9punkt - Die Debattenrundschau

Statt der aufgenähten Flagge Taiwans

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
08.04.2021. In der SZ appelliert Swetlana Alexijewitsch an die Solidarität Europas, auch im eigenen Interesse: "Ich denke, dass Europa nicht ganz begreift, welche große Gefahr von Belarus ausgeht." Die Krautreporter erklären, warum sie rechtliche Schritte gegen die geplanten Subventionen für Zeitungen ergreifen. Die Zeitungen diskutieren über die Frage, ob Geimpfte größere Rechte genießen sollten. Unterdessen ist die Verzweiflung in den Städten wie mit Händen zu greifen, beobachtet die SZ. Und dann ist da noch die Frage, warum Ursula von der Leyen auf dem Sofa sitzt.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 08.04.2021 finden Sie hier

Europa

Die Belarussen leben "unter Besatzung", sagt Swetlana Alexijewitsch im großen SZ-Gespräch mit Sonja Zekri: "Ich denke, dass Europa nicht ganz begreift, welche große Gefahr von Belarus ausgeht. Es geht ja nicht nur darum, dass wir leiden. Die Stabilität Europas steht auf dem Spiel. Es kann einen Bürgerkrieg geben, Flüchtlingswellen. Belarus ist die letzte Bastion des Kommunismus. Und wenn der Kommunismus siegt, wird es nationalistische Bewegungen und autoritäre Regierungen stärken - in Russland, in Polen, in Ungarn. (…) Natürlich liegt auf Belarus der Schatten Russlands. Wir hören eindrucksvolle Worte der Unterstützung, aber wir brauchen jetzt Taten. Sanktionen gegen einzelne Regierungsmitglieder bewirken nicht viel."

Das #Sofagate beschäftigt die sozialen Medien. Es geschah bei einem Besuch des europäischen Ratspräsidenten Charles Michel und der Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen bei Tayyip Erdogan, den man mit weiteren Milliarden füttern will, um Flüchtlinge abzuhalten. Für von der Leyen war neben Erdogan kein Sessel aufgestellt, nur Charles Michel fand einen Platz, in den er sich fläzen konnte. Von der Leyen gab ihrem Unmut mit einem "Ähm.." Ausdruck und musste sich dann sozusagen an den Katzentisch setzen. Am besten kann man das #Sofagate in einem Tweet der New York Times sehen:



ZDF-Korrespondent Stefan Leitert zeigt in einem Thread, dass dieser protokollarische Affront so gemeint war, denn bei anderen Gelegenheiten hat Erdogan durchaus drei Sessel aufgestellt. Und er geschah in dem Moment, als die Türkei aus der Istanbul-Konvention ausgetreten ist (unsere Resümees):


Der eigentliche Skandal in diesem Video ist der EU-Ratspräsident und ehemalige belgische Premierminister Charles Michel, der in peinlicher Bräsigkeit das ihm von Erdogan angebotene Privileg akzeptiert, schreibt Tim King bei politico.eu: "Was ein Anlass für EU-Solidarität hätte sein können und sollen - Michel und von der Leyen waren schließlich auf einer gemeinsamen Reise, um eine gemeinsame Position zur Türkei-Politik zu vertreten - wurde stattdessen zu einem dieser allzu bekannten Momente, in denen die EU von Rivalität zwischen Institutionen und Eitelkeit besiegt wird." Michel sah auch später keinen Grund, sich zu entschuldigen, meldet politico.eu auch.
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Gesellschaft

Zum heutigen internationalen Tag der Roma erklärt Zeljko Jovanovic, Direktor der Roma-Initiative der Open Society Foundations, in der Welt, weshalb die mangelnde Anerkennung von Identitäten durch die Mehrheitsbevölkerung auch soziale Ungleichheit bedingt: "Erst kürzlich zeigte eine Studie, dass die Chancen für Roma Kinder ungleich schlechter sind. Über die Hälfte wird in der Schule gemobbt oder Opfer von Gewalt, ein Viertel der Kinder wird sogar von Lehrern oder anderem Schulpersonal diskriminiert. Unsere Kinder werden um Bildungschancen, um Arbeitschancen, um gesellschaftliche und politische Teilhabe gebracht. Und um Lebensjahre: In Europa ist die Lebenserwartung von Roma im Schnitt zwischen sieben und 20 Jahren geringer als die der Mehrheitsbevölkerung. Noch immer leben in Europa drei von zehn Roma ohne Leitungswasser, acht von zehn Roma sind von Armut bedroht. Auch Covid19 trifft Roma besonders stark."

Im Tagesspiegel plädiert Sidney Gennies für die Rückgabe von Rechten an Geimpfte, denn: "Der notwendige Lockdown in seinen verschiedenen Härtegraden schränkt nicht nur den Alltag heute ein, er bedroht all das, worauf sich Menschen nach dem Ausnahmezustand freuen: Theater, Bars, Restaurants, das Hotel am geliebten Ferienort - für viele: den Arbeitsplatz. Die Freiheit der Geimpften, ihr Geld, kann helfen, diese Dinge zu sichern, für jene, die sich jetzt noch gedulden müssen. Das ist jedenfalls für alle besser, als nur mit Milliarden Steuergeldern Unternehmen am Leben zu halten, deren Betreiber nichts lieber würden, als zu arbeiten."

Für Staats- und Verfassungsrechtler ist laut einem weiteren Artikel im Tagesspiegel klar: "Nicht die Gewährung von Grundrechten muss begründet werden, sondern deren Einschränkung. 'Warum sollen Menschen, die sich nicht anstecken können und auch mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit andere nicht anstecken, ihre Rechte nicht wie in normalen Zeiten ausüben können?', fragt der Berliner Verfassungsrechtler Christian Pestalozza."

Verbunden mit einer kleinen Geschichte der Nacht kritisiert Magnus Klaue auf Zeit Online die nächtlichen Ausgangssperren: Indem der Staat "seinen Bürgern immer weniger die Urteilsfähigkeit zutraut, die zu eigenem Nutzen und zum Nutzen der anderen zu gebrauchen den Erwachsenen auszeichnet, verwandelt er sich erneut in eine Agentur fürsorglicher Patronage, die all das verkörpert, wovon das Bürgertum sich einst zu emanzipieren trachtete. Er macht aus seinem eigenen Souverän eine Ansammlung unmündiger Pubertierender, die nach Sonnenuntergang möglichst gar nicht mehr aus dem Haus gehen sollten. So erweist sich der gesundheitspolitische Maßnahmenstaat auch alltagsgeschichtlich, in seinem Verhältnis zur Regulation des Verhältnisses von Tag und Nacht, als Rückschritt in vormoderne Verhältnisse auf der Grundlage der Moderne."

Wird die Pandemie den Niedergang der Städte endgültig besiegeln, fragt sich Gerhard Matzig derweil in der SZ: "Hinter geschlossenen Läden werden viele Läden des Einzelhandels genau das: geschlossen. Die große Pleitewelle steht noch bevor. Davor ducken sich ein paar müde 'Click & Meet'-Unverdrossene - und irgendwo wischt eine unverzagte Gastronomin zwischen Saarbrücken und Stralsund mal wieder die Tische ab, die sie mit Lockdown-Tränen netzen darf. Die Verzweiflung in den Städten ist wie mit Händen zu greifen."

Wir leben in einer fest strukturierten Gesellschaft, und am deutlichsten wird das beim Thema Erben, das soziale Ungleichheiten in Deutschland immer weiter zementiert und vergrößert, sagt Sozialwissenschaftler Rudolf Stumberger im Gespräch mit Martin Bauervon hpd.de: "Laut einer jüngsten Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung geht fast die Hälfte des Erbschafts- und Schenkungsvolumens an die reichsten zehn Prozent der Begünstigten. Der Rest - also 90 Prozent - teilt sich die verbleibende Hälfte. Das heißt, dass die große Mehrheit der Bevölkerung im Einzelfall kaum mehr als 40.000 Euro erbt, manche aber auch gar nichts. Die soziale Ungleichheit setzt sich durch die Erbschaften zugunsten einer kleinen Gruppe immer weiter fort."
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Politik

Haarsträubend liest sich, was Lea Deuber in der SZ zum wachsenden Einfluss Chinas auf westliche Kunst und Kultur schreibt. Chinesische Studierende sollen im Ausland lebende chinesische Kommilitonen denunzieren, gegen Kritiker mit chinesischen Wurzeln wird ebenso hart wie gegen die Filmindustrie vorgegangen: "Um Zugang zum chinesischen Markt zu erhalten, berücksichtigen Filmstudios heute genau, was die chinesische Zensur sehen will - und was nicht. Die Folge ist eine 'Epidemie der Selbstzensur', wie die amerikanische Chinaforscherin Aynne Kokas über die Filmindustrie schreibt. Mal geht es um kleine Details, wie im zweiten Teil von 'Top Gun'. Tom Cruise spielt wie im ersten Film von 1986 auch diesmal den heroischen Kampfpiloten, aber auf seiner Bomberjacke ist laut erster veröffentlichter Ausschnitte statt der aufgenähten Flagge Taiwans ein farblich ähnlicher Fantasie-Aufnäher zu sehen. China beansprucht Taiwan seit Jahren für sich. Mal wird aber auch das gesamte Drehbuch nach chinesischen Vorstellungen modelliert, wie etwa 2014 beim vierten Teil der 'Transformers'-Filmserie, 'Ära des Untergangs', der von einem chinesischen Investor mitfinanziert wurde."
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Medien

Die Krautreporter ergreifen rechtliche Schritte gegen den Plan der Bundesregierung, bestimmte private Medien - nämlich Zeitungen und Anzeigenblätter - mit fast einer Viertelmilliarde Euro zu subventionieren. Die Bundesregierung möchte diesen Plan noch ganz eilig vor den Bundestagswahlen verabschieden. Gegenüber ihren Lesern begründen die Krautreporter ihren Schritt so: "Wir haben uns diesen Schritt gut überlegt. Zu den Grundwerten von Krautreporter gehört es, dass wir stets eine konstruktive Haltung einnehmen. Deswegen geht es uns nicht darum, anderen Medienunternehmen zu schaden. Wir sind auch nicht gegen jegliche Förderung von Journalismus. Aber wir sehen es als unsere Pflicht an, uns gegen diese Verletzung der Pressefreiheit und die Verzerrung des publizistischen Wettbewerbs durch den Staat zu wehren."

Vertreten werden die Krautreporter von dem Anwalt Wolfgang Spoerr, der die Diskriminierung durch die einseitige Förderung so beschreibt: "Krautreporter steht beim Verkauf digitaler Abonnements in direktem Wettbewerb mit den geförderten Presseverlagen, ist aber als Anbieterin eines digitalen, verlagsunabhängigen Magazins, das nur im Intenet erscheint, von der Förderung ausgenommen."
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Ideen

Thomas Schmid zerpflückt in der Zeit (online in seinem Blog) ein weiteres Mal die letzte Woche von Jürgen Zimmerer und Michael Rothberg vorgebrachte These, der Holocaust stehe in einer Linie mit den Kolonialverbrechen (unser Resümee): "Die Untaten des deutschen, des europäischen Kolonialismus rücken heute, wenn auch sehr spät, stärker ins öffentliche Bewusstsein als je zuvor. Das geschieht, weil die Völker Europas, in unterschiedlichem Ausmaß, allmählich bereit sind, sich auch mit den düsteren Kapiteln ihrer Geschichte auseinanderzusetzen. Und es geschieht auch, weil die jahrzehntelange Beschäftigung mit den NS-Verbrechen die Öffentlichkeiten in bisher ungekanntem Maß für historisches Unrecht sensibilisiert hat. Dieser Sensibilisierung hilft es nicht, gegen die historische Wahrheit eine direkte Linie vom Massenmord an den Herero und Nama zum Holocaust zu ziehen."

Ähnlich wie Zimmerer und Rothberg, die die Behauptung der Singularität des Holocaust irgendwie provinziell finden, legen auch die jüngst vielfach angegriffene Historikerin Hedwig Richter (unsere Resümees) und Zeit-Redakteur Bernd Ulrich in einem Zeit-Artikel dar, dass eine deutsche Schuldobsession den Blick auf die Geschichte verstelle: "Dass die These vom Sonderweg, von der schicksalhaften Anfälligkeit der Deutschen für die Barbarei und von einem unausweichlichen Weg vom Kaiserreich zum Nationalsozialismus wenig stimmig ist und in der Geschichtswissenschaft kaum noch vertreten wird, vermindert ihre Wirkmacht in Politik und Medien bislang nur unwesentlich. Denn die politisch und medial tonangebenden Generationen sind mit diesem Deutschland- und Weltbild groß geworden und haben es mit der Raison d'Etre der Bundesrepublik verkettet. Allein die Sonderweg-Erzählung schütze vor einer Relativierung des Holocausts, so der Kurzschluss, und bewahre daher vor einem Rückfall in den Faschismus."

Jürg Altwegg versucht in der FAZ, die Wirrnisse in der Diskussion um den Begriff des "Islamo-gauchisme" aufzuklären. Erfinder des Begriffs ist der Antisemitismusforscher Pierre-André Taguieff, der ihn etwa zur Zeit der UN-"Weltkonferenz gegen Rassismus" in Durban Anfang des Jahrtausends prägte, wo sich Linke und Islamisten gegen Israel zusammenfanden: "Taguieff definiert den 'Islamo-Gauchismus' als antikapitalistisch, antikolonialistisch und antizionistisch. Der Antisemitismus, den die extreme Rechte und die katholische Kirche verkörperten, wurde zum Merkmal der Linksradikalen und der Islamisten. Sie halten Taguieff 'Islamophobie' entgegen."
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Geschichte

In der NZZ erinnert der Historiker Rasim Marz an die griechische Revolution von 1821, um die bis heute währenden Fronten zwischen Griechenland und der Türkei zu erläutern: "Die griechische Revolution zielte (…) nicht nur auf die staatliche Obrigkeit: Auf dem Peloponnes wurden massenhaft Muslime und Juden massakriert, in anderen Teilen des Landes wurden sie verfolgt und vertrieben. In den ersten fünfzehn Tagen fielen landesweit 15.000 Menschen den Pogromen der aufständischen Griechen zum Opfer, 3.000 Landgüter wurden niedergebrannt. Die osmanische Zentralregierung reagierte gegenüber den griechischen Untertanen mit einer Welle des Terrors und bezichtigte sie des kollektiven Hochverrats. Damit befeuerte sie bei den Muslimen den religiösen Fanatismus und den Hass auf die Griechen. Landesweit kam es zur Verfolgung von Christen, Zehntausende fielen den Gewaltexzessen zum Opfer."

In Israel wird der Holocaustgedenktag begangen, indem im Land zwei Minuten lang die Sirenen heulen und das öffentliche Leben innehält. Meron Mendel von der Bildungsstätte Anne Frank fragt in der Jüdschen Allegemeinen, ob ein solches Gedenken auch in Deutschland sinnvoll wäre: "Im Zentrum der Auseinandersetzung mit der Geschichte sollte auch die Frage stehen, wie sich vor nicht einmal hundert Jahren eine moderne westliche Gesellschaft in kürzester Zeit in eine radikale Ausgrenzungsgesellschaft verwandeln konnte. Was in den zwanziger Jahren gefehlt hat, war ein radikales Bekenntnis aller aufrichtigen Bürger zur gesellschaftlichen Verantwortung. Wie kann ein solches Bekenntnis öffentlich sichtbar gemacht werden? Es kann jedenfalls nicht per Gesetz eingefordert werden, sondern muss auf Freiwilligkeit basieren."
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