Magazinrundschau

Alle Arten von Launen und Mythen

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag Mittag
28.02.2023. Wenn der Krieg ein Gutes hat, dann ist es die Deimperialisierung der Ukraine, meint in iLiteratura  die ukrainisch-tschechische Lyrikerin Marie Iljašenko. Der New Yorker sucht nach einer rar werdenden Spezies: Studenten der Geisteswissenschaften. Die Columbia Journalism Review erzählt von den verstörenden Erfahrungen, die eine Handvoll afroamerikanischer Journalisten in den Achtzigern in Nigeria machte. Die größte Gefahr für die Demokratie ist der Klimawandel, warnt in Eurozine der australische Politologe John Keane. Der Guardian bestaunt die aufblasbare Sexpuppe der Pflanzenwelt.

iLiteratura (Tschechien), 24.02.2023

Das Metropolitan Museum of Art hat unlängst die bislang als "russisch" benannten Künstler Ilja Repin, Archip Kuindschi u.a. als "ukrainisch" umetikettiert. Auf die Frage "Was hat ein Jahr Krieg gebracht?" antwortet die ukrainisch-tschechische Lyrikerin Marie Iljašenko aus diesem Anlass: "Außer unendlichem Leid auch einen Wandel im Denken, den man allgemein Dekolonialisierung nennt. Im Fall der Ukraine muss man genauer von Deimperialisierung sprechen." Außer der schlichten Erkenntnis, dass was aus dem ehemaligen russischen Reich oder der Sowjetunion stammt, nicht automatisch russisch ist, gebe es auch eine interessante mental-geografische Verschiebung. Kiew und Charkiw hätten Moskau und St. Petersburg als Zentren, auf die sich die Ukrainer beziehen, abgelöst. Und die Ukraine werde endlich nicht mehr als bloße Peripherie des russischen Reichs wahrgenommen. "Als ich las, dass Ilja Repin als Sohn einer Kosakenfamilie im Charkiwer Umland geboren wurde und seine Schlüsselwerke eine Reihe ukrainischer Motive enthalten, empfand ich ebenso Freude wie Trauer darüber, dass ich das jetzt erst erfahre. Der Schöpfer ikonischer Bilder von Meeresstürmen und Schiffbrüchen, Iwan Aiwasowski, war ein auf der Krim geborener Armenier, also wiederum kein Russe. Sinaida Serebrjakowa, von der die russische Wikipedia schreibt, es handele sich um 'eine der größten russischen Künstlerinnen', wurde auf einem Gut unweit von Charkiw geboren, und bevor sie nach Frankreich ging, studierte sie just bei Ilja Repin. Die ukrainische Wikipedia führt sie als ukrainisch-französische Malerin. Und jetzt halten Sie sich fest, auch Kasimir Malewitsch, der Schöpfer des Schwarzen Quadrats, war Ukrainer. (…) Beim Verweis auf die Verbrechen Russlands pflichten viele Menschen bei, dass Putin schlimm sei, fügen aber im selben Atemzug hinzu, dass die große russische Kultur nichts für Putin könne." Der Mythos von der großen russischen Kultur bekommt nun jedoch Risse, so Iljašenko, "und das ist gut so".
Archiv: iLiteratura

New Yorker (USA), 06.03.2023

An den amerikanischen Universitäten nimmt die Zahl der Studenten in den Geisteswissenschaften, besonders Literaturwissenschaften, rapide ab, berichtet Nathan Heller. Das hat mehrere Gründe: Geringere staatliche Zuschüsse, es wird generell weniger gelesen, die Job- und Verdienstaussichten sind längst nicht so gut wie bei einem Abschluss in Wirtschaftswissenschaften, Geld wird generell immer wichtiger. Die Kritik in den Geisteswissenschaften hat inzwischen ihren Gegenstand fast schon abgeschafft, und eine Wissenschaft ohne Statistik ist ein Konzept, dass von vielen nicht mehr verstanden wird. "'Die Geisteswissenschaften werden der kleine Vogel auf dem Nilpferd sein'", sagt eine Geschichtsprofessorin zu Heller. Für viele Studenten sind sie das bereits: "Tiffany Harmanian studiert im Hauptfach Neurowissenschaften an der A.S.U. ('Ich stamme aus einer Arztfamilie - ich bin aus dem Nahen Osten!', sagte sie mir), hat aber Englisch als Nebenfach. Als sie aufwuchs, lebte sie in Romanen und Gedichten. Dennoch wäre es ihr nie in den Sinn gekommen, Englisch im Hauptfach zu studieren. 'Leute, die sich mit Geisteswissenschaften befassen, müssen vielleicht nicht einmal zur Schule gehen, um das zu tun, was sie tun wollen', sagt sie; sie versteht nicht, inwiefern das Studium von 'The Waste Land' helfen kann, als Dichterin erfolgreich zu werden. 'Außerdem gibt es in der Welt, in der wir leben, diesen verzweifelten Wunsch, in jungen Jahren Geld zu verdienen und früh in Rente zu gehen', fügt sie hinzu. Ich frage sie, was sie damit meint. 'Vieles davon hat damit zu tun, dass wir diese Leute sehen - man nennt sie online 'Influencer'', sagte Harmanian und sprach das Wort für mich extra langsam aus. 'Ich bin einundzwanzig. Leute in meinem Alter haben Krypto. Sie haben Agenten, die sich um ihre Bankgeschäfte und den Handel kümmern, anstatt von neun bis fünf Uhr für fünfzehn Dollar Mindestlohn zu arbeiten.' Sie und ihre Altersgenossen sind in einer Zeit aufgewachsen, in der sich die Versprechen, die Firmen ihren Angestellten gemacht haben, als Lüge entpuppten, also machen sie sich selbständig. 'Das liegt daran, dass unsere Generation sehr viel fortschrittlicher denkt', sagte sie mir."

Jetzt dringen die viel besungenen und beklagten künstlichen Intelligenzen und Chatbots schon in innerste Gefilde vor, stellt der Arzt und Journalist Dhruy Khullar fest: Mittlerweile kann man sich nicht nur von ChatGPT Poeme dichten lassen, sondern sich auch mit psychischen Problemen an Programme wenden, die mit aufmunternden Botschaften oder gezielten Nachfragen Hilfe zur Selbsthilfe geben sollen. Ganz überzeugt ist Khullar nicht, dass KIs wie die amerikanische Support-App Woebot den für den Therapieerfolg so wichtigen zwischenmenschlichen Kontakt ersetzen können, Er fragt sich aber auch, ob die eigene Profession nicht sowieso droht, diesen Apps ähnlich zu werden: "Je mehr klinische Fertigkeiten Du Dir aneignest, desto einfacher wird es, menschliche Eigenschaften zu ignorieren - Mitgefühl, Empathie, Neugierde. A.I.-Sprachmodelle werden zwar effektiver, was die Auswertung unserer Worte angeht, aber sie werden uns nicht wirklich zuhören, und wir sind ihnen egal. Ein Arzt, den ich kenne, hat einem sterbenskranken Patienten mal ein Bier ins Zimmer geschmuggelt, um ihm eine Freude in einer ansonsten freudlosen Zeit zu machen. Diese Idee kam nicht aus irgendeinem Manual und sie ging weit über Worte hinaus - eine einfach menschliche Geste."

Weitere Artikel: Ben Taub rollt nochmal den Skandal von Wirecard auf. Amanda Petrusich hört radikale New Age Musik von Laraaji Nadabrahmananda. Merve Emre liest Calvino. Thomas Mellon stellt die serbisch-britische Autorin Vesna Goldsworthy vor. Anthony Lane sah im Kino Elizabeth Banks' Film "Cocaine Bear".
Archiv: New Yorker

Elet es Irodalom (Ungarn), 24.02.2023

Der Sozial- und Kunstpsychologe László Halász reflektiert auf (messbare) Reaktionen der ungarischen Gesellschaft auf Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine. "Die 'östliche' Einstellung kennzeichnet sogar jene mit Universitätsabschluss. Ungarn heute ist selbst am eigenen BIP gemessen eine geschlossene, die Macht verehrende, intolerante, nach schneller Belohnung strebende und mit den Konsequenzen nicht rechnende Gesellschaft. (…) Aus welcher 'östlichen' Attitüde könnte man ableiten, dass meine Landsleute - und bei Weitem nicht nur Orbán-Fanatiker - die russischen Gräueltaten nicht nachempfinden können? Die Empathie für die keineswegs engelhaften, jedoch höllisch leidenden Opfer kann höchstens als schwach bezeichnet werden. Die Unterstützung ist äußerst gering und wenn vorhanden, dann auch nur halbherzig. Kaltes Stirnrunzeln, dass unser Beispiel - siehe, wie verdorben die Welt ist - weit und breit keine Nachahmer findet. Obwohl es bereits Frieden geben könnte. Und keine Sanktionen. Und keine Inflation. Ach, und die Ukraine auch nicht mehr. Ich schäme mich."

Columbia Journalism Review (USA), 22.02.2023

Dass schwarz nicht überall, auch nicht überall in Afrika, als Hautfarbe gilt, konnte man schon letzte Woche in Africa is a Country lesen (unser Resümee). Dieser Artikel ist eine sehr schöne Ergänzung: Abgestoßen vom Rassismus in amerikanischen Redaktionsstuben brach in den frühen 1980er Jahren eine Gruppe afroamerikanischer Journalisten hochmotiviert nach Nigeria auf, um dort beim Aufbau der staatlichen Rundfunkanstalt zu helfen, erzählt Feven Merid. Das Unternehmen erhielt den Namen Jacaranda Nigeria Limited. Die Journalisten dachten, sie würden bei einer Art PBS landen. Das war ein Irrtum. Ebenso die Vorstellung, sie seien alle schwarz: "'Gleich zu Beginn haben wir gelernt, dass die Nigerianer das Konzept Hautfarbe nicht verstanden und uns definitiv nicht als Schwarze oder Afro-Amerikaner identifiziert haben', erinnert sich Lamont [eine der Journalistinnen] in ihren Memoiren. 'Wie könnt ihr sagen, ihr seid schwarz?', neckten sie uns. Lamont erkannte, dass 'Schwarzsein in Afrika nichts mit Hautfarbe zu tun hat'; Nigerianer dachten in ethnischen und religiösen Gruppen: Yoruba, Ibo, Muslime, Christen. 'Sie alle sind dunkelhäutig, aber Ehen zwischen den Stämmen (zwischen den Rassen) sind verboten, und es gibt immer noch viel tödlichen Hass zwischen diesen Gruppen, bei Jung und Alt.' Kinder, die auf der Straße an Mitgliedern von Jacaranda vorbeikamen, riefen 'oyinbo', ein Yoruba-Wort für einen weißen oder europäisch wirkenden Ausländer. 'Als ich das Wort lernte, musste ich passen und fragte: Was meinst du mit 'weiß'', erzählt Davie. 'Ich hatte dieses revolutionäre Gefühl, unter Brüdern und Schwestern zu sein, und sie nannten uns weiß'."

Eurozine (Österreich), 21.02.2023

Der Klimawandel ist die größte Gefahr für die Demokratie, meint der australische Politologe John Keane. Natürlich stellen die Destabilisierung des Systems durch politische Demagogie oder die Zerrüttung der Zivilgesellschaft durch soziales Leid wichtige Faktoren für den "Demozid" dar. Aber die größte Bedrohung für demokratische Systeme gehe von Umweltkatastrophen aus, erklärt er, denn im Ausnahmezustand lassen sich demokratische Grundprinzipien leicht aushebeln: "Katastrophen können das Beste in Bürgern zum Vorschein bringen, aber wie Thukydides in seiner Geschichte des Peloponnesischen Krieges aus dem Jahr 431 v. Chr. feststellte - als er beschrieb, welche politischen Verwüstungen die Typhusplage, die fast ein Drittel der Bürger des demokratischen Athen tötete, anrichtete - können Umweltkatastrophen die Demokratie zerstören. Das bisher extremste Wetterereignis, das Anfang September 2022 in Pakistan verzeichnet wurde, zeigt, wie schnell das Gewebe aus Vertrauen und Zusammenarbeit der Zivilgesellschaft durch Gier und Korruption, Angst und Krankheit zerrissen werden kann. Bei extremen Umweltschocks blühen auch die Machtmanöver. Der Ausnahmezustand wird normalisiert: Er ist das, was eine Zeit lang ertragen werden muss und was aus 'Notwendigkeit' in Zukunft zu erwarten ist. Die Gouvernementalität setzt sich folglich bei den Bürgern fest: Langsam aber sicher werden die Menschen im Namen ihrer 'Sicherheit' und 'Geborgenheit' dazu gebracht, sich an die permanente Verwaltung ihres Lebens zu gewöhnen. Die Zwangssolidarität, die Leszek Kołakowski als eine durch Zwang degradierte Form der Solidarität beschreibt, wird standardisiert. Eine der größten Gefahren des Ausnahmezustands ist die 'Klebrigkeit' der konzentrierten, willkürlichen Macht, wenn ihr nicht widerstanden wird. Als vorübergehende Maßnahmen unter außergewöhnlichen Umständen werden Abriegelungen und das Verbot von Boykotten und öffentlichen Versammlungen leicht zu dauerhaften Regelungen. Macht, die gewährt wird, ist Macht, die zugestanden wird; und Macht, die aufgegeben wird, ist Macht, die nur schwer wieder zurückgefordert werden kann. Notstandsregelungen gewöhnen die Menschen an Unterordnung. Sie ist die Mutter der freiwilligen Knechtschaft."
Archiv: Eurozine

London Review of Books (UK), 27.02.2023

Als William Davies aufhörte zu twittern, dachte er zunächst, ihm ginge etwas verloren. Jetzt fühlt er sich eher wie ein glücklicher Aussteiger. Denn inzwischen lebt eine ganze Ökonomie davon, permanent Reaktionen zu provozieren, zu messen und für sich zu nutzen, egal ob Soziale Netzwerke, Influencer oder Onlinehändler. In der Reaktionsökonomie spielt die Autonomie des menschlichen Geistes keine Rolle mehr, fürchtet Davies: "Als Akademiker weiß ich nur zu gut, welche Mühen die Universitäten auf sich nehmen, um ihre Studenten dazu zu bringen, im Rahmen der nationalen Studentenumfrage Feedback zu geben. Negative Rückmeldungen sind natürlich ein Grund zur Sorge, aber die eigentliche Angst ist, dass die Studenten überhaupt nicht an der Umfrage teilnehmen: Wenn eine Universitätsabteilung die Mindestschwelle nicht erreicht, wird sie aus den Ranglisten verschwinden. In ähnlicher Weise besteht die Angst der Online-Influencer nicht vor negativen Reaktionen, sondern darin, dass das 'Engagement' sinkt. In einem kybernetischen Kontext ist die Person oder Organisation, die kein Feedback erhält, nicht mehr in der Lage, sich zu verändern oder weiterzuentwickeln. Sie ist im Grunde tot. Der Begriff 'Kybernetik' leitet sich vom griechischen kybernetes ab, dem Steuermann eines Schiffes. Die Kybernetiker beschäftigt, wie komplexe Systeme -  Gehirne, Organisationen, Insektenschwärme oder Computernetze - unter Kontrolle gebracht werden. Wenn man das herausgefunden hat, stellt sich die Frage, wie sie auf ein bestimmtes Ziel hin gelenkt werden können. Für Kybernetiker ist Feedback die Information, die dem Steuermann sagt, wie er sein Verhalten in einer bestimmten Weise anpassen muss, um sein Ziel besser zu erreichen. Die Gefahr besteht jedoch darin, dass wir uns in unserer verzweifelten Jagd nach Feedback und unserem Bedürfnis, anderen Feedback zu geben, in Richtungen lenken lassen, denen wir nicht zugestimmt haben und die wir vielleicht auch nicht wollen. Dies erinnert an die Ängste vor Werbung, PR und Propaganda aus der Mitte des 20. Jahrhunderts, mit dem Unterschied, dass wir uns heute, im Zeitalter der Reaktionsketten, zu Kontroversen, absurden öffentlichen Spektakeln, endlos mutierenden Memen, Trollen und so weiter hingezogen fühlen. Bei diesen Feedback-Duschen liegt der Reiz in der schieren Menge an Reaktionen, die in Umlauf gebracht werden. Rückkopplungsmechanismen, die von den Kybernetikern als Instrumente zur Erreichung von Autonomie und zur Erleichterung der Navigation angesehen wurden, erweisen sich als Falle."

Weiteres: James Butler untersucht die Krise im britischen Pflegesystem, das in zehn Jahren Austeritätspolitik, Privatisierung und Kapitalabfluss heruntergewirtschaftet wurde.
Stichwörter: Soziale Medien, Influencer

Wired (USA), 21.02.2023

Wikipedia in allen Ehren, aber die ältere crowdgesourcte Wissensdatenbank im Netz ist eindeutig die Internet Moviedatabase - kurz IMDb -, das für Filmfans unverzichtbare Online-Filmlexikon, dessen schier unfassbare Informationshöhe und -dichte seit den frühen Neunzigern auf der Arbeit von Abermillionen von Beiträgern aufbaut. Dies ist vor allem das Verdienst von "Supercontributors", die im hohen sechs- bis siebenstelligen Bereich Wissen (von simplen Credits bis zu ausformulierten Biografien) zur Verfügung gestellt haben. Einige von ihnen stellt Stephen Lurie in seiner Reportage vor - darunter etwa den Filmnerd, der in den Sechzigern Tonnen von Hollywood-Pressemappen gesammelt und diese im hohen Alter für die IMDb ausgewertet hat. Die jüngste Generation wählt aber längst andere Mittel, um auf einen der begehrten "Top-Contributor"-Plätze zu gelangen: Eine Userin namens Ines Pape macht ihn mit ihren 22 Millionen Updates ziemlich stutzig: "Supercontributors mögen in die Hall of Fame vorstoßen, indem sie Prosa schreiben, aber um an die Spitze zu gelangen, muss man programmieren können. Zwar sind mir Ines Papes Methoden nicht bekannt, aber der Topcontributor des letzten Jahres hat mir erzählt, wie er das geschafft hat." Und zwar "schrieb Simon Lyngar Programme, um von den Schnittstellen von Spotify und norwegischen Rundfunkanstalten Daten zu ziehen, und zwar insbesondere Podcast-Daten, um sie zur IMDb beizusteuern. Heute, erzählt er, 'kann ich mein Programm am Morgen starten, es macht alles auf eigene Faust. Wenn ich von der Universität nach Hause komme, habe ich 100.000 weitere Aktualisierungen unter meinem Namen beigesteuert.' Einige der Contributors, die in den Foren der Website solche Automatisierungen diskutieren, sehen das gar nicht. Für sie handelt es sich dabei um eine Schummelmethode, um nach vorne zu kommen. ... IMDb selbst schürft als Firma derzeit noch keine Informationen auf diese Idee, aber man kann sich kaum vorstellen, dass eine Amazon-Tochter solche Werkzeuge liegen lässt, wenn sie ihren Wert unter Beweis gestellt haben."
Archiv: Wired

Guardian (UK), 24.02.2023

Francesca Carington beschreibt in einer Reportage die Vielfalt der Orchideen, die im New Yorker Botanischen Garten gezeigt werden - und die kriminellen Energien, die diese Pflanzen bisweilen freisetzen. Bei dem in lange Traditionen zurückreichenden Hobby des Sammelns, verrät sie, wurde beim Gewinn und Erwerb der Orchideen damals wie heute wenig Rücksicht genommen auf die mögliche Artenvielfalt und das Gesetz. Dass der Handel mit vom Aussterben bedrohten Pflanzen illegal ist, interessiert nicht alle Sammler, auch für den Zoll sind Tier- und Drogenschmuggel wichtiger, weiß Carington nun. Werden die Gewächse aber aufgefunden, müssen sie oft im Labor des Botanischen Gartens mühsam wieder hochgepäppelt und für eventuelle polizeiliche Ermittlungen aufbewahrt werden. Warum gehen Menschen diese Risiken ein, nur um die ästhetischen Reize dieser Blumen bewundern zu können, fragt sich die Autorin, und kommt zu folgender Antwort: "In botanischer Hinsicht sind Orchideen faszinierend. Viele Arten vermehren sich mithilfe optischer Täuschungen, ein Prozess, den man als 'Pseudokopulation' bezeichnet. Sie stellen weibliche Wespen oder Bienen nach, um die männlichen Artgenossen dazu zu bringen, sie zu bestäuben, ohne dem Insekt ihren Nektar zukommen zu lassen. Michael Pollan nennt die Orchidee 'die aufblasbare Sexpuppe der Pflanzenwelt.' Sexpuppen, sexuell suggestive Objekte, Geiseln des Imperialismus oder einfach nur schöne Blumen - Orchideen verkörpern alle Arten von Launen und Mythen." Damit sind sie von den Menschen nicht allzu weit entfernt, denkt sich Carington.
Archiv: Guardian
Stichwörter: Orchideen, Botanik, Imperialismus

Human Rights Watch (UK), 21.02.2023

Im April 2022 wurden 59 Zivilisten getötet und hundert weitere verletzt, als eine Streumonitionsrakete über dem Bahnhof von Kramatorsk in der Ostukraine explodierte, an dem mehr als 500 Menschen auf ihre Evakuierung warteten. Human Rights Watch hat zusammen mit SITU Research Investigation neue Hinweise gefunden, dass es sich bei dem Raketenangriff um ein Kriegsverbrechen von russischer Seite handelt. Anhand von Satellitenbildern, umfangreichem Videomaterial und zahlreichen Zeugenbefragungen wurde der Angriff rekonstruiert. Dabei konnte die eingesetzte Waffe anhand von Fotos als ballistische Rakete vom Typ 9M79K-1 Totschka-U identifiziert werden. Russland dementiert die Verantwortung für den Angriff, aber es gibt deutliche Hinweise darauf, dass sich die militärische Einrichtung für den Einsatz der Rakete in der Nähe des Angriffsortes und in russischer Hand befand: "Zusammengenommen deuten diese Beweise stark darauf hin, dass die russischen Streitkräfte zum Zeitpunkt des Angriffs in Kramatorsk in der Umgebung des Dorfes Kunie über Totschka-Abschussrampen, die dazugehörige Raketentransportausrüstung und Totschka-Raketen verfügten und dass die russischen Streitkräfte in dieser Zeit regelmäßig Angriffe von Stellungen in der Umgebung von Kunie aus starteten." Der Angriff verstößt in mehrere Hinsicht gegen die Genfer Konvention, so der Bericht: Er war "rechtswidrig und wahllos. Bahngleise und Bahnhöfe werden von Streitkräften für militärische Zwecke genutzt und können daher rechtmäßige militärische Ziele sein. Human Rights Watch fand jedoch keine Beweise dafür, dass der Bahnhof von Kramatorsk zum Zeitpunkt des Angriffs für militärische Zwecke genutzt wurde oder dass sich ukrainische Streitkräfte in dem Gebiet befanden. Luftangriffe oder Artillerieangriffe auf Objekte, die kein militärisches Ziel haben, sind wahllos."

Pitchfork (USA), 22.02.2023

Felipe Maia betrachtet den Boom des lateinamerikanischen Reggaeton in Spanien. Dort ursprünglich verpönt als kriminelles und übersexualisiertes Genre, belastet von Vorurteilen gegenüber Latinos, wirft sein enormer Erfolg nun Fragen nach kultureller Aneignung auf: "Im Laufe der Jahre schlich sich Reggaeton in die Sozialleben der privilegierten spanischen Jugend, was auf den unbestreitbaren Aufstieg von Künstlern wie Daddy Yankee und Bad Bunny und dem Vordringen des Genres in den Pop-Mainstream zurückzuführen ist. Von schicken Partys auf Madrids Pferderennbahn zu Maria Pombos auf Instagram organisiertem 'Suave Fest', die Beliebtheit von Reggaeton in den wohlhabendsten Kreisen des Landes hat ihm geholfen, seinen Platz an der Spitze der Charts zu halten - was die Beziehung des spanischen Reggaeton zu den karibischen Wurzeln des Genres weiter verkompliziert. Laut Nina Vázquez, einer puertoricanischen Pädagogin und Reggaeton-Historikerin … gibt es für europäische Künstler einen schmalen Grat zwischen dem Aufbau fruchtbarer Verbindungen zum Reggaeton und der Verwischung seiner Geschichte. Vázquez sagt, dass Rosalía, als sie bei den MTV VMAs 2019 in der Kategorie 'Best Latin' gewann, genauer auf die Wurzeln des Genres hätte eingehen können. 'Ich liebe Rosalía ... aber sie hätte sagen können: 'Danke dafür, aber das ist nicht meine Kultur'', sagt Vázquez. In der eigentlichen Rede sagte Rosalía: 'Ich bin so glücklich, hier zu sein und meine Heimat und meine Kultur zu repräsentieren.'"
Archiv: Pitchfork

New York Times (USA), 28.02.2023

Wenn man Jeneen Interlandis Reportage über die amerikanische Drogenepidemie liest, fällt es einem europäischen Leser wie Schuppen von den Augen: Amerika, so scheint es, kriminalisiert Drogengebrauch ausschließlich, aber es gibt so gut wie keine Ansätze einer Sozialarbeit, die verständnisvoll mit den Kranken umgeht. Interlandi schildert die Arbeit der Organisation OnPoint, die teilweise gegen geltende Gesetze Drogenkranke mit sauberen Nadeln und hellen Räumen versorgt und schnell zur Stelle ist, wenn einer Rettung braucht. Dieser Ansatz mag das spezifische Verhältnis der Amerikaner zu Drogen nicht heilen, aber viele Alternativen dazu gibt es für Interlandi nicht: "Wir geben etwa fünfmal so viel für die Inhaftierung von Menschen mit Drogenkonsumstörungen aus, wie es uns kosten würde, sie zu behandeln, und der Ertrag dieser Ausgaben ist bestenfalls mager. Der Drogenkonsum steigt rasant an, und jährlich sterben mehr als 100.000 Menschen an einer Überdosis - mehr als je zuvor in der modernen Geschichte. Die Lebenserwartung in den Vereinigten Staaten ist zum ersten Mal seit Generationen rückläufig, was großenteils auf diesen Umstand zurückzuführen ist. Die Wirtschaft verliert jedes Jahr etwa eine Billion Dollar - das entspricht etwa 5 Prozent ihres Bruttoinlandsprodukts - unter anderem an Produktivität, Gesundheitskosten und Ausgaben für die Strafjustiz."
Archiv: New York Times
Stichwörter: Lebenserwartung