Efeu - Die Kulturrundschau

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27.03.2024. Russland leiht seinen Pavillon bei der diesjährigen Venedig-Biennale an Bolivien aus - es geht um den Tausch von Lithium gegen Kunst und außerdem um geopolitische Interessen, vermuten FAZ und SZ. Gefühlsexzess und Blutrausch bekommt die Zeit auf den Baden-Badener Opernfestspielen geboten. Aber auch die Oper Frankfurt hat laut FAZ Blut, Tränen und Erbrochenes auf dem Programm. Eine Literatursendung zum Küssen entdeckt die SZ im Programm des RBB. Die taz erfreut sich an einem Album Johnny Dowds, das nach Sonnenstrahlen im Staub klingt. 
9punkt - Die Debattenrundschau vom 27.03.2024 finden Sie hier

Kunst

Die Venedig-Biennale steht vor der Tür und Russland wird wieder nicht mit einem Pavillon vertreten sein. Dieses Jahr gibt es jedoch einen Twist: das Land leiht seinen Ausstellungsraum an Bolivien aus. Wie es dazu gekommen ist? Stefan Trinks hat in der FAZ eine Idee: "Bolivien besitzt mit geschätzten 23 Millionen Tonnen mit Abstand das meiste Lithium weltweit, ein Viertel der insgesamt vermuteten Vorkommen, die wiederum für die Produktion von Mobiltelefonen und Batterien unverzichtbar sind. Voriges Jahr buhlten deshalb Russland und China in La Paz gleichermaßen um weitreichende Lieferverträge für das kostbare Metall, Putin erhielt den Zuschlag und investiert über eine staatlich-russische Firma umgerechnet mehr als 400 Millionen Euro in die Lithium-Förderung. Eine politisch-wirtschaftliche Umarmung mit Kunst-Überzuckerung (...)." 

Auch Geertjan de Vugt ist sich in der SZ sicher, dass es um "Kunst gegen Lithium" geht, eingefädelt hat den Deal wohl unter anderem der russische Außenminister Sergej Lawrow. "Die Biennale dient also nicht nur als Podium der Kriegsverleugnung, sondern auch als schöne Kulisse für den geopolitischen Kampf um Ressourcen. Die Biennale lässt Anfragen hierzu unbeantwortet. (...) Es passt auch alles wunderbar zum Thema dieser Biennale. 'Stranieri Ovunque', Foreigners Everywhere, heißt das von Adriano Pedroso, dem aus Brasilien stammenden künstlerischen Leiter der Biennale, gewählte Motto der diesjährigen Ausgabe. In der Welt erklärte er: 'Der globale Süden ist das allumfassende Thema der gesamten Ausstellung.' Dass der sogenannte globale Süden versucht, sich ein Podium zu schaffen, ist verständlich. Dass er das tut mithilfe von Sergej Lawrow, gibt jedoch zu denken."

Trevor Paglen, Because Physcial Wounds Heal…, 2023. Courtesy des Künstlers, Altman Siegel, San Francisco und Pace Gallery © der Künstler



"Poetics of Encryption: Art and the Technoscene" heißt eine Ausstellung zur Kunst des Datenzeitalters in den Berliner Kunst-Werken. Georg Imdahl schaut sie sich für die FAZ an, und ist ziemlich angetan. Klar, flauschigem Aktivismus-Kitsch entkommt man hier ebenso wenig wie schnell veraltenden Softwareexperimenten. Aber es gibt auch Aufregendes zu bewundern, zum Beispiel Charles Stankievechs Videoinstallation "Eye of Silence": "Der kanadische Künstler lässt Drohnen die Badlands in Alberta, die Salzwüste Utahs, isländische und japanische Vulkanlandschaften sowie einen Meteoritenkrater in der namibischen Wüste filmen und präsentiert die Aufnahmen spiegelsymmetrisch - daraus ergibt sich beim Blick auf die Mittelachse eine fortwährende Suggestion von Figuren, Gesichtern, Fratzen, unterlegt mit einem wummernden Sound von rauschendem Wasser. Ob okkult oder nicht, Stankievechs Stereo-Video wirkt wie eine Droge, die sofort süchtig macht."

Außerdem: Theresa Schouwink unterhält sich auf monopol mit der Künstlerin Virgile Novarina über deren Schlafperformances.

Besprochen werden James Krones Schau "Emergency of Pattern" in der Berliner Galerie (Repertoire) (taz Berlin), die Ausstellung "Photography Noir" in der Bremer Galerie K'-Strich (taz Nord), die Ausstellung "Noa Eshkol. No Time to Dance" im Berliner Georg Kolbe Museum (FR), eine Valie-Export-Retrospektive im C/O Berlin (monopol), eine Roy-Lichtenstein-Ausstellung in der Wiener Albertina (NZZ) und die Schau "20 Jahre Sammlung Verbund" zu feministischer Kunst in der Wiener Albertina (Standard).
Archiv: Kunst

Bühne

Die Baden-Badener Opernfestspiele eröffnen mit einem Opernspektakel erster Güte, wenn man Zeit-Autor Thomas E. Schmidt glauben darf. Gegeben wird Richard Strauss' und Hugo von Hofmannsthals "Elektra". Die von Philipp Stölzl und Philipp M. Krenn verantwortete Inszenierung scheut die großen Gesten keineswegs: "Das ist reiner Gefühlsexzess, Schreien und Blutrausch, musikalischer Über-Expressionismus, ein starkes Stück für alle Beteiligten, für sorglose Hörerinnen und Hörer zumal, von Klimax zu Klimax getrieben von einem Orchester mit allein 40 Bläsern. Die Bühne hier: nichts als gigantische, sich verschiebende Betonstufen, unter denen das Geschehen - vielleicht am Fuß eines Tempels menschenfeindlicher Gottheiten - sich verdichtet, bis es ganz zweidimensional und deswegen noch krasser wirkt. Es ist die Opernhölle, und man ist hinterher glücklich, sie mit anderen durchlaufen zu haben." Alexander Camann wiederum bespricht, ebenfalls in der Zeit und ebenfalls euphorisch ("schlichtweg epochal"), Christian Thielemanns Inszenierung einer weiteren Strauss/Hofmannsthal-Oper - "Frau ohne Schatten" - an der Semperoper Dresden.

Giulio Cesare in Egitto - Lawrence Zazzo © Monika Rittershaus

Hoch her geht es auch an der Oper Frankfurt, wo Georg Friedrich Händels "Giulio Cesare in Egitto" gegeben wird. Und zwar, freut sich Jan Brachmann in der FAZ, ohne die Barockoper zur Farce zu degradieren. Stattdessen darf man sich an "Blut, Tränen und Erbrochenem" erfreuen, und an den Sangeskünsten unter anderem Nils Wanderers und Lawrence Zazzos: "Wanderer gestaltet seine Doppelnatur als effeminierter Lüstling und pure Bestie auch vokal, wenn er bei den Koloraturen immer wieder aus der brillanten Farbe des Countertenors ins brünstige Röhren seines natürlichen Baritons abstürzt. Zazzo erreicht den gestalterischen Gipfel seines Singens, als er im zweiten Akt, auf dem Rücken liegend, bebend, atemlos zitternd vor Begehren, dem verführerischen Gesang Cleopatras antwortet." Noch besser als die Hauptrollen sind laut Brachmann, das soll nicht verschwiegen werden, allerdings die Nebenrollen besetzt, und zwar mit "Cláudia Ribas als Cornelia, Bianca Andrew als Sesto und Iurii Iushkevich als Nireno. Alle drei singen timbral verführerisch, technisch beeindruckend sicher und zugleich hoch infektiös, was die Kraft der Affekte angeht."

Das Leben ein Traum - Jens Harzer. © Armin Smailovic

Ein Stück für unsere Gegenwart ist Caldérons Barockklassiker "Das Leben ein Traum" für Welt-Autor Jakob Hayner, da es von den Bedingungen der Freiheit angesichts eines Epochenumbruchs handelt. Das Hamburger Thalia-Theater zeigt das Stück nun in einer gelungenen Johan-Simons-Inszenierung: "Es ist ein Abend auf der Suche nach dem freien Rhythmus zwischen den Menschen. Deswegen läuft im Hintergrund Jazz, obwohl Sigismund zunächst gesteht, er möge lieber Marschmusik, also den streng vorgegebenen Takt. Die Drehbühne von Johannes Schütz mit einer schwebenden Kugel in der Mitte, um die ein Spiegel kreist, lässt an astronomische Konstellationen denken, immerhin ist Caldérons Stück zu der Zeit entstanden, als Galileo Galilei die Erde aus dem Zentrum der Planetenbewegungen riss und René Descartes den Zweifel an der Außenwelt zur Philosophie erhob." Deutlich weniger begeistert ist Till Briegleb in der SZ, für ihn hat die Aufführung "zu wenig Angst vor Kitsch und zu viel vor Hässlichkeit."

Außerdem: Peter Kümmel unterhält sich in der Zeit mit Thomas Ostermeier, einem Weltreisenden in Sachen Theater. Atif Mohammed Nour Hussein denkt auf nachtkritik darüber nach, was passiert, wenn bei Bühnenaufführungen kurzfristig eine Rolle umbesetzt werden muss.

Besprochen werden Sasha Waltz' Choreographie der Johannes-Passion bei den Salzburger Opernfestspielen (Welt, "ein höchst dekorativer, kontemplativer, wohlig anrührender Abend für den kulturafinen, bachgestreichelten Atheisten"), Nicolas Stemanns Inszenierung von Max Frischs "Biedermann und die Brandstifter" am Schauspielhaus Zürich (FAZ, "(...) bösartiges Spiel im Spiel und bei aller politischen Brisanz vor allem immer wieder eines: sehr lustig"), Glucks "Orpheus und Eurydike" an der Staatsoper Hannover (nmz, "Der Beifall kannte keine Grenzen") und Maria Theresia von Paradis' "Die Insel", inszeniert von der Kompanie [in]operabilities, zu sehen zunächst im Berliner Radialsystem (van, "eine neue auch ästhetische Landmarke im Musiktheater").
Archiv: Bühne

Literatur

Claudia Tieschky freut sich in der SZ darüber, dass der RBB mit "Longreads" (Regie: Lena Brasch, Host: Helene Hegemann) endlich mal eine Literatursendung in die Öffentlich-Rechtlichen bringt, die Anspruch, Zugänglichkeit, Authentizität und Stil vereint: Hervorragend findet sie das Format "allem wegen der Ernsthaftigkeit, die dem Gespräch über Bücher zugemessen wird, beziehungsweise dem Lesen als Anstoß zur Weltdeutung. Schon nach der ersten Folge möchte man das Ganze sofort küssen, weil es so gescheit ist. ... Hegemann ist überhaupt ganz wunderbar. Sie ist eine unaufdringliche, aber keineswegs zurückhaltende und schon gar keine affirmative Gesprächspartnerin. Sie widerspricht, sie führt Gedanken klug und erkenntnisinteressiert weiter."

Weitere Artikel: Im Standard ist Ronald Pohl gespannt auf Ulrich Blumenbachs Neuübersetzung von James Joyces "Finnigans Wake", die bis 2027 vorliegen soll und in die Blumenbach im aktuellen Schreibheft einen ersten Einblick gestattet. Für die taz spricht Theresa Moosmann mit Julia Wittmer über Günter Grass' Liebe zum Tanz, worüber Wittmer eine Ausstellung in Lübeck kuratiert hat.

Besprochen werden unter anderem Dani Shapiros "Leuchtfeuer" (FR), Martin Suters "Allmen und Herr Weynfeldt" (TA), Elsa Morantes "La Storia" (Zeit), Valerie Fritschs "Zitronen" (FAZ) und Wolfgang Matz' Neuübersetzung von Julien Greens "Treibgut" (SZ).

Außerdem bringt die FAZ Durs Grünbeins Gedicht "Deutsche Hörer" über Thomas Manns Lübeck:

"Furchtbar sah Lübeck aus
als es fertig war eine Radierung
Churchills ..."
Archiv: Literatur

Film

Eine letzte Spur im Raum, ein bevorstehendes Verschwinden: "Opus" mit Ryuichi Sakamoto

Mit Neo Soras "Opus" kommt diese Woche das filmische Vermächtnis des vor einem Jahr gestorbenen japanischen Komponisten und Musikers Ryuichi Sakamoto in die Kinos. Es ist eine minimalistische Studie über das Sterben, schreibt Philip Stadelmaier in der SZ: Der schwarzweiße Film zeigt Sakamoto in schwarzer Kleidung an einem Piano, an dem er ohne ein Wort zu verlieren zwanzig Stücke spielt. "Im Zentrum steht die melancholische, sich in überraschenden Harmonien entwickelnde Musik, die durch den hochkonzentrierten Vortragsstil des sterbenskranken Mannes ihrer endgültigen Interpretation zugeführt wird." Der "Film ist auch eine Studie über einen abgemagerten, todkranken, dennoch schönen Körper. Die Kamera stößt immer wieder auf leere Momente: Eine abgelegte Brille, ein verwaister Sessel, eine unberührte Klaviatur nehmen ein bevorstehendes Verschwinden vorweg, das nicht mehr abzuwenden ist. Die Aufnahmegeräte können nur die Musik zurückhalten, nicht den Mann selbst. ... Es ist ein Film über das Sterben Sakamotos, der eine letzte Spur im Raum hinterlässt."

Besprochen werden Jessica Hausners Essstörungs-Komödie "Club Zero" (taz), James Hawes' "One Life" mit Anthony Hopkins in der Rolle des britischen Börsenmakler Nicholas Winton, der 669 jüdische Kinder aus Prag vor den Nazis rettete (Tsp, FAZ, FD), Thea Sharrocks Komödie "Kleine schmutzige Briefe" (Standard, FD), David Schalkos und Daniel Kehlmanns ARD-Miniserie "Kafka" (FR), Patric Chihas experimenteller Dokumentarfilm "If It Were Love" über eine Tanzgruppe (FAZ), die Arte-Doku "Yakuza - Japans Mafia" (FAZ) und die ARD-Animationsserie "Friedefeld" (taz).
Archiv: Film

Architektur

Die S21-Baustelle, Stand 2022, © Pjt56, Lizenz: CC BY-SA 4.0 DEED, Quelle: Wikipedia

Gerhard Matzig besucht für die SZ Stuttgart - und schaut sich am Hauptbahnhof um, dort, wo einmal, wenn das Endlosprojekt Stuttgart 21 endlich fertig ist, einmal eine neue Stadt in der Stadt entstehen soll. Bisher besteht die Vision zukünftiger Urbanität allerdings nur aus einem Einkaufszentrum namens "Milaneo", dessen Design Matzig das kalte Grauen einflöst. Kommt da noch was? Noch lebt die Hoffnung, ein bisschen: "Gebaut werden drei Quartiere. Das Europaquartier (zu dem schon die leider grausam missglückte Mall als Menetekel gehört), das Quartier Rosenstein und, nun ja, 'Maker City'. Die Fläche, um die es letztlich geht, ist zweieinhalbmal so groß wie der Cannstatter Wasen. Es entstehen angeblich bezahlbare Wohnungen, kleine Gewerbeeinheiten, ein neuer 'Gleisbogenpark' und Schulen, Kitas, Sportplätze, Spielflächen sowie Kulturräume. Die Autostadt Stuttgart, die sich nach dem Krieg als 'autogerechte' Stadt neu erfunden hat (also zur Stau- und Feinstaubfalle in menschenunwürdigen Räumen wurde), gönnt sich diesmal ein ambitioniertes ÖPNV-Konzept und Platz für Menschen statt für Bleche. Das ist mal was Neues."
Archiv: Architektur
Stichwörter: Stuttgart 21

Musik

Robert Mießner freut sich in der taz über Johnny Dowds zwar schon letzten Herbst veröffentlichtes Album "Is Heaven Real? How Would I Know", mit dem der Outsider-Artist, der bis vor wenigen Jahren seine Kunst als Möbelspediteur querfinanziert hat, aber nun nach Deutschland auf Tour kommt. Sonst wildert Dowd in Country-iana, diese Musik aber "ließe sich als Dowds Version und Vision von Soul beschreiben. Die Musik klingt nach Sonnenstrahlen im Staub und Eiswürfeln im Glas". Thematisch bleibt sich Dowd treu: "Seine Housewives sind immer noch desperate und seine Handlungsreisenden Untergeher, doch kommt jetzt eine gewisse Gelassenheit zum Tragen. Der Humor ist immer noch skurril: Den liebeskranken Protagonisten von 'Ice Pick' zu Trotzki in seinem letzten Moment werden zu lassen, muss man erst einmal bringen. 'Pillow', das mit Kirmesmusik gemachte Geständnis, Sartre nie verstanden zu haben, und 'LSD', die Antwort auf die philosophische Misere, bilden eine Klammer. ... Freude ist möglich, vor dem Himmel."



Weitere Artikel: Elmar Krekeler ruft in der Welt mit Vivaldis "Vier Jahreszeiten" den Frühling aus. Besprochen werden das Comeback-Album von Shakira (Presse) und Brittany Howards Album "What Now" (FR).
Archiv: Musik
Stichwörter: Dowd, Johnny, Country