9punkt - Die Debattenrundschau

Was wir über ein Geschehen wissen

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
15.01.2021. "Die Republikanische Partei ist eine nationale Peinlichkeit", sagt Jill Lepore in der FR und findet: Es ist Zeit für einen neuen amerikanischen Patriotismus. Im Gegenteil, der amerikanische Exzeptionalismus ist ein Problem, und die Verfassung ist sowieso Relikt aus der Sklavenhaltergesellschaft, meint die Historikerin Hedwig Richter in der SZ. Die Medien gratulieren der Wikipedia zum Zwanzigsten. Immer schon wurde ja an ihr rumgemäkelt - bis heute. Aber manche freuen sich auch! Wie absurd ist eigentlich Kirchensteuer, fragt Faustkultur.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 15.01.2021 finden Sie hier

Politik

"Die Republikanische Partei ist eine nationale Peinlichkeit. Ihre Perfidie im Repräsentantenhaus, ihre Fäulnis und ihre Bereitschaft, das Land zu zerstören, nur um an der Macht zu bleiben, haben das Land tief gespalten", sagt die Historikerin Jill Lepore mit Blick auf den Sturm auf das Kapitol im FR-Interview mit Michael Hesse. Nun müssen die Bedürfnisse der Nation wieder ernst genommen werden, meint sie: "Nach dem Horror des Nationalismus im Zweiten Weltkrieg hat der Nachkriegsliberalismus nicht mehr von der Liebe zum Heimatland, dem Zweck von Patriotismus oder guten Zielen der Nation gesprochen. Es galt das Motto: Wer von Patriotismus spricht, gerät schnell ins gefährliche Fahrwasser des Nationalismus. Deshalb redeten Liberale nicht mehr von Nation oder Nationalismus, dem Zweck der Einheit der Nation, sondern über andere Dinge. In dieser Weise funktionierte der größte Teil der US-Politik. Über die Nation zu sprechen bedeutete, sich rhetorisch in Richtung der Rechten zu bewegen. Jeder, der erfolgreich liberale Reformen in den USA durchsetzen will, muss aber über die Nation reden."

Gerade die an die "Welt um 1900" erinnernde "nationale Selbstvergötterung" hat die USA in die Katastrophe geführt, meint indes die Historikern Hedwig Richter in der SZ: "Der nachhaltigste Schaden der nationalen Hybris (…) liegt wohl in der Unfähigkeit zu Reformen. Eine Nation, die im Glauben lebt, die größte Demokratie zu sein - woher soll sie die Kraft zur Veränderung nehmen? Die amerikanische Reformunfähigkeit beginnt mit der Verfassung, für deren Lobpreis offenbar kein Wort zu barock und keine Phrase zu abgeschmackt ist. Doch die Verfassung ist ein Relikt aus der Sklavenhaltergesellschaft. Nicht nur im Fall des amerikanischen Bürgerkriegs hat sie bei ihrer Hauptaufgabe, der Sicherung des inneren Friedens, versagt. Sie ist in einem Ausmaß dysfunktional, das für Verfassungen moderner Demokratien tatsächlich einmalig sein dürfte."

Paul Ingendaay geht für einen kleinen FAZ-Essay nochmal all jene die Bücher durch, die versuchen, das Phänomen Donald Trump zu ergründen - keines kann es ihm allerdings restlos erklären. Eine Erkenntnis nimmt er immerhin aus "Das Licht, das erlosch" von Ivan Krastev und Stephen Holmes mit: "Das 'Außergewöhnlichste an seiner außergewöhnlichen Präsidentschaft' .. sei seine Ablehnung des Mythos vom amerikanischen Exzeptionalismus. Trumps Botschaft laute, Amerika könne 'groß' sein, ohne moralische Überlegenheit oder eine Führungsrolle in der Welt beanspruchen zu müssen. Diese Botschaft, die mit dem sofortigen Wegfall einer Weltpolizei Amerika einhergeht, ist in Europa noch immer nicht ganz angekommen."

In der NZZ erzählt der Historiker Bernd Roeck eine kleine Geschichte des Populismus vom Christentum bis heute. Unter anderem kommt er auf die Studie "Falsche Propheten" von Leo Löwenthal und Norbert Guterman aus dem Jahr 1949 zu sprechen: "Schon damals wurde 'der Liberalismus' als Ursache von Gottlosigkeit, Unmoral und Anarchie angeprangert. Feindbilder boten daneben die Juden, Sündenböcke von jeher, dazu 'Neger' und 'Fremde, Kommunisten, Verrückte, Flüchtlinge, Renegaten, Sozialisten, Termiten' - oder auch 'tyrannische Bürokratien' und 'Betrüger', von denen es in Washington angeblich wimmle."
Archiv: Politik

Gesellschaft

Danke, mir geht's gut, schreibt die Medizinstudentin Marisa Kurz, die vor zehn Tage eine Corona-Impfung mit dem Biontech-Impfstoff erhalten hat, bei den Salonkolumnisten: "Mir sind noch keine Spikes aus dem Kopf gewachsen. Die einzige Nebenwirkung, vor der ich Angst hatte, war eine allergische Reaktion. Diese Nebenwirkung ist nicht aufgetreten - und da bin ich nicht allein. Die amerikanische Gesundheitsbehörde CDC hat ausgewertet, wie oft es nach den knapp 1,9 Millionen bisher in den USA verabreichten Biontech-Impfungen zu schweren allergischen Reaktionen gekommen ist. Die Antwort ist: 21 mal."
Archiv: Gesellschaft

Europa

Der am Montag auch in Deutschland erscheinende Roman "Revolution" des belarussischen Autors Viktor Martinowitsch ist in Belarus beschlagnahmt worden, sein Verleger wurde verhaftet. Im SZ-Gespräch mit Francesca Polistina räumt Martinowitsch ein, dass Dissidenten heute zwar mehr Möglichkeiten haben als je zuvor, er blickt aber auch besorgt auf die Repression in seinem Land: "In Belarus gibt es eine große Diskussion darüber, wie man auf die Repression der Regierung antworten soll. Vor allem Intellektuelle und Dissidenten, die im Ausland leben, sind der Meinung, man sollte auf die Gewalt mit Gewalt reagieren. Aber das wäre ein falscher Sieg. Deshalb reagieren wir friedlich, obwohl der Preis dafür wahrscheinlich ist, dass Lukaschenko noch viele Jahre bleiben wird. (…) Die Stimmung ist sehr, sehr schlecht. Die Angst, die das Land mehrere Jahrzehnte lang dominiert hat, kehrt langsam zurück. Viele Familien haben ein Mitglied, das in irgendeiner Form Opfer der Repression des Präsidenten geworden ist. Die Propaganda ist so massiv, dass manch einer sich nun fragt, ob es doch ein Fehler war, auf die Straße zu gehen."
Archiv: Europa

Kulturpolitik

Vom Wiederaufbau der Bornplatzsynagoge in Hamburg hält der jüdische Historiker Moshe Zimmermann im Tagesspiegel nichts. Viel mehr ärgert er sich aber über den Slogan: "Nein zu Antisemitismus, Ja zur Bornplatzsynagoge". Für Zimmermann heißt das: "Wer gegen den Neuaufbau der Synagoge auf dem ehemaligen Bornplatz ist, ist also Antisemit. Die Initiatoren des Bornplatzsynagogen-Projekts griffen somit zur ultimativen Waffe. (…) Die Initiative gewann die Unterstützung der Gemeinde und vor allem des orthodoxen Rabbiners. Wer auch immer den perfiden Slogan 'Nein zu Antisemitismus, Ja zur Bornplatz Synagoge' prägte, wusste um seinen Effekt - die Unterstützung für das Unternehmen und Millionen aus der Staatskasse waren somit garantiert."

Auf Zeit Online kommentiert Micha Brumlik etwas unentschieden: "Ich selbst bin grundsätzlich für den originalgetreuen Wiederaufbau, auch wenn die Skeptiker viele Argumente aufbringen."

Außerdem: Ein "Außenposten des Denkens" des Denkens ist in Gefahr, warnt Simon Strauß in der FAZ, nämlich die Klosterbibliothek von Einsiedeln, die von der ETH Zürich administrativ betreut und mit schnöden Digitalisierungsargumenten zur Disposition gestellt wird: "Darf man von einer reichen und renommierten Universität wie der ETH nicht auch erwarten, dass sie die besondere Stellung einer kulturellen Schatzkammer zu würdigen weiß?"
Archiv: Kulturpolitik

Religion

Der unermüdliche Kirchenkritiker Helmut Ortner macht heute bei Faustkultur auf die von den Deutschen brav geschluckte Absurdität des deutschen Kirchensteuersystems aufmerksam. "Unsere Kirchensteuer: Einst wurde vom Reichsfinanzminister (im September 1933) angeordnet, dass auf der Lohnsteuerkarte ein Religionseintrag vorzunehmen sei. Das war zwar nach der Weimarer Reichsverfassung verfassungswidrig (Art. 136 Absatz 3). Dort heißt es: 'Niemand ist verpflichtet, seine religiöse Überzeugung zu offenbaren...' Die Nationalsozialisten hat das jedoch nicht interessiert. 1949 wurde dieser Artikel der Weimarer Reichsverfassung in das Grundgesetz übernommen - und so steht die Religionszugehörigkeit auf der Lohnsteuerkarte deutscher Kirchenmitglieder. Bis heute."

Ebenfalls bei Faustkultur bespricht Cinzia Sciuto Mouhanad Khorchides Buch "Gottes falsche Anwälte - Der Verrat am Islam". Sciutos eigenes Buch "Die Fallen des Multikulturalismus" wird von Armin Pfahl-Traughber in hpd.de rezensiert.
Archiv: Religion

Internet

Die Wikipedia ist das einzige soziale Medium, das nachhaltig beweist, dass ein soziales Medium nicht zwangsläufig Hass produziert und für die Öffentlichkeit dennoch überaus relevant sein kann - aber viele Artikel zum zwanzigsten Geburtstag der Enzyklopädie würdigen diese Leistung nicht, weil es ihnen zu wichtig ist zu mäkeln. So auch heute Denis Gießler in der taz: "Neuankömmlinge, die anfangs motiviert sind sich einzubringen, haben es wegen des komplexen Regelwerks zunehmend schwer. Die über Jahre entwickelten Relevanzkriterien, also ob Personen, Ereignisse oder Themen zeitüberdauernd von Bedeutung sind oder nicht, und das neutrale Schreiben über einen Sachverhalt sind anspruchsvoll, und Stunden an Arbeit können manchmal kommentarlos gelöscht werden. Wissenschaftler:innen betrachten in einer Studie das raue Klima innerhalb der Wikipedia-Gemeinschaft zudem als einen Grund dafür, dass sich auch immer weniger Frauen einbringen."

FAZ-Autor Kai Spanke benennt en passant immerhin einen Vorteil, den die Wikipedia gegenüber allen Pressetiteln hat: "Bei bedeutenden tagesaktuellen Ereignissen - etwa der Katastrophe von Fukushima oder dem Sturm auf das Kapitol in Washington - lässt die Wikipedia ihren Status als Enzyklopädie schnell hinter sich. Stattdessen fungiert sie dann als Ort, an dem man minutengenau sehen kann, was wir über ein Geschehen wissen."

Bei Markus Beckedahl in Netzpolitik klingt immerhin noch etwas von der Begeisterung, die dieses Projekt auslösen kann, durch. Er veröffentlicht ein Podcast mit Leonhard Dobusch über die Wikipedia. In der Einleitung schreibt er: "Die Nullerjahre hindurch wurde die Wikipedia-Community für ihre Mission und ihr Engagement noch häufig von denen ausgelacht, die noch darauf hofften, dass das mit der Digitalisierung bald wieder verschwinden würde. Gemeinsam Wissen teilen, ehrenamtlich Artikel zu den nischigsten Themen schreiben, die man sich vorstellen kann - das könne doch nicht funktionieren. Wer komme denn auf so eine dämliche Idee und vor allem: Wer glaubt denn an eine solche verrückte Utopie? Aber da war schon klar, dass das Modell zukunftsweisender war als das jährliche Drucken enzyklopädischen Wissens in lange Bücherreihen, die dann schon nicht mehr aktuell waren, wenn sie als Deko im Regal verstaubten."

Wieviel ist von dem Ideal der Wikipedia, ein "freier, demokratischer, allen zugänglicher und in offener Debatte geformter Raum" zu sein, noch übrig, fragt sich Nina Breher im Tagesspiegel. PR-Firmen säubern Einträge, auch Akteure nehmen selbst verdeckt Einfluss darauf, "wie über sie geschrieben wird. Der Beitrag zu Taiwan etwa: Das Land, auf das China Anspruch erhebt, wird immer wieder von einem 'Inselstaat in Asien' zu einer 'chinesischen Provinz' gemacht. Die BBC fand weitere Änderungen dieser Art in Bezug auf China, etwa im Artikel zu Tibet. In China selbst ist Wikipedia gesperrt, auch in der Türkei war die Seite zweieinhalb Jahre nicht erreichbar. Der türkische Verfassungsgerichtshof verfügte Ende 2019, Wikipedia wieder freizuschalten. Längst ist das Schwarmwissen also nicht mehr für alle da. Auch das trübt die Vision des klassen- und grenzenlosen Brockhaus für alle."

Für heise.de interviewt Torsten Kleinz den Wikipedia-Gründer Jimmy Wales.
Archiv: Internet