Außer Atem: Das Berlinale Blog

Macht das Auto zum Möglichkeitsraum: Ali Ahmadzadehs 'Atom Heart Mother' (Forum)

Von Lukas Foerster
07.02.2015. Im iranischen Kino ist das Auto seit Abbas Kiarostami ein zentrales Motiv, über das gesellschaftliches Innen und Außen definiert werden. Bei Ali Ahmadzadeh verwischt auch die Grenze zur Realität.


Ursprünglich hatte Abbas Kiarostami das Auto als ein zentrales Motiv für das iranische Kino entdeckt. Gleich mehrere seiner Filme ("Life and Nothing More", "The Taste of Cherry" und vor allem "Ten") spielen fast ausschließlich im Inneren eines Fahrzeugs. Wo im europäischen und amerikanischen Kino das Auto zumeist entweder lustbesetztes Fetischobjekt oder eine rollende Entfremdungsmetapher ist, entdeckte Kiarostami es als ein Medium eigenen Rechts. Seine Autofilme verhandeln jeder für sich und jeder mit einem etwas anderen Ergebnis das Verhältnis von Innen und Außen - und gleichzeitig, das ist die medientheoretische Pointe, das Verhältnis von Auto(ren)filmersubjekt und Welt.

Es ist kaum möglich, nicht an diese berühmten Vorgängerfilme zu denken, wenn auf der diesjährigen Berlinale gleich zwei iranische Autofilme programmiert sind: Jafar Panahis "Taxi" (unsere Kritik) im Wettbewerb und Ali Ahmadzades "Atom Heart Mother" im Forum. Beide setzen sich in ein Verhältnis zu Kiarostami (Panahis Film sicherlich deutlich stärker), beiden gelingt jedoch auch, der bildgebenden Konstellation Auto / Kino / Welt eine ganz neue Perspektive abzuringen.

Diametral entgegengesetzt stellt sich in den beiden Filmen das Verhältnis von Außen und Innen dar, beziehungsweise die Art wie der Fahrzeuginnenraum mit dem urbanen (Teheraner) Stadtraum, durch den sich beide Filmautos bewegen, interagiert. Bei Panahi ist die Stahlhaut des Autos eine maximal durchlässige Membran. Nicht nur steigen andauernd Leute ein und aus (wie sie das nun einmal tun, wenn man mit einem Taxi unterwegs ist), auch die Kamera ist ständig damit beschäftigt, das Wageninnere mit den Ereignissen auf der Straße zu verknüpfen; selbst die Passagiere beteiligen sich an dieser Verknüpfungsarbeit, also an dem Projekt, ein soziales Kontinuum herzustellen, in dem das Auto lediglich eines (wenn auch ein privilegiertes) unter mehreren dynamischen Elementen darstellt: Die Nichte des Regisseurs / Taxifahrers Panahi zum Beispiel beginnt ebenfalls, mit ihrem Mobiltelefon Straßenszenen zu filmen - und verwickelt dadurch einen jungen Müllsammler in den kinematosozialen Zusammenhang des Films "Taxi". (Tatsächlich kann man Panahis neue Arbeit vielleicht am besten als die Fantasie eines mobilen Filmstudios begreifen: Wenn die Menschen nicht mehr zum Kino kommen, muss das Kino zu den Menschen.)

Das Auto in Ali Ahmadzadehs "Atom Heart Mother" schaut schon von außen anders aus: Ein fetter weißer Schlitten, sauteuer, perfekt ausgestattet, sicherlich auch mit allerlei Diebstahlschutz- und Spezialschließsystemen. Tatsächlich schließt sich das Auto von seiner Umgebung ab, auch audiovisuell: Die Straßen, durch die es gleitet, dringen auf der Tonspur kaum, und ins Bild lediglich als Farbeffekte ein, die sich wie Spotlights auf die Gesichter legen (ein auf den ersten Blick unauffällig, auf den zweiten jedoch ziemlich schön fotografierter Film ist das; insbesondere mit Farbe weiß er umzugehen).

Die Gesichter gehören zwei jungen Frauen. Sie scheinen Freundinnen zu sein, ihr exaktes Verhältnis bleibt allerdings lange in der Schwebe, der Zweck oder auch nur das Ziel ihrer Reise ebenso. Schnell merkt man, dass sie zu einer sozialen Schicht gehören, in der Zwecke und Ziele keine allzu große Dringlichkeit haben. Geld ist genug da, Zeit auch. Wenn genug Geld da ist, ist alles, was man tut, mit einer Relativierung gekoppelt: man könnte es ja auch einfach bleiben lassen. Wobei: Doch nicht ganz alles. Von der eigenen Körperlichkeit kommt man nicht los. Die eine der beiden Frauen muss aufgrund einer Krankheit andauernd auf die Toilette.

Zwei Frauen fahren (ziemlich betrunken, by the way) im Auto durch die Nacht, ab und zu nehmen sie Fahrgäste mit, insgesamt vier, allesamt Männer. Nur einer davon - ein Polizist - stellt ihr soziales Selbstverständnis in Frage. Als er merkt, dass es keine kommunikative Grundlage gibt, steigt er allerdings einfach wieder aus. Ist das nicht doch nahe am (vor allem) europäischen Entfremdungsautofilm? Ganz und gar nicht. Die monadische Isolation der Frauen im Auto ist gar nicht der Punkt; brüchig ist sie außerdem: Beim gemeinsamen, enthusiastischen "We Are the World"-Singen übersieht die Fahrerin ein anderes Auto, es kracht. Statt dessen geht es darum, dass das Innere des Autos zu einem Möglichkeitsraum wird.

Und zwar nicht nur in jenem politischen Sinne, der auch bei Kiarostami und Panahi eine Rolle spielt. In den Filmen dieser älteren Regisseure ist das Auto ein Schutzraum, in dem subversive Gespräche geführt, kleine Verstöße gegen die Sittenpolizei geprobt werden können. Das passiert beides auch in "Atom Heart Mother", allerdings in einem eher ironischen Tonfall. Lustig ist vor allem eine Szene, in der über Ben Afflecks "Argo" geredet wird: Klar, ein Scheißfilm, aber um feststellen zu können, dass es ein Scheißfilm ist, muss man ihn erst einmal gesehen haben! Der Polizist, der ihn noch nicht gesehen hat, bittet die Frauen, ihm mitzuteilen, was so schlimm sei an dem Film, damit er zukünftig auch mitreden kann.

Ali Ahmadzade geht aber noch weiter. Nach dem erwähnten Unfall taucht, wie aus dem Nichts, ein mysteriöser Typ mit Gelfrisur auf. Er bietet den beiden an, Geld vorzustrecken, um das Unfallopfer zu bezahlen. Anschließend hängt er sich, ungefragt, an die Frauen und geht ihnen immer mehr auf die Nerven. Erst denkt man, er habe es einfach nur auf eine der beiden abgesehen (auf die, deren Locken knalligrot unter dem nicht allzu tief ins Gesicht gezogenen Kopftuch hervorlugen). Spätestens, wenn er sie zu einem alten, bärtigen Mann lotst, den er ebenfalls ins Auto befördert und als Saddam Hussein vorstellt, ist klar, dass seine Interessen nicht nur erotischer Natur sind. Und dass "Atomic Heart Mother" vorhat, mit dem realistischen Idiom, das das iranische Festivalkino mit ziemlicher Ausschließlichkeit dominiert, auf radikale Weise zu brechen.

Tatsächlich nimmt der Film bald im Minutentakt neue, noch absonderlichere Wendungen. Ich bin mir gar nicht sicher, was ich von diesen Abzweigungen im Einzelnen halten soll. Manches ist grandios wagemutig, anderes droht in postmoderne Beliebigkeit umzukippen. Was bleibt, ist einerseits die bis zum Ende berückende Form des Films - insbesondere die Art und Weise, wie es Ahmadzade gelingt, die eigentlich ewig gleiche Einstellung (frontal gefilmte Gesichtergroßaufnahmen im Auto) immer wieder ein bisschen anders zu wenden, auszuleuchten, umzuformen; und andererseits die Erkenntnis, dass das iranische Kino seine Untersuchung des Mediums Auto noch lange nicht abgeschlossen hat.

Ali Ahmadzadeh: "Madare ghalb atomi - Atom Heart Mother". Mit Taraneh Alidoosti, Pegah Ahangarani, Mehrdad Sedighiyan, Mohammad Reza Golzar. Iran 2015, 96 Minuten. (Vorführtermine)