Außer Atem: Das Berlinale Blog

Berlinale 2. Tag

Von Ekkehard Knörer
07.02.2003. Mord, Mädchenhandel, kranke Alte - in Buddhadeb Dsasguptas Film "Die Geschichte eines ungezogenen Mädchens" (Panorama) geht alles gut aus. Michael Winterbottom folgt in seinem Wettbewerbsfilm "In this World" zwei jungen Pakistani, die nach England fliehen wollen. Außerdem: die Murnau-Retrospektive und Murnaus Film "Schloss Vogelöd".
Seltsam, aber harmlos: Buddhadeb Dasguptas Film "Manda Meyer Upakhyan" (Panorama)

Ein Mann im Kino, alleine, es laufen in Endlosschleife Ausschnitte aus Bollywood-Filmen, in denen Frauen ausgezogen oder vergewaltigt werden. Der Mann schläft, macht kurz die Augen auf, schläft wieder ein. Ein Junge und ein Mädchen fangen eine Katze, stecken sie in einen Sack, gehen hinaus in die weite, unbewohnte Landschaft, setzen sie aus. Drinnen und draußen, das ist die Differenz, die Buddhadeb Dasguptas Film "Manda Mayer Upakhyan" bestimmt, präziser: die Differenz von Gefangenschaft und zielloser Wanderung. Gefangen in einem Bordell ist die Mutter des Mädchens, sie will hinaus und benutzt dazu ihre Tochter, die sie an den Mann im Kino verkaufen will. Unterwegs ist dessen Fahrer, der an ein uraltes, wie es scheint halb totes Paar gerät und es ins nächste Krankenhaus kutschieren soll. Ein nächstes Krankenhaus jedoch gibt es nicht, nur weite Landschaft, in der Katzen ausgesetzt werden und Frauen als Anhalterin mitgenommen werden wollen.

Die düstere Geschichte um den Tochter-Deal, die den Kern der Handlung ausmacht, wird auf der breiten Leinwand aufgetragen, von vielen um diese Geschlossen/Offen-Differenz organisierten Nebenschichten garniert, und zwar so, dass von der Düsternis kein Rest zu bleiben scheint. Beinahe heiter und mit irritierender Lässigkeit verknüpft Dasgupta das eine mit dem anderen, scherzt noch, als ein Mord geschieht, mit dem Leben im Bordell und treibt all seine Konstellationen auf ihr absehbar glückliches Ende zu. Das alte Paar etwa steigt zuletzt, vom Chauffeur ins Leben zurück gepäppelt, aus dem Wagen, kein Dach über dem Kopf als die freie Natur und den mächtigen Baum im Hintergrund. Sie beginnen ein Würfelspiel.

So ziellos der Film zunächst scheint, er hat eine Richtung. Der Mond steht am Himmel, riesengroß und fern und auf allzu simpel-satte Weise das Ziel einer Sehnsucht verkörpernd. Der Lehrer, mit dem Lati am Ende davon gehen wird, berichtet vom bevorstehenden Ereignis: Erstmals betritt ein Mensch den Mond. Diese Ferne transzendiert noch einmal die offen-geschlossene, merkwürdig verwunschene, gewiss nicht nach einer sozialen Logik modellierte Topografie, die in sehr schönen, wenngleich eher luftig als streng komponierten Bildern ausgemalt wird. Weiteres Dingsymbol, mondverwandt, ist ein Globus, auf dem sich Lati ans andere Ende der Welt imaginiert, nach Deutschland vielleicht oder Frankreich. Fürs erste wird Kalkutta reichen müssen.

Es ist ein wirklich seltsamer Film. Wo etwa bei Abbas Kiarostami hinterm Schein der einfachen Geschichten höchst komplexe und nie eindeutig auflösbare Konstellationen liegen, gibt's hier nichts als diese Geschichten. Bei näherer Betrachtung lösen sie sich ins Pittoreske auf. Ihre stupende Harmlosigkeit findet nirgends einen Gegenhalt; noch die finsterste Figur, der mädchenkauflüsterne Babu, verharrt mit geradezu kindlich-philosophischer Neugier vor einem Baumstamm und beobachtet kleine Tierchen, die unter der Rinde verschwinden. O sancta simplicitas!

Ekkehard Knörer

"Manda Meyer Upakhyan - Die Geschichte eines ungezogenen Mädchens", von Buddhadeb Dasgupta. Mit Samata Das, Rituparna Sengupta, Arpan Basar, Ramgopal Bajaj u.a., Indien 2002, 90 Minuten.
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Mitfiebern und Mitleiden: Michael Winterbottom folgt in seinem Film "In this World" (Wettbewerb) zwei jungen Pakistani, die nach England fliehen wollen.

Glückwunsch zur Programmierung, Herr Kosslick. Stärker hätte der Kontrast zwischen dem außer Konkurrenz laufenden Eröffnungsfilm und dem ersten richtigen Beitrag zum Wettbewerb nicht ausfallen können. Wo "Chicago" (mehr hier) sich ohne alle Reue in Kunstwelten tummelt, hartschalig abschließt gegen alles, was mit der Realität außerhalb von Song-and-Dance zu tun haben könnte, unternimmt der britische Regisseur Michael Winterbottom mit seinem Film "In This World" das gerade Gegenteil. Sein Film erzählt die Geschichte einer Reise, die in Peshawar, an der pakistanischen Grenze zu Afghanistan, ihren Ausgang nimmt und die Cousins Enayat und Jamal (der, gerade mal sechzehn Jahre alt, nur mitkommt, weil er Englisch spricht) ins gelobte Land, genauer: nach London führen soll.

Dünn ist die Linie zwischen Realität und Fiktion. Die Reise, von der der Film berichtet, haben Winterbottom und sein kleines Team tatsächlich unternommen. Die beiden großartigen Hauptdarsteller wurden in Pakistan gecastet, viele der Szenen auf den Straßen von Peshawar, Teheran und Istanbul haben dokumentarischen Charakter. Dazu trägt die Digitalkamera bei, mit der man gedreht hat, in gelbstichigen, wackligen Bildern, die sich gelegentlich ins beinahe Unentzifferbare auflösen, in schwarz-weißes Gegrissel etwa beim Grenzübergang vom Iran in die Türkei. Ein Dokumentarfilm ist "In This World", der ersten Anmutung zum Trotz, jedoch mit aller Entschiedenheit nicht. Zweimal meldet sich aus dem Off ein Sprecher erläuternd zu Wort, danach spricht das Gezeigte für sich. Die Bilder aber, die Szenen, die Figuren werden in die Struktur des Road Movie eingefädelt, mit vorgegebenen Dialogen, Auslassungen, Spannungsmomenten - entlang einer zur Orientierung regelmäßig eingeblendeten Karte, auf der die Route eingetragen ist.

Dazu kommen Ortsangaben, in großen Lettern wie auf die digitalen Bilder getüncht, aber rissig, durchlässig für die Landschaften, die zu sehen sind. Dies Verhältnis von Vorder- und Hintergrund kennzeichnet Winterbottoms Verfahren im ganzen: in die Szenerie der Wirklichkeit wird die fiktive, aber nach wahren Begebenheiten modellierte Erzählung wie al fresco eingetragen. Der Raum der Fiktion schließt sich um den dokumentarischen Kern, mit allen Konsequenzen. Der Betrachter ist aufgefordert zum Mitfiebern wie zum Mitleiden, nicht zuletzt durch die Musik. Ohne Zurückhaltung untermalt Winterbottom seine Bilder mit emotionalen Orchesterklängen, verstreicht die Momentaufnahmen ins Flächige eines Nacheinander, das keine Längen kennt. Das heißt auch: von der Erfahrung, die geschildert wird, von Stunden, Tagen, Wochen des Ausgeliefertseins, des Nichtstuns und des Nicht-Weiter-Wissens, die eine solche Flucht ausmachen, gibt es nur Auszüge, Andeutungen und Ahnungen.

Das ist kein Fehler des Films, denn er behauptet nirgends, dass mehr zu zeigen wäre als Annäherungen ans Unbegreifliche eines solchen lebensgefährlichen Unternehmens. Dezent bleibt die Kamera in den finstersten Momenten - die in Wahrheit Ewigkeiten sind, während der Überfahrt per Schiff von der Türkei nach Triest. Tagelang sind Jamal, Enayat und weitere Flüchtlinge, darunter ein Baby, eingesperrt in einen finsteren Container, ohne Nahrung, Wasser, frische Luft. Andere Bilder aber als ein gelegentliches Flickern, sekundenkurze Blicke in gequälte Gesichter zeigt der Film nicht. Er verzichtet darauf, die Schicksale, von denen er erzählt, für seinen Film auszubeuten. Und berührt doch, gerade durch die Selbstverständlichkeit, mit der Winterbottom vorgeht.

Zu sehen sind nicht nur Bilder aus fremden Welten, sondern auch die im Verlauf der Reise fürs westliche Auge zunehmend vertrauten Umgebungen werden unter dem Blick der Migranten plötzlich fremd. Und wie von selbst wird einem klar, was, wie Winterbottom in der Pressekonferenz unumwunden feststellt, von Anfang an die Botschaft seines Projekts gewesen ist: Kalten Herzens von Elendsflüchtlingen zu reden, die so eilig wie möglich auszuweisen sind, ist ein Wohlstandszynismus, der nichts als Verachtung verdient. Am Ende übrigens, ist in der Pressekonferenz zu erfahren, hat die Realität den Film dann endgültig eingeholt: Jamal, der nach Ende der Dreharbeiten in seine Heimat zurückgekehrt war, hat die Flucht gewagt, lebt nun mit außerordentlicher Duldung in London und wird am Tag vor Vollendung seines 18. Lebensjahrs abgeschoben werden.

Ekkehard Knörer

"In this World", von Michael Winterbottom. Mit Jamal Udin Torabi, Enayatullah. Großbritannien 2002, 90 Minuten.
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Es herrscht der Schrecken in F.W. Murnaus "Schloss Vogelöd" (Retrospektive)

Ein Schloss, eine Jagdgesellschaft, schlechtes Wetter. Drei Neuankömmlinge verstricken die Versammelten in ihre Geschichte: Graf Oetsch, sogleich wird er separiert ins Nebenzimmer, war nicht geladen. Er war angeklagt worden, seinen Bruder ermordet zu haben. Die Frau dieses Bruders, mit ihrem neuen Mann, Baron Safferstädt, kommt als nächste dazu und will, angesichts von Oetsch, sogleich wieder davon. Versprochen aber ist die Ankunft eines Dritten, Bruder Faramund aus Rom, ihm will die Baronin, von Anbeginn der Ohnmacht nahe, beichten. Düsternis liegt über ihr, über dem Haus, auf den Gesichtern, in den Bildern liegt ein Schrecken, der vorderhand namenlos bleibt. Er ist jedenfalls gewiss nicht auf's Whodunit zu bringen, das, ganz formal, als Struktur zugrundeliegt.

Der Schrecken dringt von außen und von innen ein. Auch aus der Vergangenheit: eine Beichte beginnt, der Film gibt dem Vergangenen Bilder als Rückblende, bricht sie bald ab, berichtet von der seltsamen Konversion eines Ehemanns, erklärt wird sie nicht, plausibel wird sie nicht, merkwürdig licht sind die Bilder. Ein Natureingang fast, in der Rückblende, die Frau am Fenster, Blumen arrangierend, der Mann kehrt heim. Ein unerklärtes Strahlen aber auch auf den beiden in der Bibliothek, als er das Buch der Frau vorzieht und der Welt den Rücken kehrt. Düstere Romantik in seltsamen Verschiebungen: der Priester, der aussieht, als sei er verkleidet - und er ist verkleidet; nur dass auch der echte Priester nicht anders aussieht. Dann wieder und wieder (man hat nachgezählt: zehn mal) der Rückzug auf den Master Shot vom Schloss zwischen Bäumen und Bergen: offenkundig ein Modell. Ein Außen als Blick aufs Ganze, dem das klaustrophobische Innen, immer wieder gerahmt zum Personenarrangement, nicht mehr korrespondiert.

Berühmt ist die statische Einstellung - in der fortgesetzten Rückblende -, überwirklich: ein großer langer Saal mit zwei Türen am Ende, links und rechts an der Seite, kaum zu erkennen, die Frau und der Mann, er hat den Mord gestanden, ein Innenraum der Psyche.

Das wiederholt sich, im kleineren Format, fast am Ende, als alles aufgeklärt, alles vom Überwirklichen ins Wirkliche zurückgekehrt ist: ein kleinerer Saal und zwei Frauen liegen sich tröstend im Arm.

Ekkehard Knörer

"Schloss Vogelöd", von Friedrich Wilhelm Murnau. Mit Arnold Korff, Lulu Keyser-Korff, Olga Tschechowa u.a., Deutschland 1921
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Die Murnau-Ausstellung im Filmmuseum und der Katalog zur Retrospektive

"Faust", schreit die Schauspielerin, und noch einmal "Faust", beinahe lippensynchron zu den Bildern des Films. Es ist die beinahe achtzigjährige Camilla Horn, die da ruft, als sie sich selbst, zwanzigjährig, in Murnaus Stummfilm sieht. Zu sehen und zu hören ist das in einer Fernsehaufnahme, die das Deutsche Filmmuseum in seiner Murnau-Ausstellung als Endlosschleife laufen lässt. Einiges erfährt man über die Schauspielführung des Regisseurs, jedenfalls im Umgang mit der Anfängerin, die es als Gretchen mit den Profis Gösta Ekman (Faust) und Emil Jannings (Mephisto) zu tun bekam. In der Mittagspause blieb sie angekettet. Ohne Gnade ließ Murnau ihr den Schnee aus feinem Sprühwasser ins Gesicht blasen. Camilla Horn erinnert sich schmerzhaft an das Leid - und ist voller Bewunderung zugleich: Das hat er schon richtig gemacht.

Lebendiger als in diesen wenigen Erinnerungsmomenten wird Murnau nicht in der Ausstellung. Nicht in den Brief-Exponaten und auch nicht in den frühen Aufnahmen als Theaterschauspieler, beides ist wenn nicht lieblos, dann doch nicht sehr einfallsreich präsentiert. Gleiches gilt für die Schautafeln zu den wichtigsten Mitarbeitern und Freunden. Man wird in wenigen Sätzen informiert, hier und da ein Fotodokument, das war's. Es regiert, wie so oft, die Angst vorm Text, vieles muss sich der Besucher selbst zusammenreimen - oder im Katalog nachlesen. So bleibt auch die Zusammenstellung von Filmausschnitten und Gemälden, zu sehen auf den Multimedia-Blöcken im Mittelgang, bloße Suggestion. Man fragt sich nur: was wird hier suggeriert. Ein Glück, dass Frieda Grafe viel Kluges geschrieben hat. Aber dazu später mehr. An interessanten Schaubobjekten gibt es nachgebaute Modelle, etwa der Landschaft, über die Faust und Mephisto hinweggleiten, dazu die Stachow-Kamera, mit der Karl Freund die Bilder des "Letzten Mannes" entfesselt hat.

Weitgehend unkommentiert bleiben Murnaus Fotografien, so verblüffend sie sind. Nackte Männer in freier Natur, stereofotografiert. Wer man nicht von selbst darauf kommt, dass der Mann hinter dieser Linse schwul gewesen sein dürfte, hat Pech gehabt. Die Macher der Ausstellung verraten es einem jedenfalls nicht. Wie wenig das mit Indiskretion zu tun haben müsste, könnte man im besten Buch zu Murnau nachlesen, das es gibt - dem in der blauen Hanser-Reihe Film erschienenen, dem Regisseur gewidmeten Band. Aber natürlich ist es vergriffen, wie alle Titel dieser Reihe, die das beste war, was es an Filmbüchern in Deutschland je gab. Darin ein überaus brillanter Aufsatz von Frieda Grafe, der auf die vertrackteste Weise ein biografischer Abriss zu sein vermeidet, dafür aber die Formkunst Murnaus so konzentriert wie prägnant herausarbeitet. Dazu kommen so kluge wie erhellende Kommentare zu den einzelnen Filmen von Fritz Göttler.

Mit diesem Band konkurriert, schon der ähnlichen Anlage wegen, der Katalog zu Ausstellung und Retrospektive. Thomas Koebners Werkanalysen sind verlässlich und lassen nichts aus - den Vergleich mit Frida Grafes filigraner Lesekunst freilich hält der recht umfangreiche und mit manch eher vulgärer Beobachtung angereicherte Text nicht aus. Interessant, wenn auch nicht mehr als das, sind die Materialien, insbesondere die Informationen, die Daniela Sannwald zur Verschränkung von Leben und Werk mitteilt. Zur Entstehungs- und Nicht-Entstehungsgeschichte der einzelnen Filme ist hier manch Neues zu erfahren. Der Hauptteil des Buchs besteht aus einer Sammlung von Dokumenten zu jedem Murnau-Film. Das sind meist zeitgenössische Kritiken (am interessantesten natürlich da, wo der Film verschollen ist), ergänzt von Essays heutiger Filmemacher.

Die Lektüre dieser Texte ist eine einzige Berg- und Talfahrt. Die Kommentare reichen vom Dämlichen (Rosa von Praunheim zu "Nosferatu") zum Intelligenten (Hanns Zischler zu "Schloss Vogelöd"). Penetrant wie stets Wim Wenders, dessen ausgewalzte Probleme mit der Filmgeschichte uns nicht kümmern müssen. Dominik Graf dagegen setzt, Murnau zum Ausgangspunkt von Glanz und Elend des deutschen Filmschaffens nehmend, seine publizistischen Ausritte der letzten Monate fort, in denen er einen neuen deutschen Film aus dem Geist von Trash und Leidenschaft herbeizuschreiben versucht. Lesenswert allemal, nur vielleicht ein klein wenig deplatziert. Reuen also muss der Kauf des Katalogs den Leser nicht - allein die zahlreichen Reproduktionen von Film-Stills und Privataufnahmen sind das Geld schon wert. Und auch den coffee table schmückt der Band ganz ungemein.

Ekkehard Knörer

"F. W. Murnau (1888-1933", im Filmmuseum Berlin, Potsdamer Straße 2, 10785 Berlin-Tiergarten