9punkt - Die Debattenrundschau

Kommentierung der Fassade

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
15.06.2024. "Angekündigter Selbstmord einer Nation." Bernard-Henri Lévy bekennt auf Twitter seine Bestürzung über Macrons Auflösung der Nationalversammlung und den Pakt der gemäßigten Linken mit dem Populisten Jean-Luc Mélenchon. Eduard Louis hofft in Zeit online dagegen auf die Wiederholung der "Volksfront". Aber ist sie radikal genug? Unterdessen spielt sich im Sudan eine "gespenstische Tragödie" ab, über die der Spiegel berichtet. In der FAZ beschreibt der Historiker Stephan Malinowski erinnerungspolitische Konzepte à la Claudia Roth als "Angriff der Gegenwart auf die übrige Zeit".
Efeu - Die Kulturrundschau vom 15.06.2024 finden Sie hier

Europa

Emmanuel Macrons Auflösung der Nationalversammlung nach den Europawahlen hat das zerrüttete Parteiensystem des Landes in Aufruhr gebracht. Die bürgerliche Rechte ist immerhin zum großen Teil ehrenhaft genug, den Pakt mit dem Rassemblement national zu verweigern. Die gemäßigte Linke begibt sich unter die Fittiche des Antisemiten Jean-Luc Mélenchon, auch Raphaël Glucksmann, der Sohn des großen André Glucksmann. Bernard-Henri Lévy, oft Weggefährte Glucksmanns, bekennt in mehreren Tweets, etwa hier, sein Entsetzen: Ein "seltsamer Duft nach Niederlage" liege in der Luft: "Unerträgliches sich Abfinden mit der grässlichen Alternative #Mélenchon / #Bardella... Angekündigter Selbstmord einer Nation."

Le Monde-Redakteurin Solenn de Royer zitiert einige unglaublich klingende Sätze des Hasardeurs Macron. Dies sei der "Moment einer Klärung", soll er gesagt haben, und schlimmer, auf die Frage, ob die Zeiten nicht ein bisschen hart seien: "Aber überhaupt nicht. Ich bereite das seit Wochen vor und bin hingerissen. Ich habe ihnen eine entsicherte Granate zwischen die Beine geworfen. Nun wollen wir mal sehen, wie sie sich anstellen." De Royer schildert Macron als einen Bonapartisten und - wie De Gaulle, der wohl sein heimliches Vorbild ist - Verächter der Parteiendemokratie. "Macron ist zwar nicht für den Zerfall der politischen Landschaft verantwortlich, aber er hat ihn beschleunigt, indem er den Regierungsparteien immer mehr zusetzte und eine vernünftige Alternative unmöglich machte. Aber auch wenn er auf diesen Ruinen gedeihen konnte, hat er im Gegenzug nichts aufgebaut und ist nun inmitten der Trümmer gefangen." Macron sage: "Ich oder das Chaos". Er brüstete sich als letzte Bastion gegen den RN, und nun riskiert er, dass sie als stärkste Partei in die Nationlversammlung einzieht. "Die von ihm beschworene  Neuausrichtung der Kräfte findet zwar statt, aber nicht mit ihm im Zentrum. Statt dessen findet sich das Zentrum zwischen den beiden andern Blöcken eingezwängt und droht ausgelöscht zu werden."

Der Philosophieprofessor Christoph Schönberger analysiert es in der FAZ ganz ähnlich: "In jedem Fall wird mit dieser Parlamentswahl die Rolle Macrons als gestaltendes Zentrum der Politik Frankreichs zu Ende gehen." Er endet als lahme Ente: "Aus Angst vor dem eigenen Bedeutungsverlust zwingt er seinem Land ein letztes Mal das erschöpfte Stück vom Drachentöter auf, der die extreme Rechte bekämpft."

Ein Has been küsst einer Postfaschistin die Hand:

Den anderen deutschen Feuilletons fällt nichts weiter ein, als Mélenchon-Anhänger zur Kommentierung zu bitten, gestern Didier Eribon (unser Resümee), heute Edouard Louis in Zeit online, befragt von Lars Weisbrod. Er verteidigt wie zu erwarten die Wiederholung der "Volksfront" als Farce: "So eine Koalition haben Schriftsteller und Intellektuelle seit Jahren gefordert. Man hat uns dann gesagt: Das funktioniert nicht, es gibt zu viele Streitpunkte zwischen den linken Parteien, zwischen Mélenchon und den Sozialisten, zwischen den Kommunisten und der ökologischen Partei." Aber wird die Koalition linksradikal genug sein? "Am meisten Schmerz bereitet es mir, eine Koalition mit den Sozialisten einzugehen, die ja die neoliberale Hegemonie in Frankreich erst ermöglicht haben."

Die französische Marine ist aber noch ganz gut drauf:

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Ideen

Wer lernen will, es sich mit "dem linken Mainstream" zu verderben, sollte ein bisschen bei Albert Camus nachlesen, meint Christian Thomas in einem FR-Essay. Zu Zeiten Camus' war sich die westliche Linke einig, dass Stalin in der Sowjetunion ein Omelett macht, auch wenn er dafür Eier zerbricht. Und jetzt? "Die ursprüngliche Akkumulation des radikalen Kapitals einer revolutionären Linken, die Camus kennenlernte, dauert aktuell an. Demonstriert wird sie durch deren Zynismus, der sich etwas auf seine höhnende Verachtung freiheitlicher Werte einbildet, auf ein hinterhältiges Verständnis für Russland. In diesem Zusammenhang aufschlussreich, dass eine Frankreichintima wie Alice Schwarzer sich zur Kollaborateurin einer Sahra Wagenknecht macht, um der Ukraine gemeinsam die Kapitulation nahezulegen, mithin die Unterwerfung in einer durch Russland vollständig okkupierten Ukraine. Unter einer grotesken Trikolore Putins Nihilismus, Wagenknechts Nationalbolschewismus und Schwarzers Nabelschau."
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Kulturpolitik

Der Architekturtheoretiker Philipp Oswalt lässt nicht locker. Nicht nur hat er aufgedeckt, dass die Berliner Schlossattrappe mit Spenden von Rechtsextremen wiederaufgebaut wurde - nun gründete er auch zusammen mit Prominenten wie Jürgen Zimmerer oder Max Czollek, aber auch dem neuen Vizepräsidenten der Berliner Akademie der Künste Anh-Linh Ngo eine Initiative "Schlossaneignung" (Website) und lobt einen Wettbewerb aus, um der glatten neuen Fassade nachträgliche Narben zuzufügen. In der Architekturgalerie Aedes fand eine Diskussion zum Thema statt, über die Birgit Rieger im Tagesspiegel berichtet. Zugegen waren etwa die Bundestagsabgeordneten Thomas Hacker (Europa- und medienpolitischer Sprecher, FDP) und Awet Tesfaiesus (Obfrau im Ausschuss für Kultur und Medien, Bündnis 90/Die Grünen). "Beide Abgeordnete sprechen sich an diesem Abend für die Kommentierung der Fassade aus. Für sie als schwarze Frau sei das herrschaftliche Haus 'eine Wunde', und viele andere mit familiären Wurzeln in ehemaligen Kolonien setzten erst gar keinen Fuß in das Gebäude, sagt Tesfaiesus. Eingefleischte Schlossfassade-Befürworter, die an diesem Abend eine Gegenrede hätten stellen können, etwa aus der Stiftung Humboldt Forum oder Politiker anderer Fraktionen, seien zwar eingeladen gewesen, aber nicht gekommen, so Oswalt."
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Geschichte

Eher sarkastisch nimmt der Historiker Stephan Malinowski - Kritiker der Hohenzollern und des Postkolonialismus - in der FAZ Claudia Roths Papier für eine neue Erinnerungspolitik auseinander und beschreibt sie vor allem als "Symptom einer generellen Tendenz zum Angriff der Gegenwart auf die übrige Zeit". Er zweifelt allerdings, "ob die Herausbildung eines kritischen historischen Bewusstseins durch die willkürlich wirkende Rückprojektion gegenwärtiger Fragen und ihre Kompression in eine Gedenk-Installation befördert würde, in der die Stasi, das Hambacher Fest, die Mordserien rechtsradikaler Gruppen und Einzeltäter, die Leistungen der Millionen von Einwanderern, die ihnen entgegenschlagende Feindschaft, der Maji-Maji-Krieg und Auschwitz nebeneinanderstünden... Welche Art von Baldachin eine Säulenreihe dieser Art tragen soll, ist nicht zu erkennen."
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Gesellschaft

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Der Soziologe Steffen Mau tourt mit seinem neuen Buch "Ungleich vereint - warum der Osten anders bleibt" nun wohl durch alle Medien. Die Frage ist, warum die Ossi-Identität, deren Verschwinden man prognostiziert hatte, im Gegenteil immer heftiger hervorgekehrt wird. Im Gespräch mit Till Schmidt sagt er sogar eine weitere Vertiefung voraus: "Es ist wahrscheinlich, dass sich das Parteiensystem in Zukunft stärker entlang der Ost-West-Achse spaltet. Die Grünen und die FDP könnten sich mit aktuell sehr niedrigen Umfragewerten tendenziell zu Westparteien entwickeln. Umgekehrt dürfte die Linkspartei in den westlichen Bundesländern kaum mehr eine Rolle spielen. Das Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) hingegen wird nach bisherigem Stand wohl nur in Landtage in Ostdeutschland sicher einziehen, wo die AfD wiederum fast doppelt so großen Zuspruch erhält wie im Westen." Mau hofft auf die Einführung von Bürgerräten, um die Idee einer aktiven Partizipation in den Osten zu bringen.

Buch in der Debatte

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Der Politologe Marcel Lewandowsky stellt sich ganz ähnliche Fragen, aber auf die gesamte Gesellschaft bezogen. In seinem Buch "Was Populisten wollen" versucht er den Rechtsruck zu erklären. Er wird ebenfalls in der taz von Dominik Lippe interviewt. Rechtspopulisten behaupten, die "wahre" Demokratie zu bringen, erläutert er. Dabei sieht er kein Kontinuum vom Rechtspopulismus zum Rechtsextremismus: "Parteien wie die AfD bilden sowohl für Menschen mit rechtspopulistischen als auch für welche mit rechtsextremistischen Einstellungen eine Plattform. Das eine ist aber nicht einfach das Extremere des anderen. Beide wählen die AfD, aber das sind unterschiedliche Gruppen. Eine Person, die will, dass der wahre Volkswille umgesetzt wird, muss nicht antidemokratisch eingestellt sein. Aber diejenigen, die den starken Führer wollen, haben eine antidemokratische Einstellung. Den Rechtspopulisten gelingt es bislang, beiden Ansichten Platz zu bieten. Auf der Wählerebene funktioniert es, auf der Parteiebene führt es zu Konflikten zwischen den populistischen und den faschistischen Vertretern." Übrigens empfiehlt Lewandowsky wie Mau: "Auch über lokale Bürgerräte sollte man nachdenken. Sie erhöhen nachweislich die Zufriedenheit mit der Demokratie."

Der Osten ist eindeutig vom Westen kolonisiert worden, meint Filmemacherin Grit Lemke im Gespräch mit Anja Reich von der Berliner Zeitung. "Die strukturelle Ungleichheit innerhalb eines Staates wie bei uns nennt man in der Wissenschaft internen Kolonialismus. Darüber gibt es Bücher, und ich habe mich ein bisschen damit beschäftigt, weil es mich wirklich interessiert. Wie Irland, Schottland und Wales von England behandelt wurden zum Beispiel - und das ja auch, ohne dass jemand abgeschlachtet wurde. Kolonialismus sagt etwas über ein asymmetrisches Verhältnis aus, darüber, wie die eine Seite mit der anderen umgeht. Die Annahme der Überlegenheit einer Seite, weil ihre Sprache, ihre Kultur, ihre Herkunft als wertvoller angesehen wird. Das ist genau das, was hier im Osten auch passiert ist." Ob die Kolonisierung Irlands Menschenleben gekostet hat, sollte sie in Irland vielleicht nochmal nachfragen.
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Politik

Heiner Hoffmann berichtet für den Spiegel über die "Tragödie gespenstischen Ausmaßes" im Sudan, die von der Öffentlichkeit dennoch eher ignoriert wird. Er hat unter anderem mit der EU-Sonderbeauftragten für die Region, Annette Weber, gesprochen und schildert die Lage so: "Längst hat der sudanesische Bürgerkrieg eine internationale Dimension erreicht. Zahlreiche weitere Länder mischen mit: Ägypten, Saudi-Arabien und Iran unterstützen die sudanesischen Streitkräfte, die Vereinigten Arabischen Emirate unterstützen die RSF, auch Moskau hat Waffen an die Paramilitärs geliefert. 'Das ist ein gefährliches Szenario, wir könnten die komplette Region an Russland verlieren, dann hätte der Kreml einen riesigen Einflussgürtel in der gesamten Sahelzone', fürchtet Annette Weber. Der Krieg ist also auch ein geopolitischer Super-GAU, und eine friedliche Lösung ist nicht in Sicht."
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Stichwörter: Sudan