9punkt - Die Debattenrundschau - Archiv

Geschichte

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9punkt - Die Debattenrundschau vom 16.02.2024 - Geschichte

"Der Umgang der NS-Behörden mit Schwarzen war insgesamt widersprüchlich", sagt die Historikerin Susann Lewerenz im taz-Gespräch: "Klar ist aber, dass es früh rassistische Ausgrenzung sowie individuelle Verfolgung durch Polizei und politische Gruppierungen gab. Ein Einschnitt war die Ermordung des Schwarzen Kommunisten Hilarius Gilges 1933 wohl durch SS und SA in Düsseldorf. Überhaupt wurden Schwarze Linke, die sich in den 1920er-Jahren im Zuge der Antikolonialismus-Bewegung zusammengefunden hatten, gleich nach der Machtübergabe an Hitler 1933 massiv verfolgt." Aber: "1934 gab es eine Diskussion zwischen dem Auswärtigen Amt und dem Reichsinnenministerium darüber, ob man Menschen aus den ehemaligen Kolonien aus der Diffamierung ausnehmen könnte. Das hatte nichts mit Menschenfreundlichkeit zu tun, sondern man glaubte die an Frankreich und Großbritannien verlorenen Kolonien auf diplomatischem Wege zurückbekommen zu können. Daher sollten die Siegermächte des Ersten Weltkriegs, die den Deutschen ohnehin ihre Grausamkeit in den Kolonien vorwarfen, nicht sagen können, dass Schwarze Menschen aus den Kolonien auch hierzulande diskriminiert würden."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 08.02.2024 - Geschichte

In georgischen Tbilissi wurde die Ikone der heiligen Matrona von Moskau, von der Stalin 1941 den Segen zum Sieg über Deutschland erhalten haben soll, mit Farbe besprüht, was auch in Russland für Empörung sorgte, berichtet Konstantin Akinsha in der NZZ. An der Figur, die die russisch-orthodoxen Kirche erst 1993 heiliggesprochen hat, lässt sich das Verhältnis von der Kirche zu Stalin ablesen, meint Akinsha: "Der Kult um die heilige Matrona ist von zentraler Bedeutung, da er zur Verschmelzung zweier Ideologien beiträgt - des orthodoxen Christentums und des militaristischen Kults von Putin um den großen Sieg im 'Vaterländischen' Krieg. Auch heute braucht Russland verzweifelt ein Wunder, um den Sieg über die sogenannten ukrainischen Faschisten zu erringen. Um dieses Ziel zu erreichen, scheinen Putin und Patriarch Kirill bereit zu sein, in ihren Gebeten den heiligen Stalin anzurufen."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 03.02.2024 - Geschichte

Gerade gegen Ende entfaltete der europäische Kolonialismus noch äußerste Gewalt, schreibt der Afrikanist Andreas Eckert in der virtuellen FAZ-Beilage "Bilder und Zeiten" und erinnert etwa an das Wüten der Briten zur Zeit des Mau-Mau-Aufstands mit 20.000 Toten. Und doch lässt sich für Eckert Kolonialismus nicht auf ein einseitiges Gewaltgeschehen reduzieren, denn "der koloniale Staat stand auf dünnem Eis. Er brauchte die Legitimität und die Erzwingungsmacht einheimischer Autoritäten, um Steuern einzutreiben und Arbeitskräfte zu mobilisieren. Und er brauchte lokales Wissen. Diese Konstellation ließ Zwischenräume entstehen, in denen sich diverse einheimische Gruppen Möglichkeiten schufen, ihre Interessen in und mit dem Kolonialismus durchzusetzen. Dies galt etwa für jene Einheimischen, die in der kolonialen Verwaltung tätig waren."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 02.02.2024 - Geschichte

Die Ukraine "erlebt gerade ihre zweite Wiedergeburt" als Nationalstaat, schreibt Ulrich M. Schmid in der NZZ und gibt einen historischen Überblick über drei verschiedene Nationalstaatsmodelle, das deutsche, französische und italienische, die die Ukraine im Laufe ihrer Geschichte durchlief: "In Galizien gab es bereits 2013 eine überwältigende Mehrheit, die sich zur ukrainischen Nation bekannt hat. Im Zeitraum zwischen 2013 und 2015 stieg auch die Zahl der Befragten, die sich in der Zentral- und Ostukraine als 'Ukrainer' bezeichneten, deutlich an. Der Grund dafür liegt in der patriotischen Reaktion auf die doppelte russische Aggression in der Krim und in der Ostukraine im Jahr 2014. Der offene Überfall auf die Ukraine am 24. Februar 2022 hat das ukrainische Nationalprojekt auch in der Ostukraine weiter gestärkt. In diesem Sinne ist Putin der wichtigste Geburtshelfer einer ukrainischen Nationsbildung, die mit einem 'deutschen' Sammeln der Länder begann, sich in einer 'französischen' kulturellen Homogenisierung fortsetzte und in einer 'italienischen' Ost- und Südexpansion abgeschlossen wurde."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 31.01.2024 - Geschichte

Der 27. Januar war Holocaust-Gedenktag. Aber kann man ihn begehen, ohne den 7. Oktober zu erwähnen? Nein, meint Josef Schuster, Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, in der Jüdischen Allgemeinen: "Der 7. Oktober hat auch in der Frage der Erinnerung und des Gedenkens an die Schoa eine Entwicklung katalysiert. Was bedeutet es 79 Jahre nach der Befreiung von Auschwitz, wenn junge Linke angesichts der Solidarisierung der deutschen Politik mit Israel 'Free Palestine from German Guilt' skandieren? Wenn an der Universität der Künste in Berlin Lynchmorde an Juden verherrlicht werden?" Auch Saba-Nur Cheema und Meron Mendel fragen in ihrer FAZ-Multikulti-Kolumne, wie man künftig des Holocaust gedenken soll - allerdings ohne auf den 7. Oktober zu sprechen zu kommen.

9punkt - Die Debattenrundschau vom 25.01.2024 - Geschichte

Auf vielen Demonstrationen ist jetzt das Schild "AfD wählen ist so 1933" zu lesen, schreibt Moritz Eichhorn in der Berliner Zeitung. Dies sei historisch falsch: "Wer sich die historischen Parallelen genau anschaut, kommt zu einer anderen Zeitrechnung als diese Demonstranten. Wir haben nicht so sehr 1933. Wir haben viel eher 1923. Nach dem Putschversuch der NSDAP am 9. November 1923 wurde die Partei im gesamten Deutschen Reich verboten, zuvor war das schon in Preußen, Hamburg, Baden und anderen Ländern geschehen. Adolf Hitler kam ins Gefängnis, das Parteivermögen wurde gepfändet, die Parteizentrale geschlossen, die Zeitung der Nazis - Stichwort Social Media - verboten." Das tat dem Erfolg der NSDAP keinen Abbruch und ein Verbot der AfD wird diese auch nicht stoppen, so Eichhorn. "Der Schlüssel zur Abwehr der AfD ist die Union. Sie zieht nicht nur die Brandmauer. Sie ist die Brandmauer."
Stichwörter: AfD

9punkt - Die Debattenrundschau vom 24.01.2024 - Geschichte

Auf geschichtedergegenwart.ch skizziert die Historikerin Julia Hauser die Verflechtungsgeschichte des Vegetarismus zwischen Europa, den USA und Indien mit besonderem Blick auf die rechte Schlagseite der Bewegung. So postulierten etwa Vertreter nationalistischer Strömungen in Indien, dass nur eine vegetarische Ernährung "die Einwohner des Subkontinents für den Kampf gegen die Kolonialmacht stärken könne. Für diese Strömung des Hindu-Nationalismus wurde die Kuh, im Hinduismus ein heiliges Tier, zentral. Vielerorts entstanden Kuhschutzgesellschaften, die nicht nur das Leben von Kühen schützen wollten, sondern auch gegen ihre angeblichen Feinde vorgingen - auch unter Einsatz von Gewalt, der Menschen das Leben kostete. Die Aggressionen richteten sich sowohl gegen indische Muslime als auch gegen Briten, die als Rindfleischkonsumenten wahrgenommen wurden, die Gewalt jedoch vor allem gegen erstere. Mehr und mehr wurden Muslime als Fremde, als zur entstehenden Hindu-Nation nicht Zugehörige stigmatisiert, während die Angehörigen der Hindu-Nation auf die vermeintlichen 'Aryas' zurückgeführt wurden, die zeitgleich auch in Europa - als 'Arier' - Indologen und Rassentheoretiker beschäftigten. Zeitgenössische Drucke, die zur Agitation genutzt wurden, stellten Muslime als entfesselte Mischwesen zwischen Mensch und Tier dar, die das Leben der heiligen Kuh bedrohten."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 23.01.2024 - Geschichte

Noch vor der Gründung Israels kolonisierten zionistische Juden das Land, indem sie es Arabern abkauften, erzählt Dan Diner in der FAZ. Aber schon früh habe "der Schatten der jüdischen Landnahme und der Vertreibung der Palästinenser auf Israel" gelegen. Natürlich kam es zu Gewalt und zu heute absurd anmutenden Konstellationen: "Während des israelischen Gründungskrieges 1948 vertrieben linksgerichtete israelische (Para-)Militärs Einwohner arabischer Dörfer und Ortschaften. An den Kühlern der sie zur Tat befördernden Fahrzeugen prangten die Konterfeis Stalins und Titos. Dieses Ereignisbild führt in die Endphase des Zweiten Weltkrieges zurück, als unter kommunistischem Vorzeichen in Ostmittel- und Südosteuropa Vertreibungen und ethnische Säuberungen exekutiert wurden, um in rotes Tuch gehüllte homogene Nationalstaaten zu etablieren. Mit solchen Analogien und Affinitäten armiert ließ sich Derartiges im Übergang vom britischen Mandat zum Staate Israel offenbar leichter begründen."

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Auch bei den gegenwärtigen Protesten gegen Rechts liegt der Vergleich zur Weimarer Republik nahe, aber es gibt einen entscheidenden Unterschied, notiert der Historiker Karl-Heinz Göttert, aktuelles Buch "Massen in Bewegung", in der Welt. Damals waren es Kampfbünde, die auf die Straße gingen, heute ist es die Zivilgesellschaft: "Schon die beiden Revolutionen in der ehemaligen DDR, am 17. Juni 1953 und am 9. November 1989, verdankten sich keinen Bünden, sondern spontanen Aktionen der Bürger. Der erste Protest wurde militärisch erstickt, der zweite war mit knapper Not erfolgreich. Auch die Geschichte der Bundesrepublik kennt Protestaktionen von großer Härte, von Polizeiversagen und unverantwortlicher Gewalt der Protestierenden. Man muss nur an die Zeiten des SDS erinnern, dessen Aktionen auf beiden Seiten eskalierten. Auch die Regierenden verloren gelegentlich die Contenance, wenn Helmut Schmidt etwa über die Demonstranten gegen den Nato-Doppelbeschluss herzog ... Proteste gegen Flugzeuglandebahnen oder AKW-Werke, gegen Braunkohleabbau oder die Preisgabe der Klimaziele, gegen den Krieg in der Ukraine oder gegen das Vorgehen Israels in Palästina verliefen alles andere als harmonisch."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 22.01.2024 - Geschichte

Die heutige Ukraine war zumindest in Teilen auch in die Rzeczpospolita einbezogen, erinnert der polnische Publizist Adam Krzemiński auf der "Ereignisse-und-Gestalten"-Seite der FAZ - und gerade aus diesem Umstand lässt sich auch eine frühe Differenz der Ukraine zum imperialistischen Russland ablesen: "Die Rzeczpospolita war eine regionale Macht, verteidigungsfähig, aber mit ihrer föderativen Struktur eher in sich ruhend als imperial. Und - anders als Moskau - war sie in die kommunizierenden Röhren der geistigen Strömungen in Europa fest eingebunden. Durch Reformation und Gegenreformation erlebte in der Rzeczpospolita auch die Orthodoxie einen Modernisierungsschub."

In der FR erinnert Arno Widmann an den ersten Labour-Premier Großbritanniens James Ramsay MacDonald, der vor hundert Jahren die Regierungsgeschäfte übernahm. "James Ramsay MacDonald war sich ganz sicher, dass der Staat den unterdrückten Klassen eine Möglichkeit bot, ihre Lage zu verbessern. Sie mussten sich politisch organisieren und dabei vorgehen 'klug wie die Schlangen und arglos wie die Tauben'. MacDonald war fest entschlossen, Labour auch an den Wahlurnen stärker zu machen als die Liberalen es waren. Das ging nur, wenn man die parlamentarische Arbeit, wenn man die Parlamente ernst nahm. Das hieß auch: Parlamentsreform. Die Suffragetten kämpften für das Frauenwahlrecht. Vielen Sozialisten erschien das als ein Trick des Bürgertums, abzulenken von der sozialen Frage. MacDonald sah das anders. Natürlich musste ein wirklicher Sozialist, fand er, sich an die Seite der Frauen stellen."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 20.01.2024 - Geschichte

Israels Kriegsführung zu kritisieren, ist natürlich legitim, sagt der ehemalige Times-Chefredakteur und Leiter der Wiener Holocaust Library Daniel Finkelstein im Gespräch mit Jens Uthoff von der taz: "Oft aber haben Menschen mit diesen Ansichten eine Obsession mit Israel und mit keinem anderen Staat der Welt. Noch bevor Israel überhaupt auf den barbarischen Terror reagiert hat, begannen die Menschen bereits zu demonstrieren. Das ist blanker Antisemitismus." Finkelsteins Familie wurde teils von den Nazis, teils von den Stalinisten verfolgt, und er findet dafür eine schöne Formel. "Man könnte sagen: Die Nazis haben alle Juden verhaftet, von denen einige Ladenbesitzer waren; die Sowjets haben alle Ladenbesitzer verhaftet, von denen einige Juden waren. Viele Leute fragen, wer schlimmer war, Hitler oder Stalin? Meine Mutter hat immer gesagt: Das ist kein Wettbewerb. Sie lehnte den Versuch ab, herauszufinden, wer abscheulicher war. Viele Verbrechen, die die Nazis begangen haben, wurden auch von den Sowjets begangen. Aber die von den Nazis errichtete Todesfabrik ist etwas Einzigartiges."

Bei allen Hoffnungen, die sich mit der Figur Lenins (hundert Jahre tot und immer noch im Mausoleum) verbunden hatten und die in der 68er-Zeit noch mal aufflammten - für FR-Autor Arno Widmann ist klar: "Der Sieg war zu teuer erkauft. Jede Opposition war ausgelöscht worden. Rechts wie links. Es gab nur noch eine Partei: die Bolschewiki. Das war nicht die Tat Stalins. Das war das Werk Lenins. 'Lenin', so betitelte Stephane Courtois 2017 sein Lenin-Buch, war 'der Erfinder des Totalitarismus'. Ich glaube, das trifft den Kern der Sache."