Vom Nachttisch geräumt

23 000 Holzkisten

Über Hellmuth Karaseks Erinnerungen: Nach dem Krieg Von Arno Widmann
17.10.2016. Für Hellmuth Karasek war das Glas immer halb voll - auch "Nach dem Krieg".
Hellmuth Karasek starb am 29. September 2015. In diesen Tagen ist sein neuestes Buch erschienen: "Nach dem Krieg - Wie wir Amerikaner wurden". In ihrem Vorwort schreibt seine Witwe Armgard Seegers Karasek, dass ihr Mann vier Wochen, nachdem er mit dem Buch begonnen hatte, seine Krebsdiagnose bekam. "Mit Hilfe von Michael Seufert ist nun dieses Buch fertiggestellt worden. Ganz im Sinne meines Mannes. Er wäre glücklich darüber gewesen. Da bin ich sicher."

Lesen wir es also als das Buch eines glücklichen Menschen. Es gibt Menschen, denen fehlt die Begabung zum Glück. Sie verbreiten die Mär, Denken mache traurig. Sie fragen völlig zu Recht: Wer Nationalsozialismus und Stalinismus entkam, hat sicher Glück gehabt, aber ist er darum ein glücklicher Mensch? Die Karaseks antworten: Was erwartet ihr denn? Freut euch an dem Glück, das ihr habt. Redet es nicht klein zugunsten eines Glücks, das es niemals gab und niemals geben wird. Karasek selbst kannte sehr wohl die Versuchung, die Tasse halbleer zu sehen. Aber er wusste, ihm und allen, die mit ihm zu tun hatten, tat es wohler, sie als halbvoll zu betrachten. Dafür nahm er gerne in Kauf, immer mal wieder als oberflächlicher Hallodri des Kulturbetriebes apostrophiert zu werden. Manchmal scheint es ihm Spaß gemacht zu haben, diese Rolle zu spielen. Sie war frei, und sie wurde gut bezahlt. Aber wie die meisten wirklichen Hallodris war er nicht als solcher auf die Welt gekommen, sondern er war einer geworden - durch Erfahrungen und durchs Nachdenken über die Wege und Irrwege des Weltenlaufs. Dieses Buch, das von dem Wunschtraum USA, vom Ideal der freien Welt, von Demokratie und den Freiräumen für Abweichler erzählt, sei jedem Kritiker der USA empfohlen, nicht um der Kritik die Spitze zu nehmen, sondern im Gegenteil um sie zuzuspitzen, genauer, treffender zu machen.



Hier nur ein paar Bemerkungen zu zwei Stellen aus dem Buch. Gleich am Ende der Einleitung stehen die Sätze: "Verdrängen macht Spaß, eine Weile; Erinnern macht mehr Spaß, nicht bloß eine Weile." Sie sind das Resümee seiner Gedanken zu Deutschlands Umgang mit seiner NS-Vergangenheit. Das Verdrängen, so beschreibt er das, dauerte bis tief in die sechziger Jahre des vorigen Jahrhunderts, das Erinnern ist inzwischen also fünfzig Jahre alt. Erinnerungspolitisch ist die Geschichte der Bundesrepublik die einer großen Ausnahme. In Washington hat gerade erst das erste Museum für die Geschichte der Afro-Amerikaner eröffnet. Ein Museum der Sklaverei, das dieser niemals wirklich zu Ende gegangenen Institution einen Spiegel vorhielte, gibt es bis heute nicht. Nirgendwo auf der Welt. Vielleicht dauert in vielen Fällen das Verdrängen doch deutlich länger als die Erinnerung. Lebte Karasek noch, würde ich ihm sagen: "Denken Sie doch an Ibsen!".

Im Kapitel über die Währungsreform stieß ich auf einen Absatz, den ich hier in Gänze zitiere, weil er mir - und vielleicht auch den Lesern - etwas mitteilt, das ich nicht wusste: "Schon im Januar 1946 hatte die amerikanische Regierung die beiden deutschstämmigen Wirtschaftswissenschaftler Ray Goldsmith und Gerhard Colm nach Deutschland geschickt, um Pläne für eine Währungsreform vorzubereiten. Ein Vierteljahr später waren die Grundzüge erarbeitet: Geldbestände sollten 1 zu 10 abgewertet werden, Preise, Löhne, Mieten auf bisherigem Niveau bleiben. Die Sowjets zögerten eine gemeinsame Reform in allen vier Besatzungszonen hinaus. Im Oktober 1947 ließ die US-Regierung vorsorglich die neuen Scheine in Washington drucken, ohne dass Einzelheiten der großen Tauschaktion schon beschlossen waren. Von Februar bis April 1948 wurden 5,7 Milliarden D-Mark vor allem in kleinen Scheinen, verpackt in 23 000 Holzkisten per Schiff nach Bremerhaven und von dort in acht Sonderzügen nach Frankfurt am Main transportiert." Ich liebe den letzten Satz. Ich hätte vor ihm aufgehört, hätte mich mit den Allgemeinheiten begnügt. Karasek will - wollte, muss es jetzt leider heißen - es genau wissen und erst so erst wird die Sache plastisch. Eine Filmszene.

Hellmuth Karasek: Nach dem Krieg - Wie wir Amerikaner wurden, Nachwort von Ulrich Wickert, Europa Verlag, München 2016, 328 Seiten, 19,99 Euro.

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