Post aus Neapel

Franchi-Llama Kaliber 38

Von Gabriella Vitiello
25.03.2002. "Einen treffen um hundert zu erziehen." Getroffen hat es letzten Dienstag den italienischen Politiker Marco Biagi. Aber wer sollte erzogen werden? Berlusconi? Oder vielleicht doch die Gewerkschaften?
Mit den Worten "Einen treffen, um hundert zu erziehen", fasst Nanni Moretti in einem Film von Mimmo Calopresti die Logik des Terrorismus zusammen. Moretti spielt in "La seconda volta" (1995) einen ehemaligen Gewerkschaftler, der ein terroristisches Attentat überlebt hat und Jahre später der Täterin wiederbegegnet. In der Schluss-Szene rudert Moretti in einem fest installiertem Boot auf der Stelle und wiederholt immer wieder den gleichen Satz: "colpire uno per educarne cento". Passender als diese Filmeinsstellung kann kaum ein Bild die derzeitigen Vorkommnisse in Italien synthetisieren.

Die "Hundert" haben sich jedoch nach der Ermordung des Wirtschaftsjuristen und Regierungsberater Marco Biagi (mehr hier) in Bologna nicht einschüchtern lassen, ganz im Gegenteil: am vergangenen Samstag demonstrierten ca. zwei Millionen Menschen in Rom gegen die Lockerung des Kündigungsschutzes durch die Regierung - und gegen den Terrorismus. Spätestens seit Biagis Tod sind die beiden Themen miteinander verstrickt, da der Anschlag den Professor genau in dem Augenblick traf, als die Gewerkschaften aus der seit Wochen dauernden und immer schärfer werdenden Auseinandersetzungen um das sogenannte Statut der Arbeiter (die Zeitung il manifesto brachte es in seiner Samstagsausgabe als Beilage) und insbesondere den Artikel 18 nur noch einen Ausweg sahen: eine Demonstration zur Verteidigung ihrer Rechte, zu der die Gewerkschaft Cgil aufgerufen hatte (hier die Rede des Gewerkschaftschefs Cofferati in Rom) und einen für Mitte April geplanten Generalstreik.

Denn der Regierung Berlusconi wäre ein Kündigungsschutz am liebsten, der keiner mehr ist. Nur so lassen sich neue Arbeitsplätze schaffen, lautet ihre Argumentation, die angeblich auf das Weißbuch der Arbeit zurückgeht, einer Studie zum Arbeitsmarkt, die Marco Biagi mit anderen Wirtschaftsexperten im Auftrag des Arbeitsministeriums verfasst hatte (das Wochenmagazin Diario hat sie ins Netz gestellt). Im Weißbuch sei allerdings kein konkreter Hinweis zur Änderung des Artikels 18 zu finden, kommentiert der Gewerkschaftssekretär der Cisl, Raffaele Bonnani, in der tageszeitung il manifesto die Inkohärenz der Regierung.

Ungereimtheiten und Widersprüchlichkeiten zum Tode Biagis wie zum Artikel 18 gibt es derzeit so viele, dass sogar Intellektuelle, Philosophen oder Schriftsteller fast verzweifeln. Enrico Deaglio, der Direktor von Diario, führt einige dieser Unstimmigkeiten im Sonderheft zur Maxi-Kundgebung in Rom an: Warum passierte das Attentat auf Biagi ausgerechnet jetzt? Warum stand der Professor nicht unter Polizeischutz, obwohl er eine öffentliche Person und ein "ideales Ziel" war? Und warum werden die "neuen Roten Brigaden", die vor drei Jahren Massimo D?Antona, Berater des damaligen Arbeitsministers Antonio Bassolino, umgebracht haben, nicht endlich verhaftet, wenn es nur dreißig sind, wie es immer heißt? Wie ist es möglich, solch eine Tat zu begehen, ohne dafür verhaftet zu werden? Und wieso werden diese Attentate geradezu angekündigt und vom Geheimdienst vorab beschrieben? Die gleiche Frage stellt sich auch der Schriftsteller Antonio Tabucchi in der Unita und bezieht sich auf einen Artikel in Panorama, das zum Medienpaket Berlusconis gehört: "Warum wurde der Mord in seinem Wochenblatt Panorama im voraus angekündigt und die Unterlagen des Geheimdienstes, die im Parlament umhergingen, wie von einer Sibylle gedeutet?"

Bei so vielen Fragen und Zeichen, muss natürlich Umberto Eco her. Der Semiotiker versucht zur Logik des neuen Terrorismus vorzudringen, obwohl er sich wie viele andere Intellektuelle zurückversetzt sieht in die 1970er Jahre. In seiner dialektischen Lektion auf den Seiten der La Repubblica definiert er zunächst eins der üblichen Ziele einer terroristischen Gruppe, die paradoxerweise immer versuche, den Status quo zu wahren: "Sie will vor allem verhindern, dass Opposition und Regierung zu irgendwelchen Einigungen kommen wie zu den Zeiten Moros". Zwar räumt Eco ein, dass der Mord an Biagi zunächst so aussehe, als wollten die Terroristen einen Streit oder offenen Dissens zwischen Regierung und Opposition - also durch Einschüchterung die Groß-Demo in Rom - verhindern, aber dahinter stecke das genaue Gegenteil. Auch diesmal hätten die Terroristen versucht, eine mögliche - wenn auch umkämpftere und konfliktreichere Einigung - zu verhindern. Denn in den analytischen Augen Ecos kann die erfolgreiche Kundgebung der oppositionellen Gewerkschafter die angestrebte politische Linie der Regierung, den Artikel 18 abzuschaffen, ändern und damit den "wirklichen Feind des Terrorismus" stärken: "die demokratische und reformistische Opposition".

Die Regierungsparteien zumindest waren sich nicht zu schade, der Opposition mal eben die Schuld an Biagis Tod in die Schuhe zu schieben. Sie machten das Protestklima der Demo-Reigen (mehr hier und hier) und der selbstorganisierten Widerstandskungebungen für das Attentat verantwortlich. Worte wie "Spirale der politischen Gewalt" und "Verbreitung des Hasses" sind gefallen. Eco erkennt in dieser Taktik ein gefährliches politisches Prinzip, das er so erklärt: "Da es nun mal Terroristen gibt, unterstützt jeder, der die Regierung angreift, deren Aktivitäten. Aus diesem Prinzip folgt: Es ist potentiell kriminell, die Regierung anzugreifen. Aus der Folgerung folgt die Verweigerung jeglicher demokratischer Prinzipien, eine Erpressung, die sich gegen die freie Kritik in der Presse wendet, gegen jede Aktivität der Opposition, gegen jede Dissens-Kundgebung." Und das ist laut Eco noch schlimmer als die Abschaffung der Pressefreiheit. Es ist das Prinzip der "moralischen Erpressung" und der Gleichsetzung von einer vermeintlichen "verbalen Gewalt" mit einer "bewaffneten Gewalt".

Weit weniger vornehm in Ton und Wortwahl äußern sich einige Kollegen Ecos zu den Schuldzuweisungen der Regierung Berlusconi gegenüber der Opposition. Die Unita hat sie auf ihren Seiten zusammengestellt (und mittlerweile leider gelöscht): Gianni Vattimo fühlt sich angesichts der Regierungsmitglieder, die fordern, den "Ton zu dämpfen" direkt "zum Kotzen" und polemisiert: "Soll ich wirklich glauben und andere glauben lassen, dass die Abschaffung des Artikel 18 im Statut der Arbeiter neue Arbeitsplätze schafft, aber nicht endgültig die gewerkschaftliche Freiheit kappt, weil sie jedem - kleinen oder großen - Chef die Freiheit einer umgehenden Entlassung zugesteht"?

"Wir dürfen unseren Dissens nicht verschweigen", verteidigt der Architektur-Professor Francesco Pardi, einer der unfreiwilligen Protagonisten der neuen Protestbewegung, den sozialen Widerstand. Pardi wehrt sich, ebenfalls in der Unita, gegen mystifizierende Schuldzuweisungen in der rechten Presse: "Die Kundgebungen, die Palavobis-Versammlung und die Reigen werden als Sporthallen der Zwietracht identifiziert und damit verwandeln sich Worte in Projektile, Gedanken in Mord."

Für viele Intellektuelle wie Pardi oder den Philosophen und Herausgeber der Zeitschrift MicroMega, Paolo Flores D?Arcais, ist klar, dass die Regierung mit ihren Diffamierungen - "Der Sinn für Verantwortung fordert alle dazu auf, die Kette der Gewalt und der Lüge zu durchbrechen", so Berlusconi - nur ihre eigene Verantwortung am Mord Biagis verschleiern will. Wer habe denn Biagi den Polizeischutz entzogen, trotz höchster Alarmstufe - fragen Flores und Pardi - die Bürgerprotestler, die nichts weiter als Legalität einfordern, oder der Innenminister?

Den Mord an Biagis Kollegen Massimo D?Antona hatte Berlusconi vor drei Jahren als "interne Kontenregelung der Linken" bezeichnet. Diesmal hielt sich der Premier ein wenig zurück, zumal die Witwe Biagis kein Staatsbegräbnis wünschte, sondern nur eine private Trauerfeier, auf der Berlusconi nichts zu suchen hatte. Vermutlich musste er sich deswegen am Abend nach der Beerdigung unbedingt mit einem Videospot in den TV-Nachrichten sehen lassen, wo er ständig wiederholte, wie wichtig soziale Reformen für den Arbeitsmarkt seien. Die verbale Dreckwäsche kam dann von Berlusconi-Anwalt, dem Alleanza Nazionale-Abgeordneten und Mafia-Verteidiger Taormina: "Es bleibt zu hoffen, dass Frau Biagi nicht in die Fußspuren der Witwe D?Antona tritt, die sich im Parlament neben die Kommunisten, die historischen Väter des Terrorismus setzt, die ihren Mann umgebracht haben." Das sind Sätze, die man "gewöhnlich in den Klos der Autobahnraststätten geschrieben findet" - kommentiert Antonio Tabucchi in der Unita.

Die Zusammenhänge zwischen den Morden an D?Antona und Biagi (hier das Bekennerschreiben) untersucht Giuseppe D?Avanzo auf den Seiten der Repubblica genauer. Sein Ergebnis unterstützt allerdings eher Tabucchis Metapher vom Klo. In zwei Artikeln dekonstruiert D?Avanzo die Aussage der Ermittler, D?Antona und Biagi seien mit derselben Waffe ermordet worden: "Jahrelang hat die Staatsanwaltschaft Rom behauptet, dass Massimo D?Antona mit einem Revolver Franchi-Llama Kaliber 38 getötet wurde. Er stößt die Patronenhülsen nicht aus, sondern behält sie. Am Tatort D?Antonas gab es keine Hülsen, aber am Tatort Biagis schon. Und es handelt sich wirklich um dieselbe Waffe?" Die vorschnellen und von Carabinieri und Spezialeinheiten geradezu erzwungenen Ergebnisse dienen als Ablenkung von den gravierenden Fehlern des Innenministers Scajola - glaubt nicht nur D?Avanzo.

Die Regierung begibt sich mit ihrer Strategie, der Linken die Komplizenschaft mit den Terroristen zu unterstellen, auf ein politisch unsicheres und fragwürdiges Terrain - und das nicht nur, weil sie Biagi den Polizeischutz entzog. Dies lässt sich zumindest aus den Analysen der Linksintellektuellen sowie der moderaten Kritiker ableiten. Wie Umberto Eco sieht auch Elio Veltri die Gewerkschaften und die linken Reformisten als die eigentlichen Adressaten des Attentats auf Biagi: "Den Mord an Biagio haben die Attentäter ausgewählt, um die Gewerkschaften zu treffen, die sich mehr als alle anderen gegen die Veränderung des Artikel 18 eingesetzt haben".

Der renommierte Wirtschafts-Professor Paolo Sylos Labini (mehr hier) weist darauf hin, dass auch die Regierung die Gewerkschaften treffen, bzw. zerschlagen will. Einen andere Erklärung für das Verhalten Berlusconis findet er nicht, zumal das Statut der Arbeiter in den vergangenen Jahre seine Rigidität komplett eingebüßt habe. "Warum also insistiert Maroni und damit die Regierung Berlusconi so auf dem Artikel 18? ... Um den Gewerkschaften eins mit der Keule auf den Kopf zu verpassen... und dabei handelt es sich um ein politisches Ziel und kein wirtschaftliches." Im sozialen Konflikt der vergangenen Wochen bekam der Artikel 18 zunehmend einen symbolischen Status. Mit ihm stehen die sozialen Errungenschaften, das Solidar- und Rentensystem auf dem Spiel. Die Arbeit droht zur reinen, rechtlosen Ware zu verkommen.

Weder die Diffamierungen der Regierung, noch das Attentat auf Biagi konnte zwei Millionen Menschen davon abhalten, in Rom gegen das Konzept "Italia Azienda" - Italien als Wirtschaftsunternehmen - zu protestieren. Die Demonstrationslust der Italiener ist größer denn je, was der Schriftsteller Stefano Benni bestätigt, der sich als "Cigl Runner" bezeichnet und schier Unglaubliches beobachten konnte: "Ich habe den Rasen des Circo Massimo mit roten Fahnen erblühen sehen."

In der Tat war die zerstrittene Linke nie so geeint wie in Rom. Sergio Cofferati von der Cigl war das scheinbar Unmögliche gelungen: Er hat vom New-Global über die intellektuellen Reigen-Protestler bis zum pensionierten Alt-Gewerkschaftler alle linken Strömungen und Bewegungen geeint. Und was die Klo-Metapher angeht, so steht es eins zu null für die Linke, Benni kann es bezeugen: "Ich habe eine Schlange von Menschen wie verrückt herumhüpfen gesehen. Es war keine ideologische Erregung, sie standen in der Schlange vor der Reihe der mobilen Klohäuschen. Ich habe gesehen, wie diese Klos dem Angriff zwei Millionen kommunistischer Harnröhren standhielten. Und wenn es stimmt, dass Berlusconi sich damit gerühmt hat, in seinen fünf Villen auf Sardinien vierzig Klos zu haben - also, dort standen 400." Nur einen hat Benni nicht gesehen, den Arbeiter-Präsidenten Berlusconi, der im Wahlkampf noch verkündete, dass er der Premier für alle sein werde und nicht nur für sich selbst.