Außer Atem: Das Berlinale Blog

Dieser ganze Wahrheits-Buzz - die Berlinale-Presseschau

Von Thomas Groh
27.02.2020. Hat Wucht, aber es fehlt die Leichtigkeit: Burhan Qurbanis Döblin-Neuverfilmung "Berlin Alexanderplatz". Große Aufregung um "DAU.Natascha", den Skandalfilm des Festivals: Verfilmter Machtmissbrauch, große Filmkunst oder am Ende doch nur eine Kapitulation der Kunst? Javier Bardem hat Demenz: Sally Potters "The Roads not Taken" enttäuscht die Kritiker. Der Berlinale-Mittwoch im Pressespiegel.
Auf den gestrigen Berlinale-Mittwoch dürften Viele wohl lange gewartet haben. Nicht nur lief Ilya Khrzhanovskys und Jekaterina Oertels  (im Vorfeld durch eine taz-Reportage nochmals skandalisierter) Film "DAU.Natascha" als Weltpremiere, sondern auch der deutsche Wettbewerbsbeitrag "Berlin Alexanderplatz", Burhan Qurbanis Neuinterpretation von Döblins Klassiker, die aus Franz Biberkopf einen Flüchtling namens Francis aus Guinea-Bissau im heutigen Berlin macht.

Kann so das deutsche Kino 2020 aussehen? "Berlin Alexanderplatz" von Burhan Qurbani.

Von Döblins Montageprinzip hat sich Qurbani zwar verabschiedet, aber dafür besteht der Film als "deutsches Filmwunder", das filmisch aus den Vollen schöpft, schreibt Perlentaucherin Anja Seeliger. Probleme hat der Film aber mit der Umdeutung seiner Hauptfigur: Biberkopf ist ja nun kein Sympathieträger im Roman - so kann man mit Francis zwar durchaus "mitleiden" - "aber mögen? ... Franz, der Flüchtling aus Guinea-Bissau, kann nicht so vielschichtig sein wie Franz, der Prolet aus Berlin. Jedenfalls nicht in diesem Film. So kommt es zu einer unglücklichen Verschiebung: Die eigentliche Hauptfigur ist plötzlich Reinhold." Tagesspiegel-Kritiker Andreas Busche findet den Film in vielerlei Hinsicht interessant und durchaus wuchtig, stellt sich aber doch die Frage: "Kann so das deutsche Kino im Jahr 2020 aussehen? Jein. Qurbani ist seit dem Lichtenhagen-Drama 'Wir sind jung. Wir sind stark' (2014) eine treibende Kraft im deutschen Film. Und eine kluge, nachdrückliche Stimme. Aber im dreistündigen 'Berlin Alexanderplatz' steht sein missionarischer Eifer manchmal seiner erzählerischen Kraft im Weg. Jetzt fehlt Qurbani nur noch die Leichtigkeit."

In der FR wägt Daniel Kothenschulte ab: "Qurbanis Anspruch, die Wirklichkeit durch die Kunst klarer zu sehen, nimmt auf tagesaktuelle Befindlichkeiten keine Rücksicht. Sein Film kann den hypnotischen Sog des Anfangs leider nicht halten, am schwächsten sind ausgerechnet die Passagen, die ins Naturalistische kippen, die in einem anderen Film die stärksten sein könnten. Die goldene Mitte hat eben ihre Tücken. Doch vielleicht erweist sich der originäre Stilwille des Filmemachers auch diesmal wieder als nachhaltiger. Ein starkes Zeichen hat er in jedem Fall gesetzt." Diesen Film "kann man ohne Übertreibung gewaltig nennen", schwärmt Carolin Ströbele auf ZeitOnline und berichtet außerdem von den Dreharbeiten, die sie 2018 besucht hat. Qurbani liefert hier "aus der Perspektive der Halbwelt ein Panorama der Welt von heute im Kleinen", schreibt Tim Caspar Boehme in der taz. Dlf Kultur und ZeitOnline haben ausführlich mit dem Regisseur gesprochen.

Folter und Pornografie: "DAU.Natascha" polarisiert.


Viktoria Morasch bekräftigt in der taz weitere Vorwürfe gegen Ilya Khrzhanovskys DAU-Projekt - eine mehrjährige, vom Umfang her irrwitzige Kunstperformance in in der Ukraine, die 2018 auch deshalb in die Schlagzeilen kam, weil als Teilperformance in Berlin wieder die Mauer errichtet werden sollte. Entstanden sind dabei auch zahlreiche Filme - "DAU.Natascha" läuft nun im Wettbewerb, der mehrstündige "DAU.Degeneration" im Berlinale-Special. Morasch zitiert in der taz nun ausgiebig eine weitere Mitarbeiterin des Berliner Projekts, die von sektenartigen Arbeitsbedingungen und Grenzverletzungen spricht: "In normalen Arbeitsverhältnissen gibt es klare Grenzen. Bei 'Dau' gab es das nicht. Als Ilja mich beispielsweise vor weiteren Teammitgliedern in den Arm genommen, diesen gestreichelt und geküsst hat, haben alle gelacht. Ich war perplex, wusste nicht, was ich machen sollte. Ich habe nichts gesagt, ich fühlte mich schuldig, hilflos und dachte: Ist das normal? Wenn andere Frauen im Raum einem nicht zur Hilfe eilen, weiß man nicht mehr weiter. " Auf der Pressekonferenz wiegeln der Regisseur, und auch die Hauptdarstellerin des Films, Natalia Berezhnaya, deren Figur in dem Film brutal vergewaltigt wird, alle Vorwürfe ab, berichtet Christiane Peitz im Tagesspiegel.

Im Perlentaucher äußert Thierry Chervel, vom Film schon ziemlich unterwältigt, den Verdacht, "dass dieser ganze Wahrheits-Buzz nur gebraucht wird, um gegenüber Publikum, Medien und Geldgebern eine Beglaubigung zu schaffen. Und natürlich maßen sich Regisseure eine totale Macht an, wie sie sonst nur Sektengurus haben. Kehrseite ist die Insolvenzerklärung der Kunst, die nicht mehr an ihre Mittel glaubt."

Andreas Busche fällt es schwer, den in den fünfziger Jahren unter KGB-Bedingungen spielenden Film unvoreingenommen zu sehen, berichtet er im Tagesspiegel. Alles in allem wirke der Film allerdings "verdammt lau. Echter Sex löst im europäischen Arthousekino längst keine Skandale mehr aus. ...  Visionär wirkt an 'Dau.Natasha' nichts. Das Drehen mit Laien, der Verzicht auf Kunstlicht erinnern eher an das dänische Dogma-Kino.Was also hat 'Dau.Natasha' mit der groß angekündigten Simulation eines totalitären Regimes zu tun? Vom Gesamtkonzept bleibt in Form dieser Sex- und-Gewalt-Kolportage nur das Machtduell zweier Frauen, die sich in ihrer Ausweglosigkeit männlicher Gewaltstrukturen bedienen."

Ziemlich umgehauen ist allerdings Claus Löser in der Berliner Zeitung von diesem Film, der derzeit auch die russischen Zensoren umtreibt, "denn der Film stellt nicht weniger dar als einen radikalen Befreiungsversuch von den Schatten der Vergangenheit. Ein Kraftakt, der den gegenwärtigen Restaurationsbestrebungen in Russland strikt entgegenläuft und ohne Schmerzen nicht zu haben ist. Die wirkliche Pornografie besteht in der offiziellen Verharmlosung der Diktatur. DAU stemmt sich dagegen."

Dünne Angelegenheit: Selma Hayek und Javier Bardem fahren auf "The Roads not Taken"

Die britische Regisseurin Sally Potter denkt gar nicht daran, mit "The Roads Not Taken" die Rolle der Quotenfrau im Wettbewerb einzunehmen, die das Ensemble filmischer Ausdrucksmöglichkeiten um einen weiblichen Blick erweitert, schreibt Barbara Schweizerhof in der taz: Stattdessen gibt es einen demenzkranken, sich zusehends verzauselnden Javier Bardem inmitten sich herzzereißend rührend um ihn kümmernden Frauen. Ein bisschen schmal ist das schon, meint Schweizerhof: "Vielleicht wollte Sally Potter mit ihrem Film genau das zeigen - wie wenig es doch braucht, um einen Film über Männer zu machen: weder große Dialoge, noch viel körperliche Präsenz, noch nicht mal ein außergewöhnliches Schicksal, nur eine Serie von Frauen, die Empathie empfinden." Auch Perlentaucherin Thekla Dannenberg hat dem nicht so richtig gerne zugesehen: "So verschachtelt Sally Potter die Geschichte auch anlegt, so wenig kann sie darüber hinwegtäuschen, wie dünn die Angelegenheit ist." Und "nicht mal Bardem ist eine Freude. Während er den senilen Endfünfziger gibt, belässt es Elle Fanning beim immergleichen mitfühlenden 'It's okay, Dad'. ... Was ist nur aus der Regisseurin von 'Orlando' geworden?" Diese Rückschau auf nicht gelebte Leben wäre eigentlich ein toller Kinostoff, wurde aber ziemlich verschenkt, meint auch Andreas Conrad im Tagesspiegel.

Außerdem: Im Dlf Kultur spricht der junge Regisseur Faraz Shariat über seinen queeren Film "Futur Drei". Gunda Bartels schreibt im Tagesspiegel über Helen Mirren, die mit dem Goldenen Ehrenbären ausgezeichnet wird. In der Zeit nimmt Katja Nicodemus die Feldherrinnenperspektive ein und überschaut schon einmal den Wettbewerb als Ganzen: Vor allem die Kinoheldinnen tummeln sich in diesem Jahr darin. Aber sie liefern "keine Botschaften, sondern eine struppige Mischung aus Glückskeksweisheit und Lebensmotto: Kämpfe um deine Spielräume!" Axel Timo Purr hält für Artechock eine Rückschau auf den bisherigen Wettbewerb.

Besprochen werden David France' Dokumentarfilm "Welcome to Chechnya" über Aktivisten die vom tschetschenischen Staatsterror bedrohten Homosexuellen zur Flucht verhelfen (Intellectures), Susanne Regina Meurers' Dokumentarfilm "Saudi Runaway" über eine Frau, die aus Saudi-Arabien geflohen ist (Tagesspiegel), Sandra Wollners "The Trouble with Being Born" und Eliza Hittmans "Never Rarely Sometimes Always" (Standard), Sabine Herpichs Dokumentarfilm "Kunst kommt aus dem Schnabel wie er gewachsen ist" (Perlentaucher, die taz hat mit der Filmemacherin gesprochen), Alexander Kluges und Khavn De La Cruz'"Orphea" (FR), Nobuhiro Suwas "Voices in the Wind" (Perlentaucher), Visar Morinas "Exil" (Perlentaucher), Jonathan Perels "Responsabilidad empresarial" (taz), Eric Steels "Minyan" (taz), Victor Kossakovsky Ferkelfilm "Gunda" (taz), der Wettbewerbsfilm "Schwesterlein" mit Nina Hoss und Lars Eidinger (NZZ) und Janna Ji Wonders Dokumentarfilm "Walchensee forever" über die Kommune ihrer Mutter (Tagesspiegel).

Außerdem: Viele weitere Besprechungen auf kino-zeit.de, bei critic.de, auf Artechock, beim Spiegel und bei Das Filter. Zum Hören: Der neue critic.de-Podcast. Immer einen Klick wert: der Kritikerspiegel von critic.de. Schnelle Updates: die SMS von Cargo. Und natürlich täglich mehrfach aktualisiert: unser Berlinale-Blog.