9punkt - Die Debattenrundschau

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Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
04.05.2017. Nach der brutalen Fernsehdebatte zwischen Marine Le Pen und Emmanuel Macron zählt Le Monde 19 falsche Behauptungen auf, derer sich Macron erwehren musste. Unter anderem unterstellte Le Pen, dass Macron ein Konto auf den Bahamas habe - Macrons Team konterte auf Twitter. Slate.fr analysiert die "hassvolle Faszination", die Macron bei Linken und Rechten wegen seiner Zeit in der Rothschild-Bank auslöst. Gilles Kepel spricht in Marianne über die Wahlhilfe des IS für den Front national. Außerdem: Die SZ erzählt, wie sich ARD und ZDF etwa 100 bis 200 Millionen Euro Gebührengelder abknöpfen ließen.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 04.05.2017 finden Sie hier

Europa

Nach der Fernsehdebatte - Schwerpunkt Wahlen in Frankreich:

Um auch den Deutschen ein Bild der über zweistündigen Debatte zwischen Marine Le Pen und Emmanuel Macron zu geben, die gestern Abend im französischen Fernsehen stattfand, sei hier das in Le Monde protokollierte Eröffnungsstatement Le Pens übersetzt, die nach Auslosung als erste reden durfte und sofort gegen ihr Gegenüber schoss: "Eine Stimme für Monsieur Macron ist eine für die wilde Globalisierung, die Uberisierung, die Prekarität, den Krieg aller gegen alle, die wirtschaftliche Ausplünderung, besonders durch die großen Unternehmen... In dieser zweiten Wahlrunde konnten die Franzosen den wahren Macron erblicken: Die Jovialität wich der üblen Nachrede, das einstudierte Lächeln wurde zum Krampf, das Lieblingskind des Systems und der Eliten hat die Maske fallen lassen." France24 hat die Debatte mit englischsprachiger Synchonübersetzung online gestellt, allerdings leider in sehr schlechter Qualität.

Macron, der selbst häufig aggressiv konterte, musste sich nach Le Monde gegen 19 falsche Behauptungen Le Pens wehren, die ihm unter anderem Eingriffe in Unternehmensverkäufe vorwarf, die geschahen, als er noch gar nicht Minister war. Auch eine virulente deutschfeindliche Passage Le Pens gab es, die nach dem Protokoll von Libération  in dem Satz gipfelte: "Frankreich wird von einer Frau geführt werden, entweder von mir oder von Frau Merkel."

Gegen Ende der Debatte stellte Marine Le Pen einfach mal in den Raum, dass Emmanuel Macron ein Offshore-Konto auf den Bahamas besitze. Das "Team Macron" konterte per Tweet mit Hinweis auf gefälschte russische Twitterkontos, wo gleichzeitig die selbe Behauptung zirkulierte.

Als ehemaliger Angestellter der Bank Rothschildt wird Emmanuel Macron sowohl von Marine Le Pen als auch von Jean-Luc Mélenchon mit "hassvoller Faszination" verfolgt, schreibt Claude Askolovitch bei Slate.fr. Er ist übrigens nicht der erste Ehemalige dieser Bank, dem dies widerfährt - auch Georges Pompidou hatte einst bei Rothschild gearbeitet: Diese Bank "ist kein neutrales Objekt... es gibt keinen Hass ohne Zwiespältigkeit. Die Großbank, deren Emblem Rothschild ist, mischt sich seit unvordenklichen Zeiten in die Politik. Alphonse de Rothschild half Frankreich nach der Niederlage von 1871 wieder auf die Beine, als der Bankier dem Land ermöglichte, die von den Deutschen verlangten Reparationen zu finanzieren. Dieser Alphonse war auch Mitglied des Jockey-Clubs, der jüdischen Gemeinde (hier öffnet sich ein neuer Abgrund), Conseiller général in Seine-et-Marne und Erbauer von Eisenbahnen. Georges Pompidou, dieser Liebhaber Racines und der Lyrik, der die Hinfälligkeit des Menschengeschlechts mit ironischer Zigarette im Mundwinkel betrachtete, war ein Teil dieser Geschichte."

Die Dschihadisten des Islamischen Staats hatten das klare Projekt, Marine Le Pen ins Amt zu verhelfen, um die Konfrontation zwischen der muslimischen Bevölkerung und der Mehrheitsgesellschaft in Frankreich auf die Spitze zu treiben, sagt Gilles Kepel im Gespräch mit Hervé Nathan von Marianne und verweist auf einige programmatische Schriften der Terroristen seit dem Jahr 2005. "Wenn die Attentate im selben Rhythmus wie 2015 und 2016 weitergegangen wären, mit einer Zahl von zivilen Toten, wie man sie seit 1944 nicht mehr gesehen hätte, kann man wetten, dass Marine Le Pen in der ersten Wahlrunde an der Spitze gestanden hätte. (...) Dass dies nicht passiert ist, liegt daran, dass der Islamische Staat im Nahen Osten einer Offensive ausgesetzt wurde, die ihm die Grenzen verschloss und die Zirkulation seiner Agenten nach Europa unterband. Überdies ist der Hauptkoordinator der Attacken, der Rapper Rachid Kassim, durch einen Drohnenangriff auf 'Kalifatsterritorium' getötet worden, von wo aus er im letzten Februar agierte. In seinem Testament kritisiert er übrigens die Führung des Islamischen Staats, der nicht mehr genug in den Terrorismus in Europa investiere."

Marine Le Pen mag offiziell dem Antisemitismus ihres Vaters entsagt haben, aber Georg Troller nimmt ihr das nicht ab. Im Interview mit der Zeit verweist der 95-jährige Journalist und Autor, dem das Münchner Dok.fest gerade eine Retrospektive widmet, auf Le Pens Behauptung, die berüchtigte Razzia des Wintervelodroms im Juli 1942 sei nicht vovom franzöischen Staat zu verantworten: "'Dabei war das eine rein fran­zösische Angelegenheit', sagt Troller. '13.000 ­ deportierte Juden, darunter 4.000 Kinder. Die französische Polizei ist mit Möbelwagen vorgefahren, um die Habseligkeiten dieser Menschen mitzunehmen.' Eigentlich habe Le Pen damit sagen wollen, die Kollaboration sei nicht französisch gewesen, sagt Troller, der als Siebzehnjähriger in Paris auf Hauswänden die 'Mort aux juifs'-Schmierereien sah. 'Sie will die Kollaboration von Frankreich abspalten, das ist grotesk.'"

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Eine virulente Renationalisierung der Debatten im Westbalkan, sowohl in Serbien als auch in Kroatien und andern Staaten, macht Erich Rathfelder in der taz aus - der EU-Beitritt Kroatiens hat die Lage offenbar nicht entschärft: "Der kroatische Philosoph und Politikwissenschaftler Zarko Puhovski weist seit Jahren auf die ideologische Instrumentalisierung der Geschichte durch von nationalen Mythologien geprägte öffentliche Geschichtsdiskussion im Raum des ehemaligen Jugoslawien hin. In der kroatischen Öffentlichkeit werde zum Beispiel die Aufarbeitung des Zweiten Weltkrieges verkürzt auf die Massaker der kommunistischen Partisanen an Mitgliedern der kroatischen Heimwehr und Anhängern des Ustascha-Staates 1945. Die Verantwortung und die Verbrechen der Ustascha-Diktatur werden dagegen von konservativ-nationalistischer und katholischer Seite heruntergespielt."
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Gesellschaft

Lena Bopp zitiert in der FAZ aus einer Studie über Männlichkeitsbilder in der arabischen Welt: "Fast zehntausend Männer und Frauen aus Ägypten, dem Libanon, Marokko und Palästina haben an der Befragung teilgenommen, die von zwei NGOs und den Vereinten Nationen organisiert worden ist. Etwa die Hälfte von ihnen, und zwar sowohl der Männer als auch der Frauen, vertrat die Ansicht, dass Gleichberechtigung zwischen den Geschlechtern nicht zu ihrer Tradition und Kultur gehöre."
Archiv: Gesellschaft

Geschichte

In der NZZ erinnert Markus Bauer an das schwere Erdbeben in Rumänien von 1977, das 1.578 Tote forderte und Ceausescu die Möglichkeit gab, religiöse Denkmäler ganz zu beseitigen. Paul Ingendaay zeichnet für die FAZ den französischen Streit über die vom Mediävisten Patrick Boucheron herausgegebene monumentale "Histoire mondiale de la France" nach, die unter anderem vom kulturkonservativen Autor Alain Finkielkraut scharf attackiert wurde. In der SZ bespricht Rudolf Neumaier eine Nürnberger Ausstellung über die Rolle Albert Speers in der Nazizeit.
Archiv: Geschichte

Wissenschaft

Unterminiert das Englische als Koine, als überregionale Standardsprache, in den Wissenschaften die anderen nationalen Sprachen? Der Ägyptologe Antonio Loprieno plädiert in der NZZ für freihändige Flexibilität und räumt mit einem Vorurteil auf: "Es wird oft übersehen, dass die Dichotomie zwischen Koine und Dialekt auch für jene Sprecher gilt, deren Muttersprache Englisch ist. Scientific English ist in einem Pub in Glasgow eine Fremdsprache, und ich kenne einen englischen Ägyptologen, der während einer Konferenz meinte, der englische Vortrag einer belgischen Kollegin wäre besser verstanden worden, wenn er auf Französisch gehalten worden wäre. Durch den Gebrauch des Englischen als Koine sehen sich einige die Muttersprachler im Vorteil, da sich nur Letztere mit der gebotenen Präzision ausdrücken könnten. Das ist aber ein romantischer Trugschluss."

"Die Nachricht, dass man Hirnscanner auf einem für Endverbraucher erschwinglichen Preisniveau entwickelt, beschäftigt mich intensiv", erklärt der Musiker Peter Gabriel in der NZZ. Denn: "Unsere Gedanken stehen kurz davor, aus unseren Köpfen herauszutreten, von unserem Gehirn auf Computer übertragen zu werden, ins Internet und in die Welt. Wir betreten das Zeitalter des sichtbaren (und hörbaren) Denkens."
Archiv: Wissenschaft

Medien

Die GEZ-Gebührengelder gehen zuweilen originelle Wege: "Das in München ansässige Institut für Rundfunktechnik (IRT), das von den öffentlich-rechtlichen Anstalten betrieben und bezuschusst wird, soll um 100 bis 200 Millionen Euro betrogen worden sein", berichtet Klaus Ott bei sueddeutsche.de. Die Münchner Staatsanwaltschaft ermittelt wegen Untreue und Betrugs. Beschuldigt wird ein Patentanwalt, der auf Honorarbasis für die Tochterfirma von ARD und ZDF tätig war. "Er soll für das IRT "besonders nachteilige Verträge" herbeigeführt haben, wie der Bayerische Rundfunk am Mittwoch mitteilte. Die Patente des Technik-Instituts seien über eine internationale Gesellschaft so verwertet worden, dass davon vor allem der Patentanwalt profitiert habe. Er habe, so der Verdacht, in die eigene Tasche gewirtschaftet. Statt zum Wohle des IRT zu agieren, wie es eigentlich seine Aufgabe gewesen wäre."

Wirklich denkwürdig war der FAS-Artikel über das Dinner von Theresa May und Jean-Claude Juncker, der sich liest als hätte Autor Thomas Gutschker am Dinner teilgenommen - inzwischen steht er online. Der Artikel hat für Ärger gesorgt. Und wie berichtet die Süddeutsche über diesen Ärger? "London hatte sich verstimmt gezeigt, dass eine deutsche Zeitung über Details eines vertraulichen Abendessens von May mit Kommissionschef Jean-Claude Juncker berichtet hatte." Nur nicht die Quelle nennen, wenn jemand anders einen Coup landet - das ist Qualitätsjournalismus in Deutschland!
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Internet

Nicht die Fake News sind das eigentliche Problem bei Facebook, sondern sich selbst verstärkende Gruppendynamiken, die immer neues Futter brauchen, meint Sascha Lobo in einer Spiegel-Online-Kolumne über den Einfluss der sozialen Medien auf die Bundestagswahl: "Die wichtigste Frage aber muss doch lauten: Warum ist ein Teil der Öffentlichkeit so anfällig für Fake News, Echokammern, Verschwörungstheorien? Ich halte zum Beispiel den tiefen, oft glühenden Hass auf Angela Merkel in bestimmten Kreisen sozialer Medien viel eher für das Symptom eines Problems als für das Problem selbst. Die Leute ahnen häufig, dass eine geteilte Merkel-News so kaum stimmen kann - aber es ist nicht so wichtig, weil die Verbreitung eine soziale Funktion erfüllt: ein Symbol der Gruppenzugehörigkeit. "
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Ideen

Wiederholungszwang erkennt der Soziologe Armin Nassehi in Zeit online in der neuen Leitkulturdebatte. Und den würden wir erst loswerden, "wenn wirklich kontrovers über Einwanderungsfragen verhandelt wird - mit dem Ziel eines Einwanderungsgesetzes, das auch die schmerzhaften Fragen stellt: etwa, wer nicht kommen darf. Das müssen Einwanderungsländer immer beantworten. Und hier ist der Diskurs auch auf die klugen Konservativen angewiesen, nicht nur auf die ohnehin kosmopolitisch offenen Milieus, die in ihrer Hochnäsigkeit oft gar keine Leitkulturkataloge brauchen, weil sie sich als Inkarnation einer eigentlichen Leitkultur sehen."

Außerdem: Die FR druckt eine Rede des deutsch-polnischen Schriftstellers Artur Becker über Michel Foucault, Zygmunt Bauman und den Begriff der Aufklärung. Und Leonie Feuerbach fragt im FAZ.Net, ob der populäre religiöse Popstar Xavier Naidoo in seinem Lied "Marionetten" rechtsextremes "Reichsbürger"-Gedankengut von sich gibt.
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