Außer Atem: Das Berlinale Blog

"Kunstkinomäßig verschmockt" - der Berlinale-Pressespiegel

Von Thomas Groh
14.02.2019. Alle lieben Agnès Varda, die rüstige Elder Stateswoman der Nouvelle Vague. Sehr lauwarm besprochen wird Isabel Coixets kunstgewerbliches Drama "Elisa y Marcela". Auch ansonsten alles sehr lau, lauten die Zwischenbilanzen vor dem letzten Drittel des Festival. Der sechste Berlinale-Tag im Rückblick.
Auf der Höhe der Zeit: Agnès Varda

Alle lieben Agnès Varda, die mit ihren 90 Jahren noch immer Filme dreht, damit - anders als der grantelnd vor sich hin eremitierende Jean-Luc Godard - noch immer vor allem auch ein junges Publikum begeistert, die vom Festival mit der "Berlinale-Kamera" ausgezeichnet wurde und dort nun auch ihr Selbstporträt "Varda par Agnès" zeigte, eine Art Bilanz eines Lebens zwischen Film, Kunst, intellektueller Debatte und Fotografie. Beeindruckend findet Perlentaucherin Anja Seeliger "wie sehr Varda in ihrer Zeit lebte, in den 60er Jahren Filme über den Feminismus drehte, dann, als sie mit ihrem Mann Jacques Demy in Kalifornien lebte, Dokus über die Murals machte oder die Black Panther. ... Das Private fließt bei ihr immer in die Arbeit ein, aber das Private ist gleichzeitig immer ein Teil eines sozialen Umfeldes, das nicht ihr eigenes sein muss."

Alle lieben Agnès Varda, auch Ekkehard Knörer, nur den Film fand er so lala, schreibt er in der taz: Bei dieser Form filmischen Frontalunterrichts fühlt man sich doch etwas sehr in die Schulzeit zurückversetzt. "Gewiss, man lernt was, man erinnert sich gerne, aber der typische Varda-Eigensinn fehlt. Ein bisschen schade, nicht schlimm, nur im Wettbewerb der Berlinale hat das (auch außer Konkurrenz), bei aller Bewunderung für die große Agnès Varda, eher nichts verloren." Mit sehr prächtiger Laune verließ hingegen Tagesspiegel-Kritikerin Christiane Peitz den Saal: Diese "Hommage ans Leben", noch dazu sehr bunt geraten, ist genau das richtige Antidot gegen den grauen Berliner Himmel. Und Beatrice Behn von Kinozeit würde nach diesem Film am liebsten gleich selbst die Kamera in die Hand nehmen und einen Film drehen (was sie vor kurzem im übrigen ja auch getan hat, eine Empfehlung des Perlentaucher-Meta-Berichterstatters am Rande)

Ambivalenzen: Isabel Coixets "Elisa y Marcela"


Isabel Coixets "Elisa y Marcela" wurde am Rande des Festivals zum kleineren Politikum, da ein Kinobetreiber-Verband dagegen protestierte, dass eine Netflix-Produktion im Wettbewerb läuft (die allerdings in Spanien einen Kinostart hat und somit nicht gegen die Festivalstatuten verstößt). Und der Film selbst? Nun ja. "Ein bisschen kunstkinomäßig verschmockt" ist diese in Schwarzweiß erzählte, um 1900 situierte und auf einer wahren Geschichte basierende lesbische Liebesgeschichte schon, merkt Perlentaucher Thierry Chervel an, aber aushalten lässt sie sich durchaus. Allerdings wünscht sich der Kritiker nun auch einen "Berlinale-Wettbewerbsbeitrag, der Homosexualität im Iran, Saudi Arabien, den afrikanischen Ländern oder China thematisiert." Gut gefallen hat taz-Kritiker Andreas Fanizadeh, dass dieses Epos "Platz für Ambivalenzen und Mehrdeutigkeiten bietet." Absolut enttäuschend findet es Clarence Tsui unterdessen im Branchenblatt Hollywood Reporter, dass "aus einem der radikalsten Kapitel in der Geschichte der Rechte der Homosexuellen so mittelmäßige Ware" gemacht wurde.

Außerdem aus dem Wettbewerb besprochen wird Nadav Lapids "Synonymes" (Berliner Zeitung), der auch beim critic.de-Podcast Thema ist.

Kosslicks Abschiedsjahrgang fällt vom Programm her "äußerst dünn" aus, schreibt Andreas Busche in seiner Zwischenbilanz im Tagesspiegel: "So ereignis- und höhepunktarm war lange kein Wettbewerb mehr", auf "neue Impulse oder eine Neugier an aufregenden Kinobildern" müsse man in diesem Jahrgang verzichten. Im CulturMag lässt Katrin Doerksen die letzten Tage des Festivals Revue passieren. Rüdiger Suchsland ärgert sich auf Artechock auch weiterhin an der Grenze zum Herzanfall darüber, wie sehr die Berlinale ihn zum Griesgram macht.

Weitere Artikel: Tim Caspar Boehme spricht in der taz mit Florian Kunert über dessen Dokumentarfilm "Fortschritt im Tal der Ahnungslosen", der beobachtet, wie in der Sächsischen Schweiz syrische Asylbewerber auf die eingesessene Bevölkerung treffen. Im FAZ-Blog spricht Bert Rebhandl mit Angela Schanelec über deren Wettbewerbsfilm "Ich war zuhause, aber". Für den Bayerischen Rundfunk hat Florian Fricke mit Maryam Zaree über deren Film "Born in Evin" (hier dazu mehr) gesprochen. Simon Rayss besucht für den Tagesspiegel die Berlinale Talents. Christina Bylow schreibt in der Berliner Zeitung über Charlotte Rampling, der in diesem Jahr die Hommage des Festivals gewidmet ist. Sarah Pepin spricht in der Berliner Zeitung mit Erik Schmitt über dessen Film "Cleo".

Besprochen werden Joanna Hoggs "The Souvenir" mit Tilda Swinton (Tagesspiegel, critic.de), Nikolaus Geyrhalters Essayfilm "Erde" (Perlentaucher, Kinozeit), Max Linz' "Weitermachen Sanssouci" (Kinozeit), Claudio Giovannesis Saviano-Verfilmung "Piranhas" (critic.de, unsere Kritik hier), Ivan Markovics und Wu Linfengs "From Tomorrow on, I Will" (Perlentaucher), Angela Schanelecs "Ich war zuhause, aber" (Standard, mehr dazu hier), Ermin Alpers "A Tale of Three Sisters" (taz, mehr dazu hier), "Years of Construction", die 29. Folge aus Heinz Emigholz' "Photographie & Jenseits"-Reihe (taz), Sho Miyakes "And Your Bird Can Sing" (taz), Zhu Xins "Vanishing Days" (taz), der Dokumentarfilm "A Dog Called Money" über PJ Harvey (Tagesspiegel), Uli M Schueppels Dokumentarfilm "Der Atem" (Tagesspiegel), die mit Handy gedrehten Dokumentarfilme "Selfie" und "Midnight Traveler" (Tagesspiegel), Mo Scarpellis "Anbessa" (Tagesspiegel) und André Techinés "L'adieu à la nuit" (Tagesspiegel).

Für den schnellen Klick im Laufe des Tages immer wieder interessant: Der Kritikerinnenspiegel von critic.de, die Festival-SMS von Cargo und selbstverständlich unser fortlaufend aktualisiertes Berlinale-Blog.