9punkt - Die Debattenrundschau - Archiv

Geschichte

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9punkt - Die Debattenrundschau vom 06.04.2024 - Geschichte

Bülent Mumay hatte in seiner FAZ-Kolumne diese Woche darauf hingewiesen, dass Erdogans Handelsbeziehungen zu Israel die Wahlniederlage mitverursacht haben könnten (Unser Resümee). Dabei hassen Erdogan und Netanyahu einander, meint der Historiker Rasim Marz, der heute in der NZZ unter anderem erläutert, wie sich erst unter dem 1909 gestürzten islamischen Herrscher Abdülhamid II. der Antisemitismus in der Türkei manifestierte: "Abdülhamid II. wird bis heute in islamistischen wie nationalistischen Kreisen in der Türkei und der arabischen Welt als ein Vorkämpfer gegen den Zionismus gesehen, der einer jüdischen Verschwörung zum Opfer fiel. Wie die Historiker Bernard Lewis, Feroz Ahmad und Elie Kedourie darlegen, waren es vorrangig britische Diplomaten, die rund um den Fall Sultan Abdülhamid II. nach 1909 antisemitische Verschwörungstheorien in islamisch-konservativen Kreisen streuten. Im Zentrum stand der Botschafter Sir Gerard Lowther. Er betrachtete Abdülhamids Absetzung als jüdisch-zionistische Verschwörung, die vom jüdisch geprägten Saloniki aus vorbereitet und gesteuert wurde. Das jungtürkische Komitee für Einheit und Fortschritt und sein innerer Zirkel, dem auch Juden angehörten, operierten von Saloniki aus. Staatsbeamte, Offiziere und untere Ränge der Armee waren Mitglied dieser Geheimorganisation, die sich gegen das absolutistische Regime des Sultans wendete. Lowther sah Verbindungen zwischen den Jungtürken und Herzls Zionistenbewegung, wo es keine gab."

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Kürzlich hatte die Historikerin Katja Hoyer in der Berliner Zeitung behauptet, sie hätte ihr Buch "Diesseits der Mauer" nur in Großbritannien schreiben können, in Deutschland hätte man vermutlich Druck auf sie ausgeübt (Unser Resümee). Dem widerspricht der Historiker Rainer Eckert, bis 2017  Leiter des Zeitgeschichtliches Forums in Leipzig, heute ebenda: "Dass Historiker Deutschland verlassen haben, um ungezwungen forschen und publizieren zu können, ist höchstens vereinzelt der Fall und äußerst ungewöhnlich. Etwas anderes sind die Wissenschaftler, die als Folge der Neustrukturierung von Forschung und Wissenschaft nach Friedlicher Revolution und Wiedervereinigung ihre Anstellung an Universitäten und Forschungseinrichtungen in Ostdeutschland verloren. In der Regel waren sie Mitglieder der Staatspartei SED gewesen oder hatten für die Staatssicherheit gearbeitet. Fast alle der dadurch frei werdenden Stellen besetzten Westdeutsche und daran hat sich bis heute wenig geändert."

Zur von Hoyer aufgestellten Behauptung, man könne in Deutschland nicht vorurteilsfrei zur DDR forschen, will Dirk Oschmann, Autor von "Der Osten: Eine westdeutsche Erfindung", nichts sagen, wie er ebenfalls in der Berliner Zeitung schreibt. Wohl aber sei die Beschäftigung mit DDR-Literatur in Deutschland ein "Karrierekiller", meint er: Das "zeigt sich daran, dass in Deutschland bis heute im Fach Neuere deutsche Literatur fast niemand auf eine Professur kommen konnte, der oder die Forschung zur DDR-Literatur betreibt, wozu übrigens der sich an Christa Wolf entzündende Literaturstreit Anfang der 90er Jahre das Seine beigetragen hat. Sich mit DDR in irgendeiner Weise zu beschäftigen, scheint ein Karrierekiller zu sein. Das wird mir übrigens von Kollegen und Kolleginnen aus anderen Fächern wie der Geschichte und der Soziologie ebenfalls berichtet."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 04.04.2024 - Geschichte

Vor dreißig Jahren begann der Genozid in Ruanda. Andrea Böhm erinnert in der Zeit an das "Totalversagen der internationalen Gemeinschaft", die aufgrund von Fehleinschätzungen oder Feigheit nicht einschritt. Während allerdings Länder wie Frankreich und die USA ihre verhängnisvolle Rolle aufgearbeitet haben, hat Deutschland das bisher versäumt, so Böhm. Nicht nur, dass die Vorstellung der Überlegenheit bestimmter "Rassen" maßgeblich durch die deutschen Kolonialherren eingeführt wurde, wie Böhm anmerkt. Auch während des Konflikts agierte Deutschland verantwortungslos - beziehungsweise gar nicht: "Nicht dass damals irgendjemand eine federführende politische Intervention des gerade wiedervereinigten Deutschland erwartet oder gefordert hätte. Aber die Vehemenz, mit der alle Warnzeichen verdrängt oder ignoriert wurden, überrascht dann doch. Die Hasspropaganda ruandischer Medien gegen 'Tutsi-Kakerlaken' wurde in den Berichten der deutschen Botschaft entweder nicht erwähnt oder heruntergespielt. Der damalige Botschafter Dieter Hölscher meldete vielmehr eine 'zunehmend belebte Presselandschaft' an das Auswärtige Amt. Das wiederum weigerte sich noch im Sommer 1993, eine 'staatliche Verfolgung bestimmter Personengruppen' zu bestätigen. Da lagen längst Berichte über systematische Vergewaltigungen von Tutsi-Frauen durch Hutu-Soldaten und Erschießungen von Tutsi vor. Entwicklungshelfer hatten gewarnt, Bundeswehroffiziere über Struktur, Stützpunkte und Pläne der Hutu-Miliz der Interahamwe berichtet."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 30.03.2024 - Geschichte

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Katja Hoyer hat letztes Jahr mit ihrem Buch "Diesseits der Mauer" eine große Debatte ausgelöst. Manche Milieus im westlichen Ausland hatten schon in der Mauerzeit die These gern gehört, dass die DDR das "bessere Deutschland" sei. Hoyer stieß mit ihrer Verteidigung der gar nicht so schlechten Lebenswelt der DDR zuerst in Großbritannien, dann auch hierzulande auf große Begeisterung, nur in der Kritik nicht. Das schmerzt sie immer noch, wie sie im Gespräch mit Wiebke Hollersen und Anja Reich von der Berliner Zeitung darlegt. Für sie gibt es sogar so etwas wie eine "Cancel Culture": "Ich habe mehrere Kollegen kennengelernt, Deutsche, die zur DDR forschen, aber dafür bewusst nach England oder in die USA gegangen sind. Ihnen wurde an Universitäten in Deutschland geraten, dass sie in einem weniger politisch aufgeladenen Umfeld freier arbeiten können. Da hängen keine Erwartungen an den Forschungsmöglichkeiten. "

9punkt - Die Debattenrundschau vom 21.03.2024 - Geschichte

Berliner Topographie des Terrors zeigt eine Ausstellung zu Gewalt in der Weimarer Republik, die Klaus Hillenbrand für die taz bespricht: "Der Hamburger Aufstand von 1923, die Ruhrkämpfe im März 1920, der Aufstand in Mitteldeutschland - zweifellos setzte auch die kommunistische Linke auf Gewalt, wenn es ihr nützlich erschien. Da wurden nicht nur Fabrikanten-Villen niedergebrannt, sondern auch Menschen umgebracht. Die Ausstellung macht freilich deutlich, dass es die Rechtsradikalen waren, die bei ihren Versuchen, die Republik zu liquidieren, eine viel breitere Blutspur durch das Land zogen - mit den Mordattentaten wie gegen Karl Gareis, Matthias Erzberger, Philipp Scheidemann und Walter Rathenau, mit Fememorden und Putschversuchen."

Für Andreas Kilb in der FAZ war das Verhängnis universeller: "Der Hass auf den jungen Staat, der sich den Reparationsforderungen der Alliierten hatte beugen müssen und zugleich die militärischen Kräfte der Reaktion zur Selbstverteidigung einsetzte, war allgemein. Nur die Zersplitterung der Rechten, die sich nicht auf eine Besetzung für die Rolle des Diktators einigen konnte, und die Revolutionsmüdigkeit der Arbeiterschaft verhinderten den frühen Untergang der ersten deutschen Demokratie."

Politik besteht nicht nur aus Argumenten und Deklarationen, man muss auch Gefühl zeigen, meint der Historiker Gerd Krumeich im Interview mit Spon: "Kanzler Olaf Scholz  macht aus dem Regieren eine Technik, eine rein vernunftgetriebene, seelenlose Bürokratie. Es fehlt an Charisma ebenso wie an der großen gemeinsamen Idee. Das ist gefährlich, wie man in der Geschichte sehen kann." Dann springt nämlich jemand in diese Lücke, warnt Krumeich mit Blick auf die AfD: "Historisch gibt es nur rechte Bewegungen, die dieses Instrumentarium beherrschen. Warum? Weil sie selbst aus Wut und Hass geboren sind, ohne diese gar keine Existenzgrundlage besitzen. Bleibt die Frage, inwieweit sich diese negativen Gefühle mit einer neuen Weltsicht und politischen Doktrin verbinden lassen. Mit einer genauen Idee, wie das vermeintliche Übel abgeworfen und besiegt werden könnte. Hat die AfD das? Die Nazis hatten das - leider."

Blaster Al Ackerman, Meine Unterhose zur Kunst machen, 1978. Aus der Ausstellung "Revolutionary Romances?" im Dresdner Albertinum


Schade, dass das Haus der Kulturen der Welt in seiner Ausstellung "Echos der Bruderländer" den Begriff der Solidarität "als religiöser Glaubenskern einer ansonsten säkularen Völkergemeinschaft" in der DDR nicht mal gründlich auseinandergenommen hat, meint Peter Richter in der SZ: "Gerade unter marxistischem Blickwinkel wären hier Details zu Außenhandelsverträgen, Rohstoffen und Waffenlieferungen vielsagend, um die Idealisierung von Solidargemeinschaften im Osten kritisch als Ausdruck ökonomischen Mangels zu dekonstruieren. Aber das Haus der Kulturen der Welt gibt sich neuerdings strikt antiintellektualistisch und badet lieber selbst in der warmen Brühe der Begriffe. 'Was ist der Preis der Erinnerung, und wie hoch sind die Kosten der Amnesie?', ruft der neue Intendant Bonaventure Soh Bejeng Ndikung wie ein von sich selbst berauschter Fernsehprediger wieder und wieder in seinen eigenen Katalogtext hinein." Viel interessanter findet Richter die Ausstellung "Revolutionary Romances?" im Dresdner Albertinum, "wo zum Teil ähnliche Arbeiten gezeigt werden, zum Teil auch von den gleichen Leuten, und wo noch deutlicher wird, wie sehr unter den Bedingungen des Staatssozialismus die Beschwörung der 'Solidarität' offensichtlich das ist, was woanders 'heiliger Geist' heißt. Die entsprechenden Wandbilder ähneln der Kunstgestaltung in Nachkriegskirchen nicht zufällig auffallend."

Außerdem: Tomasz Kurianowicz besucht für die Berliner Zeitung im Pilecki-Institut in Berlin die "phantastische" Ausstellung "Doppelt frei": "Die Schau thematisiert den Freiheitskampf polnischer Frauen und ihren doppelten Kampf um die Unabhängigkeit Polens und um die Erringung des Frauenwahlrechts. Dabei muss gesagt und unterstrichen werden, dass Polen eines der ersten Nationen in Europa war, in dem Frauen wählen durften." In der FR erinnert Arno Widmann daran, dass heute vor 220 Jahren Napoleon der Welt seinen Code Civil vorstellte, das bürgerliche Gesetzbuch Frankreichs.

9punkt - Die Debattenrundschau vom 20.03.2024 - Geschichte

"War die DDR ein Apartheidsstaat", fragt sich Boris Pofalla (Welt) nach der Ausstellung "Echos der Bruderländer" im Berliner Haus der Kulturen der Welt, die sich mit dem Einwanderungsland DDR auseinandersetzt und das offenbar nahelegt. Gastarbeiter kamen vor allem ab 1978 aus außereuropäischen Ländern, bleiben sollten sie nicht. Und auch eine "zu enge und dauerhafte Verbrüderung der Sozialistinnen und Sozialisten untereinander" war nie vorgesehen. "Mit einer an den südafrikanischen Intimfeind der Linken gemahnenden Apartheid-Strategie hielt man die eigenen Leute von denen aus dem Rest der Welt separiert. Vertragsarbeiter lebten in eigenen Unterkünften in der Nähe ihrer Arbeitsstelle, Kontakte zu den Einheimischen waren genehmigungspflichtig. Wer sich als Vertragsarbeiter in eine Bürgerin der DDR verliebte und heiraten wollte, musste zurück, erzählen diejenigen, die es erlebt haben: nach einer Schwangerschaft oder der zweiten Abtreibung war Schluss. Von Einwanderung auf Dauer in die DDR konnte also keine Rede sein, schon gar nicht ungesteuert."

Russland verlangt von Deutschland, die Leningrad Blockade als Genozid anzuerkennen. Die Hungerpolitik der Nazis gegen die Sowjetbürger sei insgesamt genozidal gewesen, einen gezielten Völkermord an der Einwohnerschaft Leningrads gab es aber nicht, widerspricht der Osteuropahistoriker Robert Kindler im Gespräch mit der Berliner Zeitung. Stattdessen "knüpfe die Forderung an bestehende Erzählungen von den Russen als Hauptleidtragenden und Siegern im Großen Vaterländischen Krieg an. 'Die Leningrader Blockade ist dabei ein ganz zentraler Punkt im Mythos um den Krieg, denn sie steht wie kaum ein anderes Ereignis für Durchhaltewillen und schlussendlichen Triumph', sagt Kindler, 'zudem passt die Forderung gut in die Zeit, die von einer von der russischen Seite verschärften Agitation gegen Deutschland geprägt ist.'"

9punkt - Die Debattenrundschau vom 19.03.2024 - Geschichte

Der Historiker Jaromír Dittmann-Balcar erzählt im Gespräch mit Petra Schellen en détail, wie die Hamburger Juden spätestens seit der Reichspogromnacht von den Nazis systematisch ausgeplündert wurden. Dabei wurde ein bürokratischer Aufwand betrieben, der zugleich weite Teile der Bevölkerung als Mittäter einbezog, von Beamten der Finanzverwaltung bis zu Bankangestellten. "Teils versuchten jüdische Gewerbetreibende, 'arische' Kompagnons aufzunehmen oder das Geschäft formal auf einen Kompagnon zu übertragen. Das hat die Beraubung aber nur aufgeschoben." Gescheitert sei das "am dichten Verfolgungsnetzwerk aus Finanzbehörde, Gestapo und Preisüberwachungsstellen. Auch die Bankhäuser haben der Devisenstelle eilfertig mitgeteilt, welcher jüdische Kunde ein Devisenkonto hat. Da konnte man nichts verstecken." Kunstwerke durften emigrierende Juden übrigens generell nicht mitnehmen.

Die Europäer nehmen die Ukraine als randständig wahr und interessierten sich historisch gesehen nur für ihre Bodenschätze. Dabei hat Europa dort seinen Ursprung, resümiert Elisabeth Bauer in der FAZ Thesen Timothy Snyders, der in Berlin einen Vortrag zum Thema gehalten hat: "Die europäische Kulturgeschichte wurzelt wesentlich auf dem Gebiet der heutigen südöstlichen Ukraine am Schwarzen Meer, lautet die These des in Yale lehrenden Geschichtsforschers. Sie ist archäologisch belegt: In der Umgebung des Örtchens Nebeliwka, inmitten der ukrainischen Steppenlandschaft, legten Archäologen eine der ältesten bekannten Siedlungen der Menschheit frei. Die Denkmäler der Trypillia-Kulturen wurden im 5. bis 3. vorchristlichen Jahrtausend errichtet und sind damit älter als die ersten mesopotamischen Städte, die man lange als die größten, frühesten menschlichen Siedlungsformen ansah."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 11.03.2024 - Geschichte

Kerstin Schweighöfer berichtet in der FAZ über die Eröffnung des Holocaust-Museums in Amsterdam (die Gäste mussten sich den Weg durch ein Spalier propalästinensischer Demonstranten bahnen, die sich an der Anwesenheit des israelischen Staatspräsidenten störten): "Anders als viele andere Holocaustmuseen wurde das Amsterdamer Institut bewusst hell und lichtdurchflutet gestaltet. 'Die Farbe des Holocaust ist weiß', sagt (Mitbegründer Emile) Schrijver. 'Es war nicht dunkel, es geschah am helllichten Tag.' Auch in den Niederlanden schauten viele Menschen weg. Ein zweiter Unterschied zu ähnlichen Museen besteht darin, dass sich das Amsterdamer Institut an einem historischen Ort befindet. Es musste nichts inszeniert werden. Die Schouwburg war der Ort, an dem Denunzianten ihr Kopfgeld abholen konnten. Sieben Gulden fünfzig für jeden aufgespürten Juden."
Stichwörter: Holocaust-Museum, Amsterdam

9punkt - Die Debattenrundschau vom 09.03.2024 - Geschichte

Der Autor Matthias Jügler erzählt iin "Bilder und Zeiten" (FAZ) die alptraumhafte Geschichte der Karin S. aus Sachsen-Anhalt, die überzeugt ist, dass die DDR ihr ihr neugeborenes Baby weggenommen und für tot erklärt hat. Wahrscheinlich ist das Kind woanders unter anderem Namen aufgewachsen. Offenbar ist diese besondere Perfidie von den Behörden der DDR häufiger ausgeübt worden: "Vermutlich haben die allermeisten schon von Zwangsadoptionen in der DDR gehört: Damit aus Kindern von 'Staatsfeinden' systemtreue DDR-Bürger wurden, hat man sie zwangsadoptiert. Kinder aber für tot zu erklären, obwohl sie es nicht sind - dass es diese Praxis in der DDR gab, davon wissen vermutlich nur die wenigsten. Im Zuge meiner Recherchen habe ich viel mit Andreas Laake gesprochen. Er ist der Gründer der 'Interessengemeinschaft gestohlene Kinder der DDR'. Mehr als zweitausend Mütter, so sagt er, haben sich bei ihm in den letzten Jahren gemeldet, darunter auch Karin, und alle äußerten den begründeten Verdacht, dass ihr Kind in der DDR zwar für tot erklärt wurde, heute aber noch lebt."
Stichwörter: DDR, Zwangsadoptionen

9punkt - Die Debattenrundschau vom 04.03.2024 - Geschichte

Der Historiker Franz Walter versucht in der FAZ eine Ehrenrettung des Reichsbanners Schwarz-Rot-Gold, das vor hundert Jahren gegründet wurde und in dem sich die demokratischen Parteien der Weimarer Republik gegen die Milizen der Nazis und Kommunistien verteidigten: "Anfang der Dreißigerjahre hatten sich dem Bund bis zu zwei Millionen Mitglieder, vielleicht mehr, angeschlossen, wodurch er mehr Männer vereinte als alle antirepublikanischen Organisationen zusammengenommen." Das Reichsbanner setzte sich unter anderem durch Bildungsarbeit und Kampf gegen Antisemitismus von Rotfront und SA ab: "Die Gefahren des Nationalsozialismus unterschätzte das Reichsbanner nicht, auch wenn dergleichen Urteile bis heute kolportiert werden. Schließlich taten es sich die Mitglieder des Reichsbanners nicht aus Langeweile an, alle paar Tage Dienst in ihrem Verband zu schieben, Schulungsabende auf sich zu nehmen und bei Straßenkämpfen Prügel oder gar Schussverletzungen zu riskieren. Sie wussten schon genau, dass es um das Ganze ging."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 26.02.2024 - Geschichte

Lucien Scherrer erinnert in der NZZ an die Slansky-Prozesse in Prag 1952, die Teil der antisemitischen Kampagne im späten Stalinismus war. Einer der Angeklagten war Rudolf Margolius, der vor Gericht ein erfoltertes Geständnis ablegte, bevor er hingerichtet wurde, Scherrer trifft auch Margolius' 1947 geborenen Sohn Ivan Margolius, der heute in London lebt und auch heute noch um die Rehabilitierung seines Vaters kämpft. Bücher und Filme gibt es einige zum Thema, auch von Ivan Margolius selbst: "Dennoch werden die seelischen und die politischen Verheerungen, die der Prager Schauprozess angerichtet hat, bis heute unterschätzt. Das Schicksal der Familie Margolius zeigt, wie Diktaturen Menschen zerstören und wie linksextreme Ideologen Prinzipien wie Frieden, Antifaschismus und den Kampf gegen Nazis missbraucht haben, um politische Verbrechen zu legitimieren. Es offenbart auch die Ursprünge jenes 'antizionistischen' Hasses auf Juden und auf Israel, der sich derzeit an propalästinensischen Kundgebungen in Zürich, Berlin, New York und anderen Städten entlädt."

In der taz stellt Anna Lindemann den Niederländer Salo Muller vor, dessen Eltern 1942 erst mit Zügen der Niederländische Staatsbahn und dann der Reichsbahn nach Auschwitz deportiert wurden, wo sie ermordet wurden. Die Staatsbahn hat er schon dazu gebracht, den Opfern und Hinterbliebenen 50 Millionen Euro Entschädigung zu zahlen. Jetzt ist die Deutsche Bahn am Zuge. Aber die will nicht zahlen. Rechtlich ist sie dazu nicht verpflichtet, lernt Lindemann von dem Historiker Constantin Goschler. Dennoch sollte es "eine Debatte über Teilverantwortung geben. Das Unternehmen habe Tausende Menschen wissentlich in Viehwagen in den Tod transportiert und niemand habe versucht, das zu stoppen. Das sei der wichtige Punkt: 'Die Bahn hat eine Rolle im arbeitsteiligen Prozess der Massenermordung eingenommen. Und das muss sie genauso einsehen: Sie hat einen Beitrag zum Holocaust geleistet', so Goschler. Auch [Mullers Anwalt] Klingner fordert, dass die Bahn moralische Verantwortung für die 7.000 niederländischen Opfer und Hinterbliebenen übernimmt. Er sagt, das gehöre auch zur Prävention, zu einem 'Nie wieder'. Gerade in Zeiten, in denen die AfD in Parlamente gewählt wird und die Anzahl an antisemitischen Straftaten steigt. Deshalb versuche er öffentlich Druck aufzubauen, Verbündete in der Politik zu finden."