritisierten Gorki-Intendantin Shermin Langhoff im Haus der Kulturen der Welt. Obwohl Langhoff eine ziemlich provokante These in die Welt setzte: "Auch am Maxim-Gorki-Theater gibt es wahrscheinlich AfD-Wähler. Das ist die eine kleine Enthüllung, mit der Gorki-Intendantin Shermin Langhoff an diesem heißen Nachmittag im Haus der Kulturen der Welt herausrückt. ... Gut, rund 20 Prozent AfD-Stimmen bei der Sonntagsfrage müssen sich allein schon rein statistisch auch in der etwa 200-köpfigen Theaterbelegschaft niederschlagen, schiebt die Intendantin direkt hinterher. Aber ihr Hinweis geht über bloße Gedankenspiele hinaus. Denn das Ringen um Räume und Ressourcen, das betont sie im Laufe der knapp anderthalb Stunden mehrfach, geschehe nicht nur nach außen gegenüber Politik, Gesellschaft und Feuilleton, sondern eben auch im Inneren der eigenen Institution, in den eigenen Reihen. Was bedeutet das für diejenigen, die nicht mitziehen? Sind das also wirklich alles AfD-Nahe?"

Weiteres: nmz-Kritiker Joachim Lange teilt seine Eindrücke vom Aix-en-Provence Theaterfestival. Besprochen werden Tiago Rodrigues' "Catarina und Von der Schönheit, Faschisten zu töten" beim Festival "Theater der Welt" in Frankfurt (FR), zwei Aufführungen in Aix: Dmitri Tcherniakovs Inszenierung von Mozarts Oper "Così fan tutte" und Simon McBurneys Inszenierung von Alban Bergs Oper "Wozzek" im Rahmen des Festival d'Aix-en-Provence, Cornelia Maria Rainers Inszenierung von Werner Schwabs Stück "Die Präsidentinnen" bei den Festspielen Reichenau (Standard), Michael Garschalls Inszenierung von Guiseppe Verdis "Don Carlo" beim Opern-Sommerfestival Klosterneuburg (Standard), Wagners "Siegfried" in Erl (nmz), Tilmann Köhlers Inszenierung von Frank Martins Oper "Le vin herbé" an der Oper Frankfurt (FR, FAZ) und "Mythos P.A.N." im Extended Reality Theater (XRT) am Staatsschaupiel Nürnberg (SZ).
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Musik

Tazler Robert Mießner nahm beim Berliner "Heroines of Sound"-Festival, in dem es um den Anteil von Frauen an der Geschichte experimenteller Musik geht, mitunter ein Bad im Tieffrequenzbereich (in der Installation von Stefanie Egedy), staunte bei einer Installation von Catherine Lorent, was man mit E-Gitarren alles machen kann, und bei einer Komposition von Marina Khorkova, was man aus einem Klavier machen kann: Die Künstlerin hat mit Baumarkt-Utensilien "ein Eigenbau-Klavier entwickelt, das wie eine Kreuzung aus offenem Konzertflügel und angeschlossener Harfe wirkt. Die Saiten sind aus Angelschnur und alten VHS-Bändern, die einen bespielt Khorkova perkussiv, die anderen schon mal mit angefeuchteten Fingern. 'Klangliche Täuschungen in drei Interaktionen' hat sie ihre Komposition für multiphonisches Klavier und Elektronik genannt, und das Stück führt gar nicht in die Irre, sondern verdeutlicht, um was für ein hybrides Instrument es sich beim Klavier handelt: Es ist ein Tasteninstrument, bei Khorkovas Spielweise eher ein Tastinstrument, dann ein Schlag- und Saiteninstrument." Auf der Website der Komponistin findet man zwar nicht diese Arbeit, aber ein Video, das einen Eindruck ihres Instruments vermittelt:



Weitere Artikel: Susanna Petrin porträtiert in der NZZ die New Yorker Popmusikerin Lea Kalisch, die mit Aspekten jüdischer Identität spielt und damit insbesondere die Orthodoxen verärgert. Im Tagesspiegel empfiehlt Georg Rudiger das Gstaad Menuhin Festival im Berner Oberland. Ulrich Gutmair schickt in der taz Notizen vom Sunrise Festival in Burtenbach. Günter Platzdasch resümiert in der FAZ das Rudolstadt-Festival und dessen Kuba-Schwerpunkt. Im Standard setzt Karl Fluch den aktuellen Sommerloch-Trend der Feuilletons fort und schreibt über Objekte, die bei Konzerten aus dem Publikum in Richtung der Stars geschmissen werden. Besprochen wird Anohnis neues Album "My Back Was a Bridge For You To Cross" (Tsp, Pitchfork, Welt, mehr dazu bereits hier). Auf Youtube hat sie aktuell eine Live-Performance online gestellt:

Archiv: Musik