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Das Verlangen nach Reinheit schafft Monster: Raoul Pecks "I Am Not Your Negro" (Panorama)

Von Thekla Dannenberg
16.02.2017. Raoul Pecks "I Am Not Your Negro" ist ein sehr konkreter Film über das Leben von Schwarzen in den USA und über schwarze Geschichte, aber vor allem über den ein wenig in Vergessenheit geratenen James Baldwin.
Raoul Peck ist in Haiti geboren und im Kongo aufgewachsen, sein Vater arbeitete für die UN und die Regierung in Kinshasa. Peck studierte in Paris und in Ost-Berlin, er war Kulturminister in Port-au-Prince, und er hat einige sehr engagierte Filme gedreht, von denen nicht alle so kraftvoll waren wie der über Patrice Lumumba, Kongos ermordete Unabhängigkeitsikone.



Als Spross einer schwarzen Upperclass-Familie, gefragter Filmemacher und materialistisch geschulter Theoretiker ist er vielleicht der richtige Mann, um etwas frischen Wind in die amerikanische Debatte zu bringen, die sich in Fragen von Selbstverständnis und Identität verbeißt, ohne dass sich an dem Verhältnis von Schwarz und Weiß in den USA etwas grundlegend ändert. "I am Not your Negro" ist ein sehr konkreter Film über das Leben von Schwarzen in den USA und über schwarze Geschichte, aber vor allem über den ein wenig in Vergessenheit geratenen James Baldwin, diesen umwerfend gut aussehenden Schriftsteller, Intellektuellen und politischen Aktivisten, der in den fünfziger Jahren die ganze Welt elektrisierte mit seinen Essays und seinen Romanen über die Liebe, die sich nicht an die Normierungen und Absperrungen hielt, über schwule, schwarze und weiße Liebe. Raoul Peck holt ihn mit seinem bewegenden Film zurück, so wie Baldwin einst aus Europa zurückgekehrt war, wo ihn die Schwarzen aus Afrika und der Karibik davon abgebracht hatten, sich selbst als Negro zu bezeichnen. "I am Not Your Negro" ist der Film der Stunde.

Der Film basiert auf dem 30-seitigen Manuskript "Remember this House" von 1979, das Peck in Baldwins Nachlass entdeckte. Baldwin blickt darin auf das Leben der Schwarzen in Amerika, er tut dies durch das Prisma seiner drei großen Mitstreiter der Bürgerrechtsbewegung: Martin Luther King, Malcolm X und Medgar Evers, die alle zwischen 1963 und 1968 ermordet wurden. Hat sich das Land seitdem gewandelt? Hat sich die Lage der Schwarzen in den USA verbessert? Oder ist vielleicht ein wenig besser geworden, aber noch immer hoffnungslos?

Samuel Jackson spricht den Text, Peck unterlegt ihn einerseits mit Fotos und Filmen aus Baldwins Leben, von der Bürgerrechtsbewegung und späteren Ereignissen. Wir sehen Martin Luther King 1955 in Montgomery den Busboykott anführen, bedroht von einem hämisch auftrumpfenden weißen Mob, ungeschützt von der Polizei. Dagegen sehen wir die Bilder von den Demonstrationen aus Ferguson von 2014, wo junge Schwarze gegen militärisch hochgerüstete Polizei-Bataillone aufbegehren. Peck ruft Watts und Rodney King in Erinnerung, aber auch die mühsamen Wege von Sidney Poitier und der früh verstorbenen Lorraine Hansberry, für die Nina Simone "To Be Young, Gifted and Black" geschrieben hatte. Schockierend auch die Gleichzeitigkeit der Bilder aus den sechziger Jahren, von Wunsch und Wirklichkeit, Realität und Traumfabriken: von gelynchten Schwarzen und weißen Werbespot-Idyllen, vom blinden, aber wissenden Ray Charles und einer grotesk unschuldig strahlenden Doris Day.



Wenn Martin Luther King und Malcolm X über Militanz, Widerstand und die Möglichkeit des Zusammenlebens streiten, sucht Baldwin das Dritte, das es immer geben muss: Er lehnt den umgekehrten Rassismus der Black Panther und Black Muslims ab, schließlich liebte er seine weiße Lehrerin, die ihn in die Welt der Bildung und der Literatur einführte. Aber er kann auch nicht an die Kraft der Versöhnung glauben wie der große Reverend. Baldwins entscheidender Punkt war: Es geht nicht nur um die Schwarzen, es geht auch um die Weißen. "Die Weißen müssen sich fragen, warum sie überhaupt den 'Nigger' erfunden haben. Denn ich bin ja keiner. Ich bin ein Mensch." Was macht das aus euch, wenn ihr aus mir einen Nigger macht?

In einer Talkshow (hier ein Ausschnitt) erhebt der Yale-Philosoph Paul Weiss Einspruch gegen Baldwins Denken in Gruppen, in Hautfarben und Religionen. "Wir sind doch Individuen." Doch Baldwin, der natürlich gemeinsam mit Marlon Brando und Bob Dylan für die Bürgerrechte kämpfte, beharrt: Nicht er spalte, sondern die Gesellschaft: Die Schulen sind getrennt, die Chancen, die Kirchen und die Gewerkschaften - und auch die Überlebenschancen auf einem Polizeirevier.

So bitter seine Analysen auch sein mögen, hört man ihn auch verdammt gern sprechen, mit seiner brillanten Rhetorik - wie hier in einer Debatte mit William F. Buckey in Cambridge - und seinen weichen Kadenzen. Vor allem aber konnte Baldwin kein Pessimist sein, dafür hatte er zuviel Leben in sich. Für einen Pessimisten sei das Leben nur noch eine akademische Angelegenheit. An der Zukunft der Schwarzen entscheide sich die Zukunft des Landes, sagte er 1979. Dreißig Jahre später ist Barack Obama tatsächlich Präsident geworden, doch nie zuvor waren die Schwarzen wirtschaftlich und sozial so abgehängt wie in der New Economy. Und ihren Kindern trichtern schwarze Eltern für den Schulweg ein: Wenn du Polizei siehst, nimm die Hände aus den Taschen. Heute, nach dem Aufleben einer neuen schwarzen Protestbewegung und am Beginn der Ära Trump trifft Peck den Nerv gleich doppelt, wenn er Baldwin sagen lässt: Amerikaner sind besessen von Reinheit, das macht sie zu moralischen Monstern.

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Martin Luther King war sechsundzwanzig Jahre alt, als er sich 1955 an die Spitze der Bürgerrechtsbewegung setzte, die Rosa Parks in Montgomery mit dem Busboykott initiiert hatte. Was für ein Mut und was für eine Verantwortung, in einem solchen Alter ein ganzes Land, nein ein ganzes System umpflügen zu wollen! James Baldwin betont es in seinem Text immer wieder, und man ahnt, wie dieser Punkt bei Raoul Peck nachhallte: Sechsundzwanzig war auch Karl Marx, als er sich 1844 mit Friedrich Engels in Paris zusammentat, um Ausbeutung und Elend der arbeitenden Klasse ein Ende zu machen. Es ist keine falsche Idee, daran zu erinnern, wie jung die beiden waren, als sie "Die heilige Familie" verfassten, oder - zwei Jahre später - das Kommunistische Manifest. Das waren gar nicht immer die Großväter des Kommunismus, sondern junge Männer, voller Begeisterung für ihre Ideen und für sich selbst.

Peck erzählt in "Der junge Karl Marx" vom Zusammentreffen der beiden, aber leider tut er es in einer Art, die seiner eigenen Intention eigentlich zuwiderläuft: Er tut es auf die denkbar altväterlichste Art. Kreuzbrav erzählt er, wie Karl Marx als junger, mit allen über Kreuz liegender Journalist in Paris auf den Dandy und Fabrikantensohn Friedrich Engels trifft und endlich in ihm seinen Gefährten und Mitstreiter findet. Sie bestätigen sich gegenseitig ihre Genialität, streiten mit Bakunin und Proudhon, verehren Jenny von Westphalen und klopfen sich ihre Zylinder zurecht. Weder menschlich noch gedanklich kann Peck hier den Urknall nachklingen lassen wie in seinem Baldwin-Film.

I Am Not Your Negro. Regie: Raoul Peck. Frankreich/USA/Belgien/Schweiz 2016. Dokumentarfilm. 93 Minuten (Vorführtermine)

Der junge Karl Marx. Raoul Peck. Mit August Diehl, Stefan Konarske und Vicky Krieps. Frankreich / Deutschland / Belgien 2017. 112 Minuten (Vorführtermine)