Außer Atem: Das Berlinale Blog

Schreiben heißt Denken: Rob Garvers "What She Said" (Panorama)

Von Thekla Dannenberg
11.02.2019.


Keine andere Filmkritikerin wurde so verehrt und so gehasst wie Pauline Kael. Das liegt bestimmt in erster Linie daran, dass sie in den fünfziger Jahren, als sie zu schreiben begann, überhaupt die einzige Kritikerin war, die einzige Frau in einem reinen Männerverein. Es rührt aber auch daher, dass sie mit ihren scharfen Urteilen genauso oft daneben lag wie sie ins Schwarze traf. Ausgewogen, vorsichtig, nach allen Seiten abgesichert? Das konnte sie nicht. Sie liebte oder sie verachtete, meist aus dem Bauch heraus. Sie verachtete das amerikanische Kino der sechziger Jahre, Katastrophenfilme wie "Airport", den schematischen Alfred Hitchcock und den prätentiösen Michelangelo Antonioni, durch dessen Filme "die kranken Seelen Europas" stelzten. Sie liebte Jean Renoir, die Nouvelle Vague, Sam Fuller, Brian de Palma und Steven Spielberg. Sie verabscheute Horror und Porno ("Filme, die liefern") und hielt Trash für befreiend. Bernardo Bertoluccis "Letzten Tango in Paris" fand sie großartig, Coppolas "Apocalypse Now" scheußlich. Am wichtigsten war ihr jedoch Arthur Penns Gangsterpos "Bonnie und Clyde", der dem Tod seinen Stachel zurückgab.

Rob Garvers "What She Said" nähert sich Pauline Kael mit einer versöhnlichen Heiterkeit, die der Kritikerin völlig fremd gewesen sein dürfte. Kaels Texte werden mit Filmausschnitten unterlegt, die genauso oft ihre provokantesten Aussagen belegen wie konterkarieren. Bewunderer und Verächter aus dem New Yorker Kritikerzirkel kommen zu Wort: Greil Marcus, Paul Schrader, James Wolcott, Molly Haskell, Camille Paglia oder Norman Mailer mit seinen Gehässigkeiten. Aber vor allem sehen wir die Interviews und Fernsehauftritte von Kael selbst, die ihre Verdikte zwar rigoros formulierte, aber doch mit erstaunlich zittriger Stimme vortrug.

Pauline Kael schrieb in einer Zeit, als die wichtigsten intellektuellen Debatten über Kunst, Ethik und Ästhetik in Filmkritiken und mit existenzieller Dringlichkeit ausgetragen wurden, als Filmkritiker wichtige Gäste in den Talkshows der Fernsehsender waren. André Bazin, Manny Farber und der unvergleichliche Robert Warshow hatten bewiesen, dass Kritiken nicht Leserservice sind, sondern Essays von höchstem intellektuellen Rang. Jean-Luc Godard und François Truffaut, Ingmar Bergman und Akira Kurosawa hatten gezeigt, dass Filme kein Eskapismus sind, sondern Kunst. Und alle waren überzeugt, dass es ohne Kritik keinen Fortschritt im Film geben könne. Tempi passati.





Der Film führt Kael als eine Frau ein, die in den vierziger Jahren in New York keinen Platz für ihr schreiberisches Talent und ihren scharfen Intellekt fand: Sie trennte sich schon von einem Mann, weil er die "West Side Story" mochte. Wie sie von sich selbst sagte, war sie keine Künstlerin und keine Schönheit, also musste sich sich jahrelang als Kindermädchen und Werbetexterin durchschlagen. 1952 veröffentlichte sie ihre erste Filmkritik und setzte damit gleich den Ton: Es war ein Verriss zu Charlie Chaplins "Rampenlicht". Grausam nannte sie, wie Chaplin seinen Zuschauern die Tränen rausquetschte. Sie schrieb für Magazine wie McCall und The New Republic, bis sie 1968 zum New Yorker wechselte, wo sie die vornehmen Herren mit ihrem derb-ätzenden Ton vor den Kopf stieß. "Schreiben heißt Denken", lautete ihr Grundsatz, mit dem sie sich vor jeder Form inhaltsleerer Schönschreiberei feite. Ihre Karriere sorgte für grandiose Episoden, etwa den berühmten Schlagabtausch mit William Shawn, dem Chefredakteur des New Yorker: Zu ihrem Verriss von Terrence Malicks "Badlands" sagt er ihr: "Sie wissen, dass Terrence wie ein Sohn für mich ist?" Woraufhin sie nur antwortete: "Tough Shit."


Kael selbst nannte dies ihre kalifornische Unbekümmertheit. Legendär war natürlich auch ihre Rivalität mit Andrew Sarris, der für die Village Voice und den Observer schrieb. Doch bei aller Intellektualität, mit der die Kontroversen um das Kino von den fünfziger bis in den neunziger Jahren ausgetragen wurde, kann man ihre Scheidelinien nur schwer erkennen. Kael lästerte über jedes Auteur-Gehabe, aber die Filmemacher selbst verehrte sie. Und während Sarris, der mit seinem Buch "The American Cinema" den ultimativen Filmkanon festlegt hatte, seine apodiktischen Urteile immer wieder revidierte, hasste er Kael für ihre Attitüde der Unfehlbarkeit. New York war gespalten in Sarristes und Paulettes wie einst die West Side in Sharks und Jets. In einem konsternierenden Artikel attackierte die Kritikerin Renata Adler in der New York Review of Books Kael mit einer Brachialität, die an Vernichtung grenzte. Und außer, dass ihr Kael nicht fein genug schrieb und zu viel Gefallen an Gewalt zeigte, kann man nicht sagen, was genau sie an ihrer Kollegin störte.

In krassem Gegensatz zu all den Kämpfen und Gemeinheiten, die um Kael herum tobten, steht die Sanftmut der Tochter, die Kael als uneheliches Kind allein großgezogen hat und die ihrer Mutter durchaus kritisch, aber mit großem Verständnis und berührender Loyalität beiseite steht.

Das große Versagen von Pauline Kael zeigte sich 1985 bei Claude Lanzmanns "Shoah". In völliger Verkennung der historischen Bedeutung dieses Werkes, mokiert sie sich in schnippischem Tonfall über Länge und Langeweiligkeit. Auf Englisch klingen ihre Lästereien über die vielen "dead spaces" im Film besonders geschmacklos. Hierüber geht der Film ein wenig nonchalant hinweg.

Rob Garvers Doku ist eine Hommage an eine Kritikerin, die keiner Auseinandersetzung aus dem Weg ging und die ebenso von der Liebe zum Kino getrieben war wie von einer unbändigen Rauflust. Sie hat in ihren Texten zu allen Seiten ausgeteilt und sich deswegen auch nie beschwert, was für Angriffen sie als Frau ausgesetzt war. Der Film fordert einen eher indirekt auf, seine eigenen Reaktionen auf Kaels Schreiben in dieser Hinsicht zu hinterfragen. Zu ihrem Lieblingsfilm erklärte sie übrigens Dimitri Kirsanoffs "Ménilmontant".

Thekla Dannenberg

What She Said: The Art of Pauline Kael. Regie: Rob Garver. Dokumentarische Form. USA 2019, 95 Minuten (Vorführtermine).