9punkt - Die Debattenrundschau

Warum Notrufe nicht angenommen werden

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
19.02.2021. Die Zeitungen gedenken des Attentats von Hanau. Es gab krasses Behördenversagen, aber Deniz Yücel ist in der Welt alles in allem optimistisch: "Die Rassisten von heute befinden sich in einem Abwehrkampf." Mark Terkessides fordert in der taz nach Hanau "Vielheitspläne" und "Mainstreamen" von Gesetzestexten im Hinblick auf rassistische Effekte. In der SZ behauptet Susan Neiman, es habe nach dem "Weltoffen"-Aufruf großer Kulturinstitute Drohungen mit Dienstverfahren und Haushaltskürzungen gegeben. Die taz erklärt, was "Menschen mit 'Nazihintergrund'" sind, die nun von zwei Künstlern mit Instagram-Videos denunziert werden.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 19.02.2021 finden Sie hier

Europa

Schwerpunkt: Ein Jahr nach dem Attentat von Hanau

Heute jährt sich der Anschlag von Hanau, bei dem neun Menschen starben und viele weitere verletzt wurden, zum ersten Mal. Seit dem rechtsextremistischen Anschlag von Mölln im November 1992 hat sich immerhin einiges getan, schreibt Deniz Yücel in der Welt. Die Namen der Opfer wurden damals in der Politik nicht genannt, Kanzler Kohl nahm nicht an der Trauerfeier teil, gedacht wurde der "Ausländer", so Yücel weiter: "Natürlich fanden auch die Morde von Hanau nicht in einem luftleeren Raum stand. Von der in Teilen rechtsextremen AfD, die das gesellschaftliche Klima vergiftet, bis zur Dämonisierung von ShishaBars in Teilen der Öffentlichkeit gibt es Diskurse, die solche Gewalttaten befördern. Doch die Rassisten von heute befinden sich in einem Abwehrkampf. Sie sind da, sie sind gefährlich, ob in ihrer militanten Ausprägung oder ihrer biederen. Aber sie sind nicht die Mehrheit und schon gar nicht der Mainstream. Auch die Frage nach Repräsentation von Einwanderern und ihren Kindern in der Öffentlichkeit, etwa in den Medien, stellt sich heute vielleicht noch in Einzelaspekten, aber ist kein generelles Problem mehr. Und sie hat heute ein nie dagewesenes Maß an Vielfalt gewonnen."

Rechtsextreme Terroristen handeln nicht ohne Umfeld. Mark Terkessides identifiziert in der taz den Diskurs vom "großen Austausch", der in der gesamten populistischen und extremen Rechten grassiert, als Inspiration für Täter: "Diese Leute betrachten sich selbst als Minderheit, und sehen die Gewalt als legitimen Widerstand. Insofern war klar, dass eine große Gefahr von teilweise auch psychisch belasteten Personen ausgeht, die sich nach dem Vorbild etwa von Anders Breivik ideologisch bewaffnen und dann losschlagen. Beim Islamismus haben sich die Behörden auf dieses Szenario eingerichtet und so Anschläge verhindert - warum also hier nicht?" Das Antirassismusprogramm der Bundesregierung, immerhin eine Millarde Euro schwer, ist Terkessides zu wenig. Er fordert eine langfristige Strategie: "Das würde 'Vielheitspläne' ebenso beinhalten wie das 'Mainstreamen' von Gesetzestexten im Hinblick auf rassistische Effekte."

Für Sascha Lobo (Spon) ist durch Corona "offenbar geworden, wie verstörend groß die Bereitschaft unter Weißdeutschen ist, solchen Rassismus als tolerierbar zu betrachten. Deshalb gehen scheinlinke Impfgegnerinnen oder scheinliberale Corona-Maßnahmen-Gegner gemeinsam mit Nazis auf die Straße. Die migrantische Wut speist sich aus genau solchen Erkenntnissen: Im Zweifel meint ihr euren Antirassismus nicht wirklich ernst." Und Naika Foroutan schreibt ebenfalls auf Spon: "Die Bedrohung ist allgegenwärtig in Schulen, Bussen, Geschäften, auf Fußballplätzen oder in Klubs. Innenminister Seehofer hat betont, dass Rechtsextremismus derzeit eine der zentralsten Gefahren für Deutschland darstellt. Jeden Tag sei die Möglichkeit zu einer rassistischen Gewalttat gegeben, befürchten die Sicherheitskräfte." Melanie Mühl sieht es in der FAZ ähnlich: "Der Hass ist dabei breit gestreut und kennt keine Grenzen."

Im Tagesspiegel erkennt Aida Baghernejad gleich eine "alte, neue Lust am rassistischen Grenzüberschritt" - in der Gesellschaft, in der "Rassismus gepflegt wird wie liebgewonnenes Kulturgut", aber auch mit Blick auf das Versagen der Behörden: "Es beginnt auch mit unserem Blickwinkel. Wenn es Tage dauert, bis der Innenminister Mecklenburg-Vorpommerns, der Waffen bei Nazis kauft, endlich zurücktritt. Wenn Berichte von Sicherheitsbeamt*innen, die Waffen horten, sich auf den vermeintlichen 'Tag X' vorbereiten, die Gewaltfantasien hegen, Rassismus pflegen und Selbstjustiz begehen, kaum jemanden interessieren, aber eine satirische Kolumne von Hengameh Yaghoobifarah, die die Gefühle eben dieser Berufsgruppen verletzte, zu einer mittleren Staatskrise führt."

Ebenfalls im Tagesspiegel fragt Ariane Bemmer: "Warum setzen sich vor ein paar Tagen erst Mütter, Väter, Geschwister, Cousins, Freunde von Toten vor eine Kamera und lesen die Ungereimtheiten vor, die sich für sie aus der Tatnacht ergeben? Warum laufen mit diesen Fragen nicht die Verantwortlichen herum? Wollen denn nicht alle wissen, warum ein Mann, der psychisch krank ist, eine Waffenbesitzkarte haben darf? Oder warum Notrufe nicht angenommen werden? Wollen nicht alle wissen, ob tatsächlich Opfer von Verbrechen obduziert werden, ohne dass man als Angehöriger dazu gefragt wird, und man bekommt irgendwann einen zusammengeflickten Leichnam zu sehen, aber nur, wenn man nicht lockerlässt? Wollen nicht alle wissen, was sich offizielle Stellen herausnehmen? Wie menschenfeindlich es hier zugehen kann?"

In der SZ kommentiert auch Matthias Dobrinski: "Umso deprimierender ist der Umgang der Sicherheitsbehörden mit den Ereignissen der Tatnacht, mit den tatsächlichen und vielleicht auch nur vermeintlichen Fehlern des Einsatzes. Es mussten erst die Angehörigen der Opfer auf die Barrikaden gehen, ehe Hessens Innenminister Peter Beuth zugab, dass vielleicht doch nicht alles optimal gelaufen ist. Wie sollte es auch? Doch der Selbstschutz der Behörden war wichtiger als die Transparenz gegenüber den Angehörigen der Opfer, die wissen wollen, wie ihr Kind starb, selbst wenn sie ahnen, dass es da keine wirkliche Antwort geben kann."
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Politik

Keiner spricht in der aktuellen Krise in Myanmar über die Rohingya, klagt in der New York Times der Lyriker Mayyu Ali, selbst Rohingya, der heute in einem Flüchtlingslager in Bangladesch lebt. Auch die "Demokratie"-Bewegung nicht, die sich gegen die putschenden Generäle erhebt: "In unserem Flüchtlingslager in Cox's Bazar lebe ich mit meiner siebenköpfigen Familie in einer winzigen Hütte aus Planen. Mehr als 100.000 Menschen sind auf einer Quadratmeile eingepfercht. Im Flüchtlingslager hat es Proteste gegen den Militärputsch gegeben, aber es werden keine Tränen für Frau Aung San Suu Kyi vergossen, die das Militär und seine völkermörderische Gewalt verteidigt hat."
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Ideen

Ronen Steinke und Jörg Häntzschel haben die jüdische Philosophin Susan Neiman, die zu den Mitinitiatoren der "Initiative Weltoffenheit" (unsere Resümees) gehört, und den jüdischen Historiker Michael Brenner, Direktor des Münchner Zentrums für Israelstudien und Gegner der Initiative, zum SZ-Streitgespräch über BDS, die Mbembe-Debatte und die Initiative "Weltoffenheit" geladen. Brenner verweist im Gespräch darauf, dass es auch eine Form von Israelkritik als "rhetorische Tarnung für Antisemitismus" gebe, während Neiman den Deutsche eine "Art Selbstzensur" in Sachen Israelkritik attestiert. Neiman erzählt außerdem, dass Mitgliedern der Initiative Dienstverfahren und Haushaltskürzungen angedroht und Projekte abgesagt wurden: "Das ist keine Zensur, aber wenn man mit Haushaltskürzungen oder Dienstverfahren bedroht wird, wird man sich in Zukunft zwei Mal überlegen, ob man so etwas noch mal macht. Wir leben zum Glück in einem Land, in dem Kultur öffentlich mit viel Geld gefördert wird, weil man sie als Teil der Demokratie versteht. Das heißt aber auch, dass der Staat über diese Gelder entscheiden kann. Und das kann wie Zensur wirken." Neiman wird leider nicht konkret, und die Interviewer versäumen nachzufragen.
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Gesellschaft

Denunziation auf Instagram: Die Künstlerin Moshtari Hilal und der Autor Sinthujan Varatharajah schlagen in einem Instagram-Video einen neuen Begriff vor: "Menschen mit 'Nazihintergrund'", berichtet Caren Miesenberger in der taz: "Die Bezeichnung soll für Menschen dienen, deren Vorfahren NS-Täter:innen waren. In dem Video eröffnen die beiden Kulturschaffenden eine Diskussion darüber, inwiefern Menschen mit Nazihintergrund heute noch über monetäres, soziales und kulturelles Kapital verfügen - und Einfluss haben. Varatharajah und Hilal nennen viele Beispiele. Zwei Personen aus dem Berliner Kulturbereich stehen im Fokus: die Buchhändlerin Emilia von Senger und die Galeristin Julia Stoschek. Beide sind Nachfahrinnen hochrangiger Nazis. Beide verfügen über finanzielles Erbe aus der NS-Zeit." Senger hat in Berlinen queeren Buchladen eröffnet, Stoschek, Milliardenerbin, sammelt Kunst. Die Instagram-Künstlerinnen rufen laut Miesenberger nicht direkt zum Boykott von Sengers Buchladen auf, "aber er wird suggeriert".

Hier das Video der beiden. Interessant eine Passage etwa in Minute 40, wo die beiden heutigen Rassismus zurückbeziehen auf Nazi-Idologie, wie das auch Aida Baghernejad im Tagesspiegel tut (siehe oben), um eine Kontinuität zwischen Opfern heutigen Rassismus und Naziopfern herzustellen. Senger antwortet hier.

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Nach der umstrittenen Sendung "Die letzte Instanz" hat der WDR nun die Sendung "Monitor studioM" mit dem Thema "Rassismus in letzter Instanz" ausgestrahlt - und es nicht viel besser gemacht, seufzt Frank Lübberding in der Welt. Eingeladen waren zwar zwei Angehörige der Sinti und Roma in Deutschland, sowie der Politikwissenschaftler Markus End, der sich mit Antiziganismus beschäftigt. Es fiel kein Wort über soziale Wirklichkeiten, dafür so viel über linguistischen Antirassismus, dass sich Lübberding in einem Proseminar wähnte: "Nur hat mit solchen sprachpolitischen Überlegungen noch niemand einem Kind zu besseren Bildungschancen verholfen. In früheren Jahrzehnten war Diskriminierung kein Thema für Linguisten, sondern der Sozialpolitik." Es "stellte sich die Frage, ob hier tatsächlich die Repräsentanten der Sinti und Roma zu Wort kamen. Oder die Perspektive eines akademischen Denkens, das nur noch um sich selber kreist."

Viele Schwarze und Menschen mit Migrationsgeschichte haben in Deutschland zwar keine Bürgerrechte, da sie keine deutsche Staatsbürgerschaft haben, sie werden aber stets als "Anti-Rassimus-Pädagogen der Nation" hinzugezogen, schreibt Jagoda Marinic in der SZ: "Die Minderheitenbewegungen verstricken sich so in Endlosdebatten mit der Mehrheitsgesellschaft und schaffen ein Paradoxon: Sie reden über und mit Herkunftsdeutschen nur noch darüber, wie sehr sie, die Herkunftsdeutschen, sich öffnen. Diese aufzuklären, ist das große Anliegen. Die eigenen Bedürfnisse sowie die der Elterngeneration und anderer Marginalisierter sind öffentlich kein Thema mehr, höchstens noch Theorien über sie. Man bringt Gesellschaftskritik in einer Sprache vor, die Betroffene kaum erreicht."
Archiv: Gesellschaft

Medien

Christian Rath erläutert in der taz die neuen Leistungsschutzrechte für Presseverleger, die Deutschland aufgrund der EU-Reform verwirklicht und die den Informationsfluss für die Verleger zu einem Geldfluss machen sollen: "Immerhin sollen JournalistInnen und FotografInnen laut Gesetzentwurf einen 'angemessenen' Anteil der Lizenz-Einnahmen erhalten. Was angemessen ist, lässt der Gesetzentwurf allerdings offen. Eine Mindestbeteiligung von einem Drittel der Einnahmen wird zwar erwähnt, kann aber durch kollektive Vereinbarungen wie Tarifverträge unter- oder überschritten werden." Die Nachricht, dass Facebook in Australien Medieninhalte wegen der dortigen Linksteuer sperrt (hier der Bericht der taz) , kommentiert Katrin Gottschalk in der taz mit dem Rat an die Leser, Nachrichten direkt bei Medien zu lesen.
Archiv: Medien

Kulturpolitik

Zu Wochenbeginn erteilte Klaus Lederer im Kulturausschuss des Abgeordnetenhauses dem Vorstoß der Hohenzollern, Berlin und Brandenburg zum Abschluss der Verhandlungen über Objekte aus nach 1945 enteigneten Immobilien zu drängen (Unsere Resümees), eine Absage, meldet Bernhard Schulz im Tagesspiegel: Auch "Erhard Grundl, als kulturpolitischer Sprecher der Grünen-Fraktion Konferenz-Veranstalter, fand bestätigt, die Wissenschaft habe die Frage der Vorschubleistung eindeutig beantwortet. Es sei nun an den Gerichten, auf Grundlage des Ausgleichsleistungsgesetzes zu entscheiden. Für Grütters, sekundierte Conze, werde der Spielraum für 'klandestine Gespräche' zunehmend enger. Um so mehr - wäre anzufügen - hat die Öffentlichkeit Anspruch darauf, eine so weitreichende Entscheidung wie die am Eigentum der einst hohenzollernschen Kunstschätze nicht hinter verschlossenen Türen verhandelt, sondern in einem ordentlichen Gerichtsverfahren entschieden zu sehen."
Archiv: Kulturpolitik